Fünfter Abschnitt.

Ein paar Wochen, nachdem diese Schrift Starkbloms erschienen war, stand in einer hellen Mansardenwohnung in Paris ein junges Weib von schier übermenschlicher Größe über einen Tisch gebeugt, damit beschäftigt, das Notwendigste in eine kleine Reisetasche zu packen. Ein Mann mit kurzgeschorenem, meliertem Vollbart, der aber noch viel jünger zu sein schien, als seine grauen Haare und sein gefurchtes Gesicht hätten vermuten lassen, lag, eine Cigarette rauchend, auf dem Sopha und schaute lächelnd wie ein Spitzbube, dem ein feiner Plan gelingen will, zu, wohl auch voll Vergnügen über die wundervolle Gestalt des Weibes. Sie hatte sehr ebenmäßige Formen, sie war nichts weniger als schlank, was sich[165] auch zu ihrer Größe nicht hätte schicken wollen, ihr Gesicht war breit und zeigte ein ungemeines Wohlwollen, auch ihre Augen blickten groß und gütig und verständnisvoll in die Welt; ihre Stirne war frei, aber weder hoch noch gewölbt, die Haare trug sie kurz geschnitten und glatt gescheitelt.

Sie war jetzt fertig und schloß die Tasche.

»Sag’ einmal, Hänschen«, damit nahm sie das Gespräch wieder auf, »willst du wirklich nicht gleich mitkommen? Ich gehe natürlich auch so, sehr gern sogar, aber es ist doch die eigentümlichste Situation meines ganzen Lebens.«

»Das doch schon seltsame genug aufzuweisen hat«, fiel er lachend ein. »Nein, meine liebe Marguérite, ich komme nicht mit. Das würde gar nicht in meinen Plan passen. Du hast doch alles verstanden, wie ich es meine? Nicht wahr? Mich erwähnst du natürlich gar nicht. Du mußt ganz thun, als ob ich nicht existierte. Und dann, wenn du meinst, es sei an der Zeit, dann telegraphierst du. Ich komme dann sofort. Ich freue mich heidenmäßig und ich glaube, die Sache gelingt.«

[166]

»Das weiß ich noch lange nicht. Mir ist gar nicht so wohl dabei. Wenn er mir zum Beispiel, kaum daß ich sein Zimmer betreten habe, die Thüre weist?«

»Das thut er ganz sicher nicht. Der Mann fühlt sich ja kläglich vereinsamt, das spricht ja aus jeder Zeile. Ich vermute ganz etwas anderes.«

Dabei lächelte er und pfiff vor sich hin.

»Nun?«

»Hm, hm.«

»Ich weiß nicht, ich halte es für sehr leicht möglich, daß er sich schon getötet hat, ehe ich ankomme.«

»Hm, freilich, das ist nicht ausgeschlossen. So etwas ist nie ausgeschlossen. Das Sterben ist meist eine Sache des Augenblicks. Aber bei ihm glaube ich’s doch nicht. Weißt du, darin fühle ich mich ihm doch verwandt. Wir sind Männer des Abwartens. Der überlegt sich’s hundertmal, aber auf einen Impuls hin, plötzlich, thut er’s kaum. Aber weißt du, was ich meine?«

»Ja?«

Er schaute ihr voll in’s Gesicht.

[167]

»Er wird sich in dich verlieben, Marguérite, toll, leidenschaftlich verlieben.«

Sie errötete langsam, doch schlug sie die Augen nicht nieder.

»Und ich?«

»Das kann ich dir wirklich nicht sagen. Ihn kenne ich ja nicht. Für ausgeschlossen halte ich’s aber gar nicht, daß auch du – Nun, das wird sich finden. Daß du in solchem Falle keine Rücksicht auf mich zu nehmen brauchst, weißt du.«

»Gewiß, das weiß ich. Ich könnte auch keine nehmen, mein liebes Hänschen.«

»Nun, wir blieben darum doch die Alten«, sagte er mit leuchtenden Augen, ergriff ihre herabhängende Hand und drückte sie an die Lippen.

Dann sprang er auf und ging im Zimmer auf und ab. Endlich blieb er wieder vor Marguérite stehen.

»Die Sache freut mich, weißt du, die Sache freut mich königlich. Immer, wenn ich anfange mich zu langweilen, sendet mir doch ein gütiges Geschick etwas neues, noch größeres. Weißt du, diese Bombengeschichte wird nun schon recht, recht langweilig.«

[168]

»Aber es sind doch tüchtige, ungewöhnliche Menschen.«

»Gewiß sind sie das, gewiß. Aber weißt du, in der Vorbereitungszeit, anfangs, da gefielen sie mir doch besser. Jetzt, wo sich die Folgen einstellen, wo ein paar verhaftet sind und andere vor der Ausweisung stehen, jetzt legen sie sich ein bischen Pathos an und einige deklamieren schon märtyrermäßig. Und weißt du, das, nein, das steht ihnen nicht gut.«

»Aber Jean, du übertreibst ja. Was du Pathos nennst, ist doch auch meist nur Hohn. Ich glaube, sie sind freie Menschen geblieben, die sich für nichts besondres halten, aber die Welt für noch viel weniger.«

»Nun, ich lasse ihnen ihr Vergnügen gern. Aber auf die Dauer ist’s doch nichts für mich. Ein Sporn zur Ernsthaftigkeit liegt doch auch noch darin, und du weißt, das mag ich nicht. Drum ist’s gut, daß mir die Geschichte dazwischen kam.«

»Ein klein wenig ernst ist’s dir damit aber erst recht. Ich meine sogar, sehr viel Ernst.«

»Meinst du? Das leugne ich gar nicht. Aber doch nur, weil mir’s Spaß macht.«

[169]

»Nun, das ist eine Erklärungsart, wie andere auch.«

»Meine weise Pythia, ich weiß schon, du bist anders als ich, ein wenig, nicht so gar. Drum schicke ich dich jetzt auch zu einem fürchterlich ernsthaften Kerl.«

»Ich fürchte ihn nicht. Auch glaube ich, ist er unserm Standpunkt schon sehr nahe gekommen. Es braucht nur noch einen Ruck, dann haben wir ihn. Weißt du, was ihm hauptsächlich fehlt?«

»Nun? Übrigens ist es bald Zeit für dich.«

»Natur fehlt ihm. Verstand hat er genug.«

»Natur … Natur? Ja die fehlt mir auch. Die hast nur du, meine Marguérite. Aber weißt du, ich habe mir einen Ersatz zurecht gemacht im Lauf des Lebens. Es ist doch etwas großes, daß der Mensch jetzt auch seine behagliche Existenz sich schaffen kann, weit weg, weit von der Natur. Im Gegensatz zu ihr.«

»Nun, schiffbrüchig seid ihr doch alle. Ihr denkt nur nicht mehr daran. Jetzt will ich aber gehn.«

Sie setzte den Hut auf.

[170]

»Also, mein großes Kleinod, leb’ recht – Das heißt, ich werde dich zur Bahn begleiten. Also du begreifst alles? Du wirst’s gut machen?«

»Verstanden hab’ ich alles, auch thu’ ich’s nicht dir zu Liebe, sondern weil’s mir selbst Bedürfnis ist, den Mann zu sehen und ihm zu helfen. Ich thue, was ich kann.«

»Dann ist’s gut, sehr gut. Komm, ich will dich noch küssen, bevor wir gehen.«

Marguérite beugte sich tief zu ihrem Hänschen herunter und küßte ihn auf den Mund. Dann ging das ungleiche Paar die Treppe hinab.

* * *

Zwei Tage später, morgens gegen 3 Uhr, stand Marguérite vor dem Weißen Hause. Sie betrachtete die freundliche Villa ein Weilchen und holte Athem, dann öffnete sie die Hausthür und stieg die Treppe hinauf. Im Flur sah sie niemanden. Sie klopfte an eine Thüre, keine Antwort. Nun öffnete sie. Es war ein Schlafzimmer, das wohl erst vor kurzem verlassen worden. Das Bett war noch nicht in Ordnung, die Luft nicht die beste. Sie blieb eine[171] kurze Zeit zwischen Thür und Angel stehen, dann trat sie rasch entschlossen ein. Eine Thüre, die geschlossen war, führte wohl in die andern Zimmer. Sie hörte auf- und abgehende Schritte und verworrenes Brummen. Das mußte er sein. Sie stellte die Reisetasche auf den Tisch und legte den Hut ab. Dann goß sie aus dem Kruge etwas Wasser über ihre Hände und benetzte ihre Augen und ihr Haar. Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, blieb sie noch eine Zeitlang stehen, die Hände auf die Brust gelegt und schwer atmend. Dann ging sie leise zur Verbindungsthür und krümmte den Zeigefinger um anzuklopfen. Rechtzeitig aber noch ließ sie die Hand sinken und schüttelte den Kopf. »Das wäre nichts,« flüsterte sie leise. Dann öffnete sie beherzt die Thüre. Sie blieb stehen und hielt den Athem an. Am Fenster gegenüber, das geöffnet war, stand ein Mann, ihr den Rücken zukehrend, in Hemdärmeln. Seine Augen blickten wohl ins Thal hinunter, währenddem aber waren seine Hände angestrengt bemüht, einen Kragen, der ihm vermutlich viel zu eng war, anzulegen. Sie hörte wieder das brummende Ächzen. Um ihre Mundwinkel zuckte es leicht. Auf einmal aber ließ seine[172] Hand den Kragen los, er stampfte heftig mit dem Fuß auf und schlug sich mit der Faust an die Stirn. Dabei rief er laut:

»Herrgott Donnerwetter, der Kerl macht mich noch verrückt!«

Da konnte Marguérite nicht mehr. Sie lachte laut auf.

Starkblom zuckte heftig zusammen und drehte sich rasch um.

»Wie – was – wer sind Sie denn? was wollen Sie? wie kommen Sie denn hierher?«

»Davon nachher. Vielleicht erlauben Sie, daß ich Ihnen zuerst helfe den Kragen schließen?«

Starkblom blickte sie mißtrauisch an.

»Aber entschuldigen Sie, wie kommen Sie denn hierher? Wo haben Sie denn Ihren Hut?«

»Den habe ich im Nebenzimmer abgelegt. Ich sah niemanden und trat deswegen gerade herein. Ich komme von weit her, um mit Ihnen ein vernünftiges Wort zu sprechen. Erlauben Sie jetzt –?«

Starkbloms Miene heiterte sich auf. Er lächelte.

»Ach so, Sie haben gelesen –? Die Brochüre? Nicht wahr? Und kommen zu mir? Sehr schön.[173] Und da wollen Sie mir – den Kragen zumachen? Nun – immerhin, meinetwegen.«

Sie trat näher und machte sich ans Werk.

»Sind Sie aber groß!«

»Bitte stillhalten, Monsieur, sonst geht’s nicht.«

»Aber Vorsicht, bitte, Sie erwürgen mich ja!«

Sie ließ die Hände wieder sinken und schaute ihm lachend ins Gesicht.

»Wäre das denn so schrecklich?«

»Jaja, jaja, lachen Sie mich nur aus. Sind Sie deswegen gekommen?«

»Ein wenig, ja.«

»Soso. Nun, dann möchte ich Sie bitten, mir den Kragen vollends in Ordnung zu bringen, und dann – ja dann werden Sie wohl wieder gehen können. Oder wollten Sie noch etwas anderes als Ihr Amusement?«

»Gewiß, gewiß, auch noch etwas anderes. Aber jetzt Ruhe. So, jetzt wären wir fertig. Drückt er Sie nicht?«

Starkblom warf ihr einen grimmigen Blick zu. »Nein,« sagte er dann kurz. Er ging noch etwas im[174] Zimmer hin und her, dann nahm er seinen Rock von dem Haken an der Wand und zog ihn an.

»So. Wollen Sie vielleicht Platz nehmen, mein – Fräulein? Oder –?«

»Das ist gleichgiltig. Aber nennen Sie mich lieber Frau.«

Sie setzte sich an den Tisch. Starkblom blieb vor ihr stehen und betrachtete sie. Dann kratzte er sich an der Stirn. Er fand die Situation recht unbehaglich.

»Woher kommen Sie denn?«

»Von Paris.«

»So? Schöne Stadt?«

»O ja.«

»War nie da. – Soso. Merkwürdig.«

Es trat eine Pause ein. Dann fing Starkblom wieder an:

»Nun also – wenn Sie das Ding gelesen haben und verstanden, dann kennen Sie mich ja ein wenig. Ich habe keine Lust, mich zu unterhalten. Ich kann’s auch nicht. Mir preßt’s die Kehle zusammen –«

Marguérite lächelte gutmütig.

[175]

»Zum Teufel noch einmal, kommt Ihnen schon wieder der verfluchte Kragen in den Sinn? Weiber, Weiber!«

»Kennen Sie denn die Weiber?«

Starkblom schaute sie groß an.

»Wirklich, nicht sonderlich. Ich hab’ zwar früher einmal eine Frau gehabt, wissen Sie, damals, als ich noch – aber was, das interessiert Sie ja doch nicht. Was wollen Sie denn?«

»Es interessiert mich, Starkblom. Damals als Sie noch – glücklich waren?«

»Ach was, glücklich! Ein Philister war ich! Sie war ein Weib wie andere mehr. Ein Glück für sie, daß sie tot ist. Sie würde mich nicht verstehen, wie ich heute bin. Versteht mich überhaupt niemand. Verfluchte Welt.«

»Ich glaube, ich verstehe Sie, und darum komme ich. Wollen Sie mich anhören? Ich habe Ihre beiden Schriften gelesen, beide; ich habe tief hineingeblickt in den Abgrund Ihrer Gedanken und Ihrer Verdüsterung, Sie suchen einen Menschen, und ich kam zu Ihnen. Sie suchen einen Menschen, der mit Ihnen –«

[176]

Starkblom hörte schon lange nicht zu. Er war mit kleinen Schritten ungeduldig hin und her gegangen, hatte dann auch einmal die Thüre geöffnet und hinausgehorcht und trat nun vor Marguérite hin.

»Wollen Sie vielleicht mit mir frühstücken? Ich habe Hunger.«

»Ich glaube, jetzt verhöhnen Sie mich,« erwiderte Marguérite errötend.

»Was? Fehlt Ihnen etwas? Meinen Sie denn, ich könne von der Luft leben? – Oder – ach so – ja wissen Sie, zugehört habe ich Ihnen nicht. Sie können ja dann Ihre schöne Rede hernach wiederholen. – Na endlich, wo stecken Sie denn so lange?«

Das Letzte sagte er zu der Haushälterin, die mit Thee, kaltem Braten und Wein hereinkam und die Augen weit aufriß, als sie so ungewohnten Besuch sah.

»Wundern Sie sich später und bringen Sie noch eine Tasse und einen Teller und was weiß ich! Aber rasch!«

Dann wandte er sich wieder zu der fremden Dame.

[177]

»Sie werden auch Appetit haben. Greifen Sie nur ungeniert zu.« Dabei schob er seinen Teller und seine Tasse zu Marguérite hinüber. »Ich kann warten.«

»Sie sind sehr liebenswürdig, Herr Starkblom. Frühstücken wir also zusammen. Trinken Sie so früh schon Wein?«

»Ja, ich habe mir’s in letzter Zeit angewöhnt So, jetzt kann’s ja losgehn.«

Die Haushälterin hatte das Nötige gebracht, und Marguérite schenkte erst Thee ein, dann auch Wein für sich und ihn.

Während des Essens blickte Starkblom ein paar Mal zu ihr hinüber. Schließlich sagte er kauend:

»Was Sie für ein gesundes Gebiß haben. Und dieser Hunger! Und überhaupt die ganze Gestalt – wo wächst denn diese Rasse? Sie scheinen mir überhaupt keine Deutsche, ihrem Accent nach?«

Marguérite lachte.

»Nun, wie man’s nimmt. Geboren bin ich im Elsaß, kam aber ziemlich früh nach Frankreich.«

Starkblom schaute sie immer noch an.

[178]

»Prachtvoll, prachtvoll«, brummte er dann, und Marguérite ward rot.

Er erhob sein Glas.

»Na, prost, Frau – und Ihr Name? Darf ich den wissen?«

»Ich heiße Marguérite. Das andere ist nebensächlich, nicht?«

Sie stieß mit ihm an.

»Und was lassen wir leben?« fragte sie mit anspielendem Lächeln.

»Leben … leben? Ach so, denken Sie daran? Und – Sie wollten?«

Er blickte ihr tief ins Auge. »Tod –? mit –?«

Sie schlug die Augen nieder und kratzte mit dem Messer auf dem Teller herum.

»Vielleicht«, sagte sie leise.

»Na, prost«, brach er kurz ab und trank sein Glas mit einem Zuge aus.

Kurz nachher stand er auf und trat ans Fenster.

»Haben Sie schon genug?«

»Ja. Ich fühle mich nicht ganz wohl.«

Marguérite legte leise Messer und Gabel weg. Sie starrte vor sich hin. Auf einmal überwältigte[179] sie das Bewußtsein dessen, was sie gethan hatte und was noch bevorstand und der ganzen Situation, und sie schlug die Hände vors Gesicht. So verblieb sie lange. Plötzlich sagte Starkblom vom Fenster aus, ohne sich umzusehen, in sehr traurigem Tone:

»Nun, Frau Marguérite, wollen Sie jetzt Ihre Rede halten? Wozu sind Sie bereit? Was halten Sie von mir?«

Marguérite ließ die Hände sinken; sie war glühend rot geworden. Dann erhob sie sich, blieb aber am Tische stehen und sagte zaghaft:

»Lassen Sie mich wieder gehen. Ich weiß nicht – es ist falsch – es geht nicht –.«

Starkblom drehte sich um und sah sie erstaunt an. Dann ahnte er, vielleicht zu begreifen, was in ihr vorgehe. Er schwieg lange und blickte sie an. Dann fing er an:

»Vielleicht war Ihr Gefühl das richtige, als Sie kamen. Schrecken Sie nicht zurück. Ich bitte Sie zu bleiben.«

Und er ergriff ihre Hand.

»Wenn Sie auch jetzt nicht reden können. Bleiben Sie nur. Wir haben Zeit. Oder haben Sie einen[180] speziellen Grund, irgend einen Vorgang in der letzten Zeit Ihres Lebens, mich aufzusuchen?«

»Nein, das nicht. Aber Sie verkennen mich nicht? Sie mißachten mich nicht?«

Starkblom wurde sehr verlegen. Er wußte nicht, was sagen. Endlich stotterte er:

»Aber ich bitte Sie … aber Frau Marguérite … aber mißachten … was fällt Ihnen ein? Sie scheinen ja eine … vorzügliche Frau. Ich begreife Sie, wenn ich auch nicht weiß, wie Sie dazu kommen. Wollen Sie mir nicht etwas erzählen – von Ihrem Leben?«

Marguérite setzte sich wieder aufs Sopha und strich langsam mit beiden Händen über ihr dunkles Kleid. Er blieb vor ihr stehen, indem er sich mit gekreuzten Beinen an den Tisch lehnte und sie anschaute.

»Ach, da ist nicht viel zu erzählen. Ich bin das Kind reicher Bauern. Dann kam ich früh zur Erziehung in ein Kloster nach Frankreich. Dort riß ich aus – mit – nun, es ist gleichgiltig. Die Sache ist längst vorbei. Aber ich kam durch ihn damals schon in eine Gesellschaft freier Menschen, Männer[181] und Frauen, hauptsächlich Russen und Polen. Seitdem habe ich sehr viel gelesen, auch einiges mitgemacht. Ich – nun ich bin eben frei geworden durch all’ das.«

»Soso. Schön, sehr schön. Was verstehen Sie denn darunter: frei geworden?«

»Nun, ich meine, Sie müßten das doch auch kennen. Ich habe wenig Vorurteile, verstehe viele, auch verschieden geartete Menschen, kann mich in vieles hineinfinden und folge im übrigen meiner Natur, wie sie nun einmal ist, geworden ist durch diese und jene Umstände der Vergangenheit und Umgebung. Das nenne ich vor allem frei, daß man sich nicht schämt, täglich tausend Dinge zu thun, die der Verstand nicht erklären noch billigen kann. Zum Beispiel auch, zu leben und glücklich zu sein. Ohne einen Vernunftgrund dafür angeben zu können.«

In Kürze etwa: »Sie sind ein Philister ohne Vorurteile?«

»Jawohl, jawohl,« antwortete sie lebhaft. »Das acceptire ich. Man muß ein Philister sein, aber ein idealer. Man kann nicht leben ohne das. – Und[182] man will leben«, fügte sie noch mit Bestimmtheit hinzu.

»Und ich sage: man will nicht«, rief Starkblom mit Entschiedenheit und schlug auf den Tisch.

»Nun gut: sterben Sie.«

»Ich meine; man sollte nicht wollen.«

»Nun ja, das ist es ja eben. Das ist eine Theorie. Das kann ich fassen; ich verstehe es vollkommen. Nach dem heutigen Stand unseres Geistes können wir nicht begreifen, wozu wir leben. Ganz recht, ganz gut. Das gebe ich zu. Wir haben nichts Positives, das wir anerkennen, vollständig nichts. Und wir werden auch nie zu den alten Positionen zurückkehren. Wir würden uns schämen. Wir sind keine Romantiker, keine Philister im alten Sinn. Aber wir warten ab, und das ist Grund genug für uns, zu leben. Wir sind neugierig.«

»Wir warten ab? Was denn?«

»Nun, das weiß ich nicht. Irgend ein Falsches vielleicht, wahrscheinlich sogar. Aber das ist nötig. Irgend ein Neues, das überwältigt, ein neuer, dauerhafter Aberglaube, eine neue Religion, wenn es sich auch nicht mehr in diese Worte kleidet. Einfach etwas[183] Positives, das allen einleuchtet, das für alle einen Sinn hat. Das alle überwältigt. Wir haben doch alle eine Ahnung, daß etwas in der Luft liegt. Etwas Großes, Nieerhörtes. Sie wollten es ja auch schaffen. Aber Sie konnten nur töten. Nicht zeugen. Also warten wir und leben wir indessen, leben wir freudig. Genießen wir, auch unsern Schmerz. Der gehört dazu, für uns sicher. Das ist Ihnen aber doch alles nicht neu. Sie wollten es nur nicht Wort haben. Vielleicht schämten sie sich. Aber dessen brauchen wir uns wahrhaftig nicht schämen. Wir sind Übergangsmenschen, jawohl, und wir fühlen uns als solche. Und wer so viel durchgemacht hat wie Sie, für den ist das keine Phrase. Nie war eine solche Zeit da wie die unsere. Und die kommende – die muß ja noch viel unerhörter, gewaltiger werden. Ist es vielleicht so – ist es nicht so – habe ich Recht?«

Starkblom hatte ihr voll Bewunderung zugehört. Er hätte nicht gedacht, daß ein solches Weib lebte. Und nun saß sie hier auf dem Sopha und blickte ihn freundlich mit schimmernden Augen an. Es schien ihm ein Märchen. Was er antwortete, war drum auch nur[184] ein mechanisches Vorsuchen eines altgewohnten Gedankens.

»Ich weiß nicht, ich glaube nicht, daß Sie Recht haben. Ich fände das doch ekelhaft, zu ekelhaft, ein solches Leben. Und die kommende Zeit – was liegt an ihr? Es handelt sich um uns, um mich.«

»Jawohl, natürlich, nur darum. Aber unsere Gedanken und Träume von der Zukunft, und vor allem unsre Neugier, wieviel wir davon noch selbst erleben, und wie oft sich die Perspektive verändert, das ist ja nur ein Teil von uns. Sie sagen: wir haben an nichts mehr Interesse. Und ich sage: o doch, wir interessieren uns noch für sehr vieles. Aber nein: Sie sagen, wir sollten uns für nichts interessieren. Das ist das Falsche. Sie tyrannisieren sich durch Ihr ewiges Grübeln. Der Mensch ist nicht blos Verstand. Wenn Sie sagen: ich will nicht leben, dann spricht blos ein Teil von Ihnen, der andre aber will leben, o ja, o ja, er will leben, und er sollte es sich nicht gefallen lassen, unterjocht zu werden. Er ist mächtiger als alles andre. Er sollte mächtiger sein. Ihr Verstand zehrt an Ihnen. Aber das andere lebt noch in Ihnen, das spüre ich,[185] das fühlt man aus Ihren Schriften. Und das ist gut; sonst stünde die Sache verzweifelt. Sie können sich retten, aber nur Sie selbst sich selbst. Dazu bin ich gekommen, um Ihnen das zu sagen. Kehren Sie zurück zum Leben! – Das Leben ist schön!«

Lange blickte Starkblom vor sich nieder. Dann sagte er leise:

»Das alles kenne ich, was Sie da sagen. Sie vermuten recht, das ist mir nicht neu. Es hat oft in mir empor wollen, und in letzter Zeit mehr wie je, aber ich habe es bekämpft. Der Geist ist das höchste, was der Mensch hat. Es ist feige, feige, ihn zu unterdrücken. Wozu Sie raten, das ist die Herrschaft der andern Triebe über den geistigen. Das könnte ich nicht aushalten, jetzt nicht mehr; früher vielleicht. Das wäre mir jetzt zu gemein – auf die Dauer.«

»O nein, das ist es gar nicht. Ich rate zum Genuß, jawohl, aber auch zum geistigen Genuß, zu dem erst recht. Aber geistiger Genuß ist nur möglich in Verbindung mit den andern – nun sagen wir: Trieben; sonst artet er aus und treibt zur Vernichtung. Sie wollen das leugnen, aber Sie können es nicht. Empfinden Sie nicht Genuß bei solchem Gespräch?[186] Und müßten Sie sich nicht zwingen, aus Gewohnheit und Konsequenzduselei, auch jetzt etwa zu fragen: was hat das für einen Zweck? was steckt dahinter?«

Starkblom wurde unruhig; er konnte ihr Auge, das sie voll und ruhig auf ihn richtete, nicht ertragen. Er kehrte sich ab und sah zum Fenster hinaus. Sie aber wollte nicht nachlassen. Sie fühlte, sie hatte Einfluß auf ihn, und sie freute sich, daß ihr Geist sich im Gespräch mit dem seinen messen konnte.

»Sagen Sie einmal, Starkblom,« fing sie also nochmals an, »was ist das mit dem Weib in Ihrer letzten Brochüre? An zwei Stellen? Das kommt so plötzlich und unvermittelt hinein. Was wollten Sie damit? Wenn es symbolisch sein sollte, gestehe ich, ich habe es nicht verstehen können.«

Starkblom drehte sich rasch um.

»Es sollte nicht symbolisch sein.«

Dann fügte er zögernd hinzu:

»Es war wohl ein Trieb. Halb Sehnsucht, halb Ahnung. – Unsinn war es, Unsinn.«

»Jetzt verstehe ich vielleicht,« sagte sie leise. »Auch das gehört dazu. Sie sind zu retten, dann erst recht.«

Jetzt sah er ihr fest in die Augen.

[187]

»Marguérite, Marguérite,« rief er dann. »Sie treiben ein gefährliches Spiel. Noch lebe ich, verstehen Sie, noch bin ich Mensch! Hüten Sie sich!«

Und er streckte die Hand wie suchend nach ihr aus.

»Ich freue mich, daß Sie leben,« sagte sie ängstlich lächelnd und sich etwas zurückbiegend, »aber Sie sind ein Kind!«

Er fuhr sich verwirrt mit der Hand über die Stirn.

»Wie … was? Sie meinen … aber nein, das nicht, das nicht. Nein, nein. Ich will nicht. Sterben Sie mit mir, Marguérite, ich bitte Sie, sterben Sie mit mir. Ich will nicht mehr leben, ich kann nicht.«

Marguérite stand auf, heftig atmend und sehr blaß.

»Starkblom,« sagte sie, »Sie sollten nicht eigensinnig sein. Sie thun sich Gewalt an. Ich würde es vielleicht thun, wenn –«

Sie hielt inne. Starkblom ergriff sie bei der Hand und sah sie mit fieberndem Blicke an.

»Was würden Sie thun? Was? Marguérite?!«

Marguérite konnte nur noch flüstern.

»Sterben, natürlich sterben. Was sonst?«

Starkblom ergriff auch noch ihre andere Hand.

[188]

»Du würdest es thun, Marguérite? Du willst? Ja?«

Marguérite konnte nicht mehr. Sie sank in den Sessel, lehnte sich zurück und ließ den Kopf zur Seite hängen.

»Ja, ja, ja. Wenn du willst, ja. Aber nicht jetzt, nicht jetzt. Wir wollen warten. Bedenken. O es kann ja nicht sein.«

Starkblom trat zurück, wie plötzlich ernüchtert.

»Ja, wir wollen warten. Vielleicht – ach Unsinn.«

Dann griff er sich an den Kopf, wie müde vor Erregung.

»Ach, was ist das heute für ein Tag! Wer hätte das gedacht? Wer hätte das gedacht?«

Auf einmal zuckte es ihm um die Mundwinkel und in seinem Auge leuchtete es irr auf. Dann lächelte er fein, fast boshaft.

»Ich glaube, wir belügen uns, Marguérite. Nicht?«

Und flüsternd, aufgeregt stieß er heraus:

»Wir meinen – es – anders – nicht –?«

[189]

Marguérite winkte matt mit beiden Händen, er möge aufhören.

»Laß – – laß, Starkblom. Ich will mit dir sterben – oder leben, wie du willst. Aber schweig jetzt, ich bitte dich. Ich kann – nicht mehr.«

Und sie lehnte sich müde zurück und schloß die Augen. Starkblom trat ans Fenster und sah starr hinaus. Dann drehte er sich um und schaute sie lange an. Ein Zittern überkam ihn. Er wandte sich wieder ab und zwang sich, auf die Bäume gegenüber zu blicken und hinauf zu den Wolken. So verblieb er lange.

Endlich fuhr sich Marguérite leicht mit der Hand über die Stirn, als wolle sie einen Traum verscheuchen. Dann ballte sie eine Faust und fuhr energisch mit dem Arm auf und ab. Sie konnte sich wieder beherrschen. Sie ließ ihre Blicke im Zimmer schweifen. Auf einem kleinen Tischchen lagen Bücher und Zeitschriften ungeordnet durcheinander. Dicker Staub lag darauf. Sie trat näher und malte gedankenlos Zeichen und Buchstaben auf die Bände. Dann nahm sie eines der Bücher in die Hand und schaute nach dem Titel.

[190]

»Ah!« sagte sie freudig.

»Was haben Sie Schönes?«

»›Also sprach Zarathustra‹ von Friedrich Nietzsche. Ich habe es nie in die Hand bekommen, aber viel davon gehört. Ich möchte es kennen lernen.«

»Sie kennen es nicht? Alle Achtung vor Ihnen. Lernen werden Sie nicht mehr viel von ihm können. Aber die Sprache! die Sprache. Es ist ein wundersames Buch. Geben Sie her. Ich will Ihnen einiges davon zeigen.«

Er nahm ihr das Buch aus der Hand, setzte sich, schlug aufs Gerathewohl auf und fing an vorzulesen. Nun las er einen Abschnitt nach dem andern, immer noch einen. So beruhigten sich ihre aufgeregten Sinne allmählich. Sie sprachen dann noch lange, Tiefes, auch Gleichgiltiges. Später gingen sie spazieren und setzten sich ins Grüne. Marguérite erzählte viel von ihrer Jugend, von den mancherlei Menschen, mit denen sie zusammengetroffen. Sie hatte viel zu erzählen und berichtete ohne Scheu. Von ihren letzten Lebensjahren schwieg sie indessen.

Abends sagten sie sich ziemlich früh und ziemlich zurückhaltend, fast ceremoniell Gute Nacht, und[191] Marguérite begab sich in das Fremdenzimmer, das seit Starkblom da wohnte, noch nie benutzt worden war. Sie schaute noch ein wenig zum Fenster hinaus und ließ sich von der Nachtluft abkühlen, dann legte sie sich ins Bett und kreuzte die Hände unter dem Kopf, wie sie zu thun pflegte, wenn sie noch nachdenken wollte. Den ganzen Tag über war es ihr immer von Zeit zu Zeit so gewesen, sie müsse an etwas denken, sie dürfe es nicht vergessen, und jetzt wollte sie sich besinnen. Aber ehe sie noch so weit war, zerflatterten ihre Gedanken in wirres Träumen, und sie schlief ein.

Starkblom aber saß lange noch auf seinem Bett und brütete vor sich hin. Sollte er vergnügt sein und ausgelassen wie ein tolles Kind oder sollten sich ihm die Gedärme vor Ekel über sich selber im Leibe herumdrehen? Er wußte es wahrhaftig nicht. Er hatte die Kniee in die Höhe gezogen und stützte seinen Ellbogen darauf und hielt seinen Kopf. Er blickte starr, mit zusammengekniffenen Augen und gepreßten Lippen. Es fiel ihm nicht ein, sich zu wundern, sein Schicksal erfüllte sich, das war die natürlichste Geschichte von der Welt. Und dann auf einmal hielt[192] es ihn nicht mehr, es drückte etwas von innen gegen die starre Wand seines Mundes und er platzte laut heraus und lachte hell auf und schlug mit der flachen Hand klatschend auf seinen Schenkel. Freilich lachte er sich aus, aber eine jugendliche Freude war auch dabei, und weil er das herausfühlte, mußte er nur immer mehr und immer wieder lachen und losplatzen. So ein Narr! So ein Narr!

Und dann kleidete er sich rasch aus und legte sich ins Bett und löschte das Licht. Er warf sich ein paar Mal hin und her, dann schloß er die Augen fest und blieb ruhig liegen. So, jetzt wird geschlafen, verstanden? Aber Starkblom wollte nicht verstehen. Er kicherte wieder ein wenig. Dann öffnete er die Augen weit und sah lange zur Decke empor. Und als ziehe ihn etwas in die Höhe, richtete er den Oberkörper auf, winkte mit der Hand in die Luft, und sagte mit vernehmlicher Stimme: »Gute Nacht, Marguérite! – Gute Nacht, liebe Marguérite!« Dann legte er sich wieder ruhig hin und lächelte müde. Und nun kamen ungeordnet aufgeregte Träume und lösten sich in wirrer Reihenfolge ab, bald mit offenen, bald mit geschlossenen Augen. So verbrachte er den größten[193] Teil der Nacht, hin- und hergeworfen von der Unruhe und ohne Müdigkeit. Es war, als habe er die dunstige Nebelhülle, in der er sonst sich so wohlig geborgen und so gut und tief geschlafen hatte, mit eins verloren. Es war so unheimlich klar in seinem Kopfe bei allen fürchterlichen und thörichten Träumen, die rastlos hin- und hergingen, und die Augen waren so kühl und wollten nicht geschlossen bleiben, es war ganz selbstverständlich, daß er nicht schlafen konnte, er hatte gar keinen Grund zum schlafen. Erst spät am Morgen duselte er ein wenig ein.

Auch die nächsten paar Tage lebten sie ruhig und idyllisch neben einander hin. Sie lasen, plauderten, gingen spazieren und lagen im Grünen. Im übrigen hielten sie sich scheu zurück und wollten an das andre nicht mehr denken. Marguérite war es eingefallen, was sie nicht vergessen dürfe, aber sie wollte nicht daran denken. Es wird sich schon finden, es wird sich schon finden. Sie wollte sich gehen lassen.

Starkblom aber ließ sich treiben, wie vom Sturmesbrausen. Er konnte nicht mehr zurück. Er konnte sich nicht mehr halten. Es war über ihn gekommen.[194] Er mußte es vollenden. Hinein in die Flut, nur hinein – Wer weiß? – Ja, wer weiß!

Eines Abends, als sie auseinandergehen wollten, um zu schlafen, legte Starkblom seine zitternde Hand auf ihre Schulter. Seine Kniee bebten. Und mit verzerrtem blutleerem Gesicht und brennenden Augen bemühte er sich in ruhigem Ton zu sagen:

»Marguérite, wir müssen die Konsequenz ziehen: warum nicht?«

Sie sah ihn mit entsetzten Augen an: »Du willst sterben? Jetzt?«

Da schrie er laut auf und brüllte:

»Lüge nicht, Marguérite, lüge nicht! Sterben?! Wer denkt ans Sterben? Leben will ich! Dich! Dich!«

Seine Stimme hatte sich überschlagen und knickte ab. Dann fügte er ruhiger, fast feierlich hinzu:

»Marguérite, ich bin der Mann!«

Da kreuzte sie die Arme über die Brust, sah ihn ernst und schmerzlich an und sprach:

»Ich bin das Weib – ja!«

Und bei dem letzten Wort nickte sie bekräftigend[195] und dann senkte sie den Kopf und blickte nicht mehr auf.

Er biß die Zähne fest in die Unterlippe, atmete schwer und blickte bohrend in die Luft. Er trat zurück und blickte an ihr hinauf. Dann packte er sie plötzlich an beiden Schultern und riß sie an sich. Sie ließ es willenlos geschehen. Dann flüsterte er zitternd:

»Ich danke dir. Komm!«

Als Starkblom besänftigt und wohlig neben Marguérite lag und ihren wundervollen Leib umfangen hielt, da schwand rasch die Scham und der Ekel, die ihn erst hatten überwältigen wollen, und wenn auch sein Körper matt und unbewegt dalag, die bleierne Mattigkeit seiner Seele wollte sich von ihm lösen, und Kraft und Freude und selige Unbewußtheit hielten ihren sieghaften Einzug. Er wurde nicht müde in das ruhige süßes Behagen ausströmende Auge Marguérites zu blicken und ruhig und ohne Aufregung lange Küsse auf ihren Mund und ihre Lider zu heften. Und immer wieder hob sich seine Seele und sein Leib zu der wundervollen stillen Frau, die ihm manchmal sanft über das Haar strich und ihm den Schweiß von der Stirne wischte. Sie sprachen auch manchmal[196] zusammen während der langen schönen Nacht, aber nur kurze hingeworfene Laute, die im Dunkel verwehten, wie wenn den Vögeln nachts ein goldener Traum lind über das Gefieder streichelt und sie befangen weiche Töne den surrenden Lüften vermählen und dann wieder verstummen.

Als das Morgengrauen anfing mit seinen Nebelfingern das Dunkel von den Scheiben zu wischen, senkte sich die Müdigkeit trennend zwischen die beiden und sie verfielen in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Spät am Morgen schreckte Starkblom plötzlich empor und blickte verwirrt umher. Dann fiel ihm alles ein, er fühlte und sah seine schlafende Gefährtin neben sich und er legte sich lächelnd und behaglich wieder auf die Kissen zurück. Aber er konnte nicht mehr schlafen, er war vollständig frisch und munter. Er betrachtete Marguérite, deren breite, volle Brust sich gleichmäßig hob und senkte, ihre Wangen waren rosig überhaucht wie nie zuvor. So verblieb er lange, er konnte sich nicht satt sehen. Dann wäre er gerne wieder müde gewesen, er legte seinen Kopf, so leicht es ihm möglich war, auf ihre Brust, drehte aber dabei seinen Körper so, daß er ihr ins Gesicht sehen[197] konnte. Bald zuckte es um Marguérites Mund, drückende Träume mochten sie ängstigen, sie stöhnte leise, dann wachte sie auf und sah in Starkbloms Augen. Eine unsagbare Heiterkeit verklärte da ihre Züge, beide sprachen kein Wort; sie blickten sich nur immer an. Auf einmal aber beugte sich Marguérite herunter, legte ihre Arme um seinen Hals und küßte ihn auf den Mund.

»Guten Morgen, mein Lieber«, sagte sie dann frei und heiter.

»Guten Morgen, Marguérite«, antwortete Starkblom fröhlich und dankbar. Dann, während sie sich beide still neben einander legten, fing er an:

»Das kommt mir jetzt erst. Daran hab’ ich noch gar nicht gedacht.«

»Was denn?«

»Das war der erste Kuß, den du mir gegeben hast.«

»So?« meinte sie errötend. »Ja und?«

»Weißt du, ich gebrauche die alten Wörter nicht gern, sie sind so abgescheuert und gemein geworden und waren von Anfang an nicht tief und innig genug.[198] Aber – du verstehst mich ja, wie ich es meine … also … nun eben –.«

»Ist es denn so schrecklich, Karl? Was meinst du?«

»Ich meine, jetzt hast du mich geküßt, und vorher – ich meine, liebst du mich denn, Marguérite?«

Da drückte Marguérite die Hände fest auf die Augen, runzelte ihre Stirn und nickte langsam und feierlich mehrmals mit dem Kopfe, wie kleine Kinder thun, wenn sie etwas besonders ernsthaft bestätigen wollen. Dann lachte sie kurz in sich hinein und flüsterte ihm ins Ohr: »Ja.«

Starkblom suchte ihre Hand und drückte sie fest und ließ sie nicht mehr los. Dabei legte er sich auf den Rücken und träumte in die Höhe. Dann lächelte er und lächelte immerfort, bis ihm das Wasser in die Augen trat.

»Was hast du denn?« fragte Marguérite, die ihn beobachtete.

»Ach, es ist mir nur eben etwas eingefallen«, meinte er, immerzu lächelnd.

»Was denn, sag’ mir’s doch.«

Er schwieg ein bischen, dann sagte er:

»Mein armes, kleines Lorchen.«

[199]

»Deine Frau?« fragte sie leise, und er nickte.

Da schämte sie sich und sie wußte doch nicht warum. Es mußte wohl etwas Großes sein und ein freier Ernst, der jetzt durchs Zimmer schwebte. Und voll von dem dunklen Gefühl beugte sie sich zu ihm hinüber und küßte ihn auf die Stirn.

Nach einer Weile fragte er:

»Hattest du nie ein Kind, Marguérite?«

»Nein,« sagte sie leise errötend.

Da stand er auf, kniete vor ihr Bett und sagte, indem er die Hand auf ihren Kopf legte:

»Du wirst eins bekommen.«

Sie schlug die Hände vors Gesicht, dann lag sie ernsthaft da und nickte sinnend.

Nun erhob auch sie sich und beide fuhren rasch in die Kleider. Plötzlich lachte Starkblom laut auf.

»Weißt du, wie mir meine letzte Brochüre jetzt vorkommt?«

»Nein, wie?«

»Nun höre. Ein Mann in den Vierzigern, Wittwer, sucht auf diesem sehr ungewöhnlichen Wege eine Lebensgefährtin. Dieselbe muß groß und kräftig gebaut, sehr gebildet und vorurteilsfrei sein. Offerten[200] bittet man einzusenden unter der Chiffre: Es lebe der Tod! Nicht? War es nicht so? Und daß ich sie gefunden habe, das ist das allerseltsamste und das allerschönste! Wie kamst du denn dazu, Marguérite? Wie bekamst du denn in Paris meine Brochüren?«

Marguérite hatte erst lachen müssen, aber jetzt wurde sie ernsthaft und sogar ein wenig blaß.

»Das war nicht so einfach, mein Lieber. Das hängt mit etwas zusammen, mit etwas – anderm. Aber jetzt kann ich dir das unmöglich sagen. Du mußt warten. Bald – nicht wahr?«

»Wie du willst, Marguérite. Ich habe dich, wir haben uns. Das ist eins und alles. Das andere ist gleichgiltig.«

In so seliger alles vergessender Stimmung verbrachten sie diesen Tag und auch die folgenden. Was hätte ihr Glück stören können? Manchmal freilich überlief es Starkblom, und die Vergangenheit wollte ihn wieder packen mit ihren mörderischen Tatzen, und dann sagte er wohl:

»Mein Glück ist zu groß. Ich werde bald sterben.«

[201]

Aber Marguérite und er selbst brauchten sich nicht allzusehr anzustrengen, um dies Gespenst wieder zu verscheuchen.

Eines Mittags saßen sie heiter auf dem Balkon und plauderten und sahen ins grüne Thal hinab. Da brachte die Haushälterin mit hochgezogenen Brauen und grenzenlos erstauntem Gesicht ein Telegramm und überreichte es zweifelnd Starkblom.

Der nahm es rasch und las die Adresse und auch er machte ein sehr verwundertes, fragendes Gesicht. Doch winkte er der Frau, sie solle gehn.

»Ist das für dich, Marguérite?« fragte er dann und reichte ihr die Depesche hinüber.

Sie las die Adresse und errötete über und über. Da stand: »Frau Marguérite Starkblom. Villa Weißes Haus.«

»Ja«, flüsterte sie dann und ließ das Papier unentschlossen in ihrem Schooß liegen.

»Das ist seltsam«, meinte Starkblom, sie starr ansehend. »Verstehst du es? Kannst du mich nicht aufklären? Wer weiß davon etwas? Und wer kann sich unterstehen –?«

[202]

»Es ist anders, lieber Karl. Hab nur Geduld. Laß mich erst lesen. Dann vielleicht –.«

Sie erbrach den Verschluß und las die wenigen Worte.

»Warum höre ich nichts von dir? Bin aus Frankreich ausgewiesen und schon auf der Reise zu Euch. Komme noch heute an. Hoffentlich steht alles gut. Jean.«

Sie reichte ihm mechanisch das Blatt hinüber, und er las und blickte sie dann fragend und traurig an.

»Marguérite, was heißt das? Wer ist der Mann? Woher weiß er –? Schriebst du ihm von hier aus?«

»Nein.«

»Aber woher weiß er denn dann? Was ist das? Marguérite!«

Und sie flüsterte:

»Ich lebte mit ihm zusammen. Es geschah mit seinem Einverständnis, daß ich hierher kam. Er ist –«

Sie verstummte.

[203]

»Mit seinem Willen? Das verstehe ich nicht. Marguérite! Was ist das? Wie kann er dich Starkblom nennen?«

»Er heißt selbst so, Karl, und ich nannte mich nach ihm. Ach, es ist ja so gleichgiltig.«

»Gleichgiltig? Und er heißt Starkblom? Und das wäre nur ein unerhörter Zufall? Ist das ein Traum?«

»Kein Zufall – oder – wie du’s nimmst. Er heißt Johannes Starkblom. Er hält sich für deinen Bruder.«

Starkblom durchfuhr es. Er stand rasch auf.

»Was? Johannes? Der lebt? Und, – und – du – mit ihm … ach Marguérite, was ist das für eine Geschichte!«

Er setzte sich müde und abgespannt wieder auf den Stuhl. Die Sache griff ihn an.

»Alle meine Geschwister sind mir sonst ganz gleichgiltig. Ich kümmere mich gar nicht um sie. Aber der – das ist etwas andres. Und du –!«

Marguérite schmiegte sich eng an ihn und legte den Arm um seinen Hals.

[204]

»Geht es dir so nahe, mein liebster Schatz? Sieh, dafür kann ich ja nichts. Und er auch nicht. – Er hat es aber vorausgesagt.«

»Was hat er gesagt?«

»Daß – nun wie es gekommen ist. Daß wir nicht mehr von einander können. Zwar nein, so wird er es doch nicht gemeint haben. Er ist ein so guter Mensch. Ich habe ihn sehr gern.«

»So, Marguérite? Und ich?«

»Aber, mein lieber guter Karl, das ist ja ganz etwas – aber das läßt sich ja gar nicht – weißt du – nein – dich liebe ich! Karl! Verstehst du?«

»Meine liebe Marguérite, ich glaube dir ja. Ich bin ja kein Philister! Nur daß es mein Bruder –!«

»Aber wenn es das nicht wäre, wäre ich ja nie zu dir gekommen. Nicht? Willst du nun hören?«

»Das ist auch wahr. Ja, erzähle, ich bin nun schon ruhiger. Das ist ein Mensch! Der Johannes! Lebt sich der Mensch noch!«

»Freilich lebt er! Er ist seit Jahren in Paris. Vor zwei Jahren lernte ich ihn kennen und seit einem ungefähr leben wir zusammen. Er hat fürchterlich viel mitgemacht im Leben. Weißt du, nicht innerlich wie[205] du, das viel weniger. Aber er ist herumgekommen, überall. Und geschüttelt ist er worden. Nun, dadurch ist er eben ganz und gar frei geworden. Mehr als wir alle. Er ist es praktisch. Um die Theorie hat er sich nie viel gekümmert. Er macht alles mit, was die Nerven aufregt, was neu ist, was ihn amusiert. Und dabei ist er ein so herzensguter Mensch. Aber das darf man ihm nicht sagen. Er möchte es nicht sein.«

»Da steht er nun völlig vor mir. Der Taugenichts! Ich hätte nicht gedacht, daß das aus ihm wird. Er trieb immer das Gegenteil von dem, was ich; und jetzt stehn wir fast auf demselben Fleck. Ja, ja, die Welt ist rund! Und jetzt wird er ausgewiesen? Warum?«

»Ach, das ist wegen dieser anarchistischen Geschichten. Wir haben da ein wenig teilgenommen.«

Starkblom stand auf und ging erregt hin und her. Dann fing er an:

»O der Glückliche! Ihr Glücklichen! Was habe ich gebraucht, um dahin zu kommen, wo ich jetzt stehe! Alles im Denken, im Grübeln, es zerriß mich schier! Alles innen, es wollte heraus und drückte in mir zum[206] wahnsinnig werden. Und ihr – und er! Er handelt, er nimmt teil! Er ist unbekümmert!«

»Und doch nicht epileptisch«, sagte Marguérite lächelnd.

»Aber er hat etwas nicht, was ich habe. Ich bin so schwerfällig, ich habe so viel altes, ich brauche so unsägliche Mühe, um es los zu werden! Und jetzt, jetzt – jetzt bin ich zu alt! Wenn ich dich nicht hätte, wozu wäre ich noch gut? Und jetzt, jetzt, wird er dich mir nicht entreißen? Marguérite! Verlaß mich nicht! Ich … du … ich brauche dich … über alles … mein Einziges!«

Marguérite drückte ihn fester an sich.

»Mein geliebter Karl, er kann uns nicht trennen. Er wird es auch nicht wollen. Wir bleiben immer beisammen, immer. Und schließlich –«

Sie stockte. Dann setzte sie hinzu:

»Nun, das wird sich finden. Wir wollen warten, bis er kommt. Freust du dich nicht ein wenig?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht – Mir ist bange. – Wie kam er denn zu meinen Schriften?«

»O er liest viele deutsche Sachen, und neues[207] Modernes aus aller Herren Länder verschafft er sich immer. Er hat da einen kleinen deutschen Buchhändler aufgetrieben in einem engen Gäßchen, der auf Kuriositäten aus ist und besonders die Brochürenlitteratur pflegt. Der sagte ihm nun einmal, als er bei ihm herumkramte: »Von Ihnen hab’ ich auch etwas bekommen, Herr Starkblom. Das kann nur von Ihnen sein. Es ist zu toll.« Nun, das war deine »Vision«. Nachdem ließen wir uns natürlich das erste Sendschreiben auch kommen und durch den Verleger erfuhren wir die Adresse und bekamen damit auch Sicherheit, daß du sein Bruder bist. Es ist eigentlich sehr einfach und doch ist’s wieder wunderbar.«

Die nächsten Stunden verbrachten sie unter unruhigem Hin und Her und gleichgiltigen Gesprächen. Starkblom war ziemlich aufgeregt.

Endlich gegen Abend klopfte es mit drei leicht hingeworfenen Schlägen an die Thür und Hans trat ein. Marguérite trat ihm rasch errötend entgegen und reichte ihm beide Hände. Der kleine Mann blinzelte ein wenig an ihr hinauf, dann aber begnügte er sich damit ihre Hände zu schütteln und dann an die Lippen zu ziehen. Er wollte sie im Flüsterton[208] etwas fragen, aber sie trat zur Seite und winkte mit dem Kopf Starkblom zu.

Der trat nun näher.

»Sie sind Johannes Starkblom, der Sohn Adam Starkbloms, des Schuhmachers?«

»Ich kann’s nicht leugnen.«

»Dann sind wir Brüder.«

»Ja, das sind wir ganz sicher.«

Es trat eine Pause ein. Dann begann der Ältere:

»Wir haben uns sehr lange nicht gesehen. Wir kennen uns nicht mehr.«

»Ja nun also,« fiel Hans lebhaft ein, »lassen wir den ganzen lächerlichen Bruderschwindel zu Hause. Die Sache wird sonst furchtbar ungemütlich. Sie wissen – Marguérite hat Ihnen jedenfalls gesagt, wie sehr Sie uns sympatisch sind – und – nun einfach – wir machten das Experiment, Sie vom Tod zu retten, ich kam zuerst auf den Gedanken, weil ich das Leben nämlich so furchtbar, so ganz unsagbar liebe! Und nun – wie steht die Sache? – Ich setze mich.«

Als Starkblom schwieg, sagte Marguérite leise zu Hans:

[209]

»Du hattest Recht.«

Da rief er vergnügt:

»Nicht wahr? Bravo, bravissimo! Also gerettet! Lebensfreudig! Von unsrer Art? Nun dann – Bruder, schlag ein! Nun sind wir Brüder!«

Karl legte seine Hand in die seine, sagte aber verlegen lächelnd:

»Ich glaube, Marguérite meinte es ein wenig anders mit dem Recht haben, und vielleicht hat dann auch die Brüderschaft noch einen andern Sinn. Sie – du sollst in Paris etwas vorausgesagt haben – nun, es traf ein, vollständig, nach jeder Richtung.« Er stand auf. »Und da ist nichts zu ändern. Nicht wahr, Marguérite? Wir zwei haben uns gefunden in freier Liebe, und nichts kann uns trennen – nichts!«

Hans sah lange auf die beiden, dann antwortete er:

»Also doch! Nun – darauf war ich gefaßt, und während der Reise ist mir’s schon zur Gewißheit geworden. – Marguérite! es wäre mir sehr unbequem, ohne dich zu leben. Ich habe mich so an dich gewöhnt, kurz – hol’s der Teufel, ich hab’ dich wahnsinnig[210] lieb! Und du – Marguérite? Alles aus? Weggeblasen? Na – wenn schon – denn schon!«

»Gar nicht, Hans, gar nicht: ich habe dich so lieb wie je, ganz und gar. Nur das – diese Liebe, das ist neu. Karl und ich – nun eben – du hast es immer leugnen wollen, aber es giebt doch etwas wie eine Ehe.«

Karl war still zur Seite getreten und hörte ruhig zu. Er wußte, sein Glück war gesichert, und nun nahm er Interesse an dem Geschick des armen Hans – so nannte er ihn in Gedanken.

»Eine Ehe soll’s geben?« erwiderte Hans in ruhigem Ton. »Ja, es kommt darauf an, wie du das meinst. Also das, wie wir lebten, das nennst du nicht Ehe?«

»Nun, es kommt ja auf’s Wort nicht an. Daß das viel besser und schöner war, als was man sonst gewöhnliche Ehe nennt, das ist natürlich ganz selbstverständlich. Aber, siehst du, es mag seltsam klingen, aber es ist so: wir hatten doch eigentlich nur geistige Gemeinschaft.«

»Na, na, das ist aber eine sehr kühne Behauptung, Marguérite. Das dürfen Sie beileibe nicht glauben,[211] Herr Bruder im Geist, na, Sie wissen ja, was für ein Geist.«

»Jean, du wirst gereizt, ich hör’s am Ton, und das ist nichts für dich. Ich bleibe ganz und gar bei dem, was ich sagte. Es giebt Menschenpaare, die Erfahrung habe ich wenigstens gemacht, seit ich Karl kenne, bei denen geistige und körperliche Gemeinschaft, ich möchte sagen, organisch zusammenhängen. Gewöhnlich ist’s bloßes zufälliges Zusammentreffen. Angenommen, und so war’s bei dir und mir: Ihre Seelen stehen sich nahe und aus Bequemlichkeit machen die Körper die Sache so mit. Aber das ist nicht unbedingte Notwendigkeit. Daß wir, gerade wir beide, zusammen gehörten und zusammen taugten, ganz und gar, und uns gar nichts anderes denken konnten, so war es nicht, nein, so war es nie!«

»Jetzt ahne ich, was du meinst. Verzeih, aber das ist eine ganz überspannte Geschichte. So was giebt’s gar nicht. – Der langen Rede kurzer Sinn aber ist wohl der: Für mich giebt’s keinen Platz! Da sind nur zwei Stühle und die sind besetzt. Nicht?«

Die beiden schwiegen.

[212]

»Ich muß jetzt doch wie ein Kapitalsesel vor euch stehen« fing Hans wieder an. »Der ganze Plan stammt ja von mir. Sowie ich die Brochüre gelesen hatte, noch ehe ich ganz sicher war, daß Sie mein Bruder sind, ich dachte es mir zwar gleich, da fuhr es mir durch den Kopf: Den rette ich durch Marguérite! Es giebt nur eine Marguérite, dachte ich, die kann’s, nur die. Verteufeltes Vergnügen hat mir die Geschichte gemacht; und daß Sie sich in sie verlieben, habe ich sofort in die Berechnung gezogen, ich dachte schon, eine kleine Tragödie giebt’s, es wird ihm ein bischen zusetzen, aber am Leben bleibt er, dann erst recht. So ungefähr. Und nun? Herrgott, Marguérite, wie kann’s nur sein, daß du mich nicht mehr liebst, und ich hab’ dich lieber als je! Wie habe ich mich nach dir gesehnt die letzten Tage! Ist gar nichts zu machen? Entschließt du dich nicht anders, nun ich da bin?«

»Nein Hans,« sagte sie, »ich habe dich recht gern, ich denke gern an alles zurück, und ich verdanke dir ja so vieles –«

»Nichts verdankst du mir, nichts. O du! Du!«

»Aber jetzt ist es anders. Wir gehörten zusammen,[213] Karl und ich, und mußten uns finden. Es ist schade, daß ich nicht an die Vorsehung glaube.«

»Hm,« machte er und lächelte trotz seiner Erregung. »Na, Herr Bruder, man ist natürlich der Dritte, der jubelt? Das Wort paßt nicht ganz, thut aber nichts. Na wie wär’s? Wollen wir jetzt mit einander ein wenig sterben spielen? Wenn Sie alle Künste Ihrer mächtigen Beredsamkeit anwenden, bringen Sie mich vielleicht so weit.«

»Nein, Hans,« erwiderte Karl Starkblom, »ich denke vorerst nicht mehr an den Tod. Und ich hoffe, Sie werden den Schmerz auch überwinden –«

»Ich bitte Sie, jetzt keine Phrasen. Schmerz ist anders. Schmerz – Schmerz – das wäre also Schmerz? Das Wort ist eigentlich gar nicht so übel – Schmerz. Jedenfalls ein verfluchter Zustand. Furcht vor Langeweile hätte ich ihn genannt. Jetzt muß man wieder suchen; ich weiß nicht einmal, wo wohnen; ich hatte doch gehofft, wir könnten hier eine Zeitlang beisammen bleiben –?«

Er hielt inne und blinzelte die beiden an. Sie schwiegen.

[214]

»Also nicht? Egoisten!«

»Ach Marguérite!« schrie er plötzlich, und die Leidenschaft überwand seine künstliche Haltung. Das kleine Männchen zitterte am ganzen Leib. »Marguérite, du warst mir eine Gefährtin; du hast mit mir gelacht, wenn ich lachte, du hast meine Launen geduldig ertragen, und warst so sanftmütig und so innig und so verständnisvoll – – o pfui, wie ist mir’s jetzt so öde! Äh!«

Er setzte sich, stützte den Kopf auf und kratzte mit der andern Hand im Barte.

Da sah er plötzlich auf.

»Ich kenne eure deutschen Verhältnisse nicht mehr so recht,« hub er an. »Wer von euren Spießbürgern, ich meine die Professorenseelen und Staatsmänner und so weiter, wer ist denn da besonders populär wegen seines makellosen Rufes, humaner Gesinnung, kurz ein recht braver guter Ehrengreis?«

»Ich wüßte im Moment nicht – warum fragst du?«

»Den müßte man umbringen,« sagte er lächelnd.

Sie sahen ihn erstaunt an.

»Nu ja – das hätte doch einen ganz eigenen Reiz. Nicht? Die Welt denkt an dies und das,[215] aber auf so was ist kein Mensch gefaßt. Das bringt Bewegung in den Ameisenhaufen, und wenn der Thäter ruhig zusehen könnte – es müßte ein kurioses Vergnügen sein.«

»Weiteren Zweck würdest du keinen damit verfolgen?«

»Zweck? Mensch, wie weit sind Sie eigentlich in der Kultur zurückgeblieben? Hinter Ihren eigenen Brochüren sind Sie ja zurückgeblieben? Oder ich habe sie nicht recht verstanden. Ich meine, die Hauptsache ist, daß man gar nicht nach Zwecken fragt, sondern blos nach sich selber? Ich habe nun einmal so einen Geist, dem so was Vergnügen macht. Warum sollt’ ich’s nicht thun? Vielleicht thue ich’s auch nicht, vielleicht werde ich hundert Jahre alt und habe das nicht gethan, was mir am meisten entsprochen hätte, aber eine Schande wär’s dann. Jedenfalls!«

»Das alles liegt mir sehr nahe,« sagte Starkblom düster. »Einen Moment war ich vielleicht auch da, aber ich kann nicht, ich kann nicht. Und jetzt schon gar nicht mehr. Ich kann nicht mehr blos verneinen. Ich muß etwas haben, wofür ich mich erwärme. –[216] Ist das die Stimmung der Anarchisten? Denken Sie eben so?«

»O nein,« fiel Marguérite rasch ein. »Durchaus nicht. Sie wollen etwas. Ihr Treiben hat einen Sinn. Sie sind durchaus nicht ohne Wärme. Durchaus nicht ohne Natur.«

»Also immer noch?« fragte Hans bitter. »Deine alte Liebe? Nun, sie sind nicht ganz ohne, und so sind sie, wie du sie schilderst. Hitzige und unklare Menschen. Ich habe die Verteidigungsrede des einen bei mir, den sie jetzt »hingerichtet« haben. Ihr kennt sie jedenfalls noch nicht. Ich muß sagen – nun eben, ein Fisch bin ich auch nicht, und die Worte des Mannes haben mich ins Mark hinein erschüttert. Soll ich sie euch vorlesen?«

»Ich bitte darum,« rief Karl lebhaft und gleichzeitig rief Marguérite: »Ja, ja! Ich kenne den Mann nur aus Schilderungen, aber er war ein Mensch!«

»Ja, das war er,« sprach Hans feierlicher, als er selbst es an sich gewohnt war. Dann suchte er in seiner Brusttasche unter allerlei Papieren, bis er[217] ein halb zerfetztes, auf schlechtem Papier gedrucktes Zeitungsblatt hervorholte. Dann las er.

»Wenn ich das Wort ergreife, so geschieht dies nicht, um mich zu verteidigen gegen die Thaten, welcher man mich beschuldigt; denn nur die Gesellschaft allein, welche durch ihre fehlerhafte Organisation die Menschen zum fortwährenden Kampfe des Einen gegen den Anderen zwingt, ist verantwortlich dafür. Sieht man heute nicht in allen Klassen Menschen, welche ihren Mitmenschen, ich sage nicht den Tod, das klingt zu schlecht, aber ein Unglück wünschen, wenn solches ihnen einen persönlichen Vorteil bringen kann? Zum Beispiel: Hegt der Geschäftsmann nicht den Wunsch, sein Konkurrent möchte verschwinden?

Wünscht der Arbeitslose, um Arbeit zu erhalten, nicht, daß der beschäftigte Arbeiter aus irgend einem Grunde entlassen wird? Nun gut; in einer Gesellschaft, wo solche Dinge vorkommen, hat man sich nicht zu verwundern über Thaten wie die, deren man mich beschuldigt.

Da es nun so bestellt ist, so habe ich, wenn der Hunger an mich herantritt, nicht zu zögern, diejenigen Mittel anzuwenden, welche zu meiner Verfügung[218] stehen, selbst auf die Gefahr hin, Opfer zu hinterlassen. Bekümmern sich etwa die Arbeitgeber darum, wenn sie Arbeiter entlassen, ob dieselben vor Hunger sterben? Alle Diejenigen, welche im Überfluß schwelgen, bekümmern sich diese um die Menschen, welchen die notwendigsten Nahrungsmittel fehlen?

Es giebt ja einige Leute, welche Unterstützungen verabfolgen, aber sie sind ohnmächtig, um den Millionen, die im bittersten Elend leben und nicht selten ihrem Leben freiwillig ein Ende machen, zu helfen.

Ja, die Opfer dieser Gesellschaft sind zahllos. So hat die Familie Hayem und die Frau Sonheim gehandelt, welche ihre Kinder ermordete, da sie es nicht länger mit ansehen konnte, wie sie vor Hunger litten und so handeln alle Frauen, welche, in der Furcht, daß sie ihr Kind nicht ernähren könnten, lieber ihre Gesundheit und ihr Leben in Gefahr bringen, indem sie die Frucht der Liebe frühzeitig töten.

Und alles dieses passiert inmitten des Überflusses! In Frankreich, wo alles in Hülle und[219] Fülle vorhanden ist, wo die Metzgerläden mit Fleisch, die Bäckerläden mit Brot überfüllt sind, wo die Kleidungsstücke, Schuhe u.s.w. in unendlichen Massen in den Magazinen aufgethürmt liegen!

Aber da kommen wieder Andere und sagen: »Das Alles ist wahr, aber unabänderlich. Sehe Jeder, wie er durchkomme.«

Das habe ich gethan. Ich wollte nicht Hungers sterben und wollte mich nicht mit dem Gedanken beruhigen, daß man mir nach meinem Tode ein paar mitleidsvolle Worte auf’s Grab wirft. Ich überließ das Anderen. Ich habe es vorgezogen, Schmuggler zu werden, dann Falschmünzer, Dieb, Mörder. Ich hätte betteln können; das ist herabwürdigend und feige, und das Betteln wird ja außerdem von Euren Gesetzen bestraft, welche aus dem Elend ein Verbrechen machen! Wenn alle Bedürftigen, anstatt abzuwarten, da nehmen würden, wo etwas ist, und zwar ganz gleich durch welches Mittel, dann würden die Gesättigten vielleicht viel schneller verstehen, daß es Gefahr in sich birgt, die heute bestehenden sozialen Verhältnisse zu verteidigen, in welchen die Ungewißheit[220] permanent und das Leben jeden Moment bedroht ist.

Man würde wahrscheinlich viel eher einsehen, daß die Anarchisten Recht haben, wenn sie sagen, daß, um die moralische und physische Ruhe zu erhalten, es notwendig ist, die Ursachen zu zerstören, welche die Verbrechen und die Verbrecher erziehen.

Deshalb habe ich die Thaten vollbracht, deren man mich beschuldigt, und die nur die logische Konsequenz des barbarischen Zustandes Eurer Gesellschaft sind. Man sagt, daß man grausam sein muß, um seinen Nebenmenschen zu töten; aber diejenigen, die so reden, sehen nicht, daß man sich nur dazu versteht, um nicht selbst den Tod zu erleiden.

Sie, meine Herren Geschworenen, welche aller Wahrscheinlichkeit nach mich zum Tode verurteilen werden, handeln gerade so wie ich; Sie verurteilen mich, weil Sie glauben, daß es eine Notwendigkeit ist. Sie schaudern, wenn Sie von einem Mord hören; aber Sie zögern keinen Augenblick, zu morden, wenn Sie bedenken, daß der Mord zu Ihrer Sicherheit erforderlich ist. Der einzige Unterschied, der zwischen uns besteht, ist der, daß Sie ohne persönliche[221] Gefahr morden, während ich meine Freiheit und mein Leben dabei auf’s Spiel setzte.

Meine Herren! Sie sollten nicht sowohl die Verbrecher verurteilen, als die Ursachen der Verbrecher vertilgen.

Es wird immer Verbrecher geben; heute vertilgen Sie einen, morgen werden zehn neue geboren. Was ist da zu machen? Das Elend abzuschaffen, diesen Keim des Verbrechens. Und wie leicht ist das zu realisieren! Es genügt, die Gesellschaft auf einer neuen Basis aufzubauen, wo Alles Gemeingut ist, und worin Jeder, indem er nach seinen Anlagen und Kräften produziert, nach seinen Bedürfnissen konsumiert.

Dann würde man weder Leute antreffen, wie der Einsiedler von »Notre-Dame-de-Grace«, noch solche, welche betteln gehen um eine Münze, dessen Sklave und Opfer sie gleichzeitig werden! Man würde keine Frauen mehr finden, welche ihre Körper verkaufen und keine Männer mehr wie Pranzini, Prado, Berland, Anastay und Andere, welche um dieser Münze willen Mörder geworden sind! Das beweist sonnenklar, daß die Ursache aller Verbrechen immer die[222] nämliche ist und daß man wirklich wahnsinnig sein muß, dieses nicht einzusehen.

Ich bin nur ein einfacher Arbeiter ohne Bildung; aber weil ich das Leben und die Existenz des Elends miterlebt, fühle ich die Ungerechtigkeit Eurer repressiven Gesetze weit besser, als ein reicher Bourgeois.

Woher nehmen Sie sich das Recht, einen Mann zu töten oder einzusperren, welcher, auf die Welt gesetzt mit dem Bedürfnis, zu leben, sich in die Notwendigkeit versetzt sah, zu nehmen, was ihm fehlte, um sich zu ernähren?

Ich habe gearbeitet, um zu leben und um den Meinigen zum Leben zu geben, und so lange, wie ich und die Meinigen nicht über das Maß gelitten haben, bin ich geblieben, was Sie »ehrlich« nennen. Dann ging die Arbeit aus und mit der Arbeitslosigkeit kam der Hunger. Da erst hat sich das Naturgesetz geltend gemacht, diese imperative Stimme, welche keine Replik duldet; der Instinkt der Selbsterhaltung trieb mich dazu, etliche von den Verbrechen zu begehen, deren Sie mich anklagen und deren ich mich schuldig bekenne.

[223]

Richten Sie mich, meine Herren Geschworenen; wenn Sie mich aber verstanden haben, indem Sie mich verurteilen, richten Sie alle Unglücklichen, welche das Elend, alliirt mit dem natürlichen Stolze, zu Verbrechern machte und welche mit einem glücklichen Auskommen ehrliche Leute geblieben wären! Ich wünsche, daß Sie, die Sie mich zum Tode verurteilen werden, daß Andenken an diesen Spruch so leicht tragen möchten, wie ich meinen Kopf unter das Messer der Guillotine legen werde!«

Eine Weile waren alle drei stumm. Hans nagte an seiner Unterlippe, Karl blickte mit weiten Augen ins Leere. Marguérite weinte, und sie war die erste, die wieder sprach. Sie trat auf Hans zu und streckte ihm die Hand hin. Dazu sagte sie voll warmen Gefühls nur das eine Wort:

»Hans!«

Er berührte flüchtig ihre Hand und ließ sie gleich wieder los.

»Na ja. Was hilft mir das?« Er deutete auf Karl. »Da sieh deinen« –

»Hans!«

»Was denn? Jetzt wollte ich wahrhaftig ganz[224] brav sein. Sieh nur deinen Mann! Wohin schaust du denn, Karl?«

»Ich kann nicht anders,« rief Karl Starkblom mit einem Mal laut. »Ich liebe diese Menschen. Ich komme nicht los davon.«

»Wovon denn?«

»Vom Sozialismus. Ich glaube daran.«

»Hm. Nicht übel. Ich vielleicht auch. Ich weiß es wirklich selbst nicht. Ist auch egal. Wir erleben’s nicht.«

Karl schaute wieder. Marguérite und Hans ließen ihn gewähren und schwiegen.

»Marguérite, rasch,« rief Karl plötzlich ängstlich. »Papier, Tinte! Rasch. Ich könnte es vergessen.«

Und er lief im Zimmer hin und her. Marguérite holte das Nötige und Karl schrieb stehend rasch ein paar Zeilen.

»Ich habe noch etwas zu sagen,« sprach er dann, »ich habe noch etwas auf dem Herzen. Ich will wieder reden zu den Menschen!«

»Was hast du vor?« fragte Marguérite. »Wieder ein Heft?«

[225]

»Ja. Lies den Zettel nur. Du ahnst vielleicht, was mir vorschwebt.«

»Bitte, Marguérite, lies vor. Ich darf doch?« fragte Hans.

»Gewiß, gewiß.«

Nun entzifferte Marguérite langsam das hastig Geschriebene.

»Utopien, das wäre vielleicht eine Aufgabe, der ich gewachsen wäre, Utopien zu schreiben. Ausbau von allem, wozu jetzt die Ansätze da sind. Psychologie, Technik, Kunst, Stadt und Land, Verkehr, Geselligkeit, Familie, Natur. Kurz: alles sagen.«

»Das gefällt mir,« meinte Marguérite. »Das kannst du.«

»Ihr seid glücklich, meine Herrschaften,« sagte Hans plötzlich aufstehend. »Und ich werde mich später vielleicht über euer Glück freuen, und wenn der Onkel Hans an eurem Feuer sitzt und euer Kind auf seinem Schenkel reiten läßt, dann sagt er wohl schmunzelnd: »Kinder, das verdankt ihr alles mir. Ich habe euch zusammengekuppelt.« Vorerst sind wir aber noch nicht so weit und ich gehe jetzt. Adieu, Bruder – viel Glück – nein, ich mein’s wirklich ernsthaft, ich[226] kann mir nicht helfen. Aber gehen muß ich jetzt schleunigst. Wegen des Hotels, es wird sonst zu spät. Also –«

»Adieu, lieber Hans, ich hoffe bestimmt, wir sehen uns später wieder. Und wenn du einmal –«

»Ganz richtig, wenn ich Geld brauche, schreibe ich.«

»Hoffentlich. Ich bitte dich, aber auch ohne das zu schreiben.«

»Auch das halte ich für sehr wahrscheinlich. Manchmal eine Zeile, manchmal ein halbes Buch. Wie’s kommt. Nun denn –«

»Lieber Hans, leb wohl,« sagte Marguérite leise und schickte sich an sich zu ihm zu beugen. Hans aber trat einen Schritt zurück und blitzte sie mit seinen kleinen Äuglein scharf an. Dann sprach er mit leicht bebender Stimme:

»Nein, Marguérite, was du zum Empfang verfehlt, machst du zum Abschied nicht wieder gut. Jetzt will ich keinen. Mitleidsküsse schmecken nicht. Ich erinnere mich noch zu gut – weißt du. Also, na denn, adieu!«

Er schüttelte ihr die Hand, nickte Karl nochmals leicht zu, dann nahm er seinen Hut und ging rasch[227] zur Thüre hinaus. Man hörte noch, wie er im Gang und auf der Treppe die Marseillaise zu trällern anfing und plötzlich mit einem Fluch abbrach. Dann reichten sich Karl und Marguérite die Hände und schauten sich verlegen lächelnd an.

Endlich sagte Marguérite leise:

»Hätten wir nicht doch lieber – Nein, es geht nicht. – Liebst du die Einsamkeit?«

»Ob ich die Einsamkeit liebe?« brach Karl mit starker Stimme aus. »Ich hasse sie. Aber ich brauche sie. Hier sitzen und Bücher lesen und schreiben und schreiben und schreiben und dann sich mit dem Drucker herumzanken, Korrekturen lesen – glaubst du wirklich, das sei das Leben, das mir innen in meiner Seele vorschwebte, als ich wieder anfing ein Mensch zu sein und mir zu gehören? Nein, nein, das Bild werd’ ich nicht los, das ich als Knabe vor dem Einschlafen schon immer sah: Ein mächtig zusammengedrängter Volkskörper, der nach vorwärts schießt, und ich mitten drin und doch über ihm als Redner und Sänger und Prophet und Führer. Ach, was ist das für eine jämmerliche Krämerzeit, in die wir hineingefallen sind, wir wissen wahrhaftig nicht, warum.[228] Auch jetzt, wenn ich schreibe, wo ich reden und singen und jubilieren möchte – aber auch jetzt – ich wende mich immer an Menschen, die ich nicht sehe, ich ahne, zerstreut in der Welt, hier und da, müßten sie sein, die mich hören – aber ich kenne sie nicht, ich habe sie nie gesehen. Was ich sehe von den Menschen und ihren Einrichtungen und ihrem Gebahren – das glaubt kein Mensch, wie mich das anekelt. Weißt du, ich habe oft das Gefühl, ich müsse mich krümmen und winden können vor Widerwillen, daß mir das Innerste nach außen gekehrt würde. Aber ich will nur – die Kraft habe ich nicht.«

Er schwieg ein wenig, dann fuhr er mit leiserer Stimme fort, indem er ihre Hand faßte.

»Jetzt ahnst du vielleicht, Marguérite, was du mir bist. Seit ich lebe, der erste Mensch, vor dem mir nie geekelt hat; was du auch begannst und was wir auch zusammen thaten, es war mir immer natürlich und immer schön und ich glaube, so wird es bleiben. Aber weißt du, was das heißt und was du mir bist? Das einzige Wesen, mit dem ich leben kann, das ich mir gleich fühle. Ach, ich bin nicht mehr jung genug für die Einsamkeit. Ich möchte[229] einen Kreis von Menschen um mich haben – ach, ich bin ja so bescheiden geworden – an Millionen und Abermillionen leuchtender Menschengesichter will ich ja nicht mehr denken, ich verzichte auf die Tausende, daß ich hundert finde, ich kann’s nicht glauben, aber zwanzig Menschen vielleicht, die mir anstehn, die möchte ich manchmal um mich haben, zwanzig Menschen, mit denen ich oft zusammen bin, die ich gern haben kann, die aus aller Herren Länder sich um mich finden zu persönlichem Verkehr – zwanzig Menschen, in deren Umgebung sich meine Lippen nicht bös im Ekel verzerren müssen – ist das zu viel verlangt, Marguérite?«

Sie drückte seine Hände stärker.

»Vielleicht finden wir sie, Karl. Einen so nach dem andern. Hans?«

»Du nimmst mir das Wort aus dem Munde. Ich dachte eben an ihn. Ich glaube, ich habe ihn recht verstanden, und ich meine, ihn müßte ich immer gern haben können. Vielleicht kommt er später wieder. Vielleicht. Daß er jetzt ging, ist doch gut. Nicht, Marguérite? Fürs erste brauchen wir ihn wirklich noch nicht.«

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Dabei lächelte er.

»Es war ein langer Tag heute, Karl. Willst du noch nicht zur Ruhe gehen?«

»Geh nur voran einstweilen, Marguérite. Aber öffne vorher die Fenster, beide. Dann will ich noch ein wenig hier allein bleiben und vielleicht fange ich schon an mit der Arbeit. Und wenn der Fluß unten rauscht und die Nachtluft auf breiten Wogen hereinströmt und der Wald der tausend Bäume harmonisch ertönt, will ich davon träumen, ich spräche zu meinem Menschenvolk und es antworte mir feierlich in brausendem Zuruf, und die Natur habe ihre Sinne geöffnet und sei eins mit uns Menschen. Ich danke dir, Marguérite. Einstweilen gute Nacht.«

Marguérite ging leise aus dem Zimmer, und Karl Starkblom stellte sich ans offene Fenster und schaute lange ins Dunkle und auf die winzigen in der Ferne zuckenden Lichter und hielt in Träume verloren seine Hand hinaus ins Freie.

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