Einleitung.

Ich habe versprochen, nach einiger Zeit wieder von mir hören zu lassen und zu erwidern auf die Antworten, die mein erstes Schreiben hervorgerufen. Freilich hatte ich es mir anders gedacht und wenn ich könnte, müßte ich jetzt bitter werden. Eine Antwort, nämlich einen starken Widerhall, haben meine Worte überhaupt nicht gefunden. Ich dachte, es gebe Leute genug, die mir laut zujubeln müßten, daß ich das erlösende Wort gesprochen, aber nichts von alledem. Ich meinte,[143] meine Wohnung müsse täglich voll sein von Menschen, die sich zu mir drängten, um mit mir zu reden und sich bereit zu erklären. Aber Niemand kam, außer einem einzigen Menschen. Der drückte mir die Hand und dann ging er wieder. Es war ein Arbeiter. Und ja doch – ein paar Briefe erhielt ich, abgesehen von denen, in denen ich zum besten gehalten und angeulkt wurde. Ein paar Weiber und ein paar Jünglinge und ein einziger Mann, die erklärten sich bereit zum Sterben, »wenn es mir wirklich ernst sei«. Etwas der Art fügten sie alle hinzu.

Meine Freunde, die ihr nicht da seid, meine Einleitung kann also kurz sein. Ich lebe nicht zu meiner Zeit. Ich habe geglaubt, ich könne verstanden werden, und man hat meine Schrift als ein litterarisches Ereignis aufgefaßt. Lächerlichkeit über Lächerlichkeit! Seid ihr so wenig an die Druckerschwärze gewöhnt? Meint ihr, wenn ein neuer Heiland käme, er würde sich heute wieder auf einen Berg stellen und eine Predigt halten? Nicht wahr, damit unten an der Böschung die Eisenbahn vorbeidröhnte und ihn auspfiffe? O ihr Nachahmer von allem, was früher gewesen, ihr freilich konntet meine Stimme nicht verstehen! Mir[144] fehlte die Würde und die Borniertheit des Bußpredigers. Einen lachenden Künder neuer Worte, den könnt ihr noch nicht ertragen. Ich bin traurig, sehr traurig, daß ich einsam bin, im Tode wie immer im Leben.

Erwartet nicht, daß ich auf die sogenannte Kritik eingehe. Einige wenige freilich – nein, ich will nicht von ihnen reden. Sie stehen mir nahe, sie verstehen den Athem meiner Rede – und doch, doch! Sie haben mich gelobt, als ob ich ein Chamäleon wäre, oder ein Schriftsteller, der alles kann. Hätten sie geschwiegen und wären sie zu mir getreten um mir die Hand zu drücken, wie jener Arbeiter, dann – ja dann! Die Ehrfurcht fehlt ihnen, vor mir und vor sich selber.

Meine Freunde, die ihr nicht da seid! Setzet euch im Kreise und höret mir zu! Wenn ich ruhte im Walde, wenn ich über nasse Wiesen ritt, des Nachts, wenn ich nicht schlafen konnte und auch nicht wollte – da habe ich das geträumt und immer fort geträumt, was im folgenden erzählt ist. Dann habe ich es niedergeschrieben und nun lasse ich es auch noch drucken. Warum das? Woher diese Thorheit?

[145]

O merkt ihr es denn nicht, seht ihr das Leid denn nicht, das an mir zehrt? Ich suche Menschen! Menschen suchte ich immer und immer, erst blickte ich um nach Tausenden und wiederum Tausenden, um zu ihnen zu sprechen und sie zu erkennen als Meinesgleichen und sie zu verführen zu meinem Tode. Und jetzt suche ich einen einzigen Menschen, einen Menschen nur, der mich liebt und mit mir sterben will. Und darum trete ich nun zum zweiten Mal hin auf den Markt und prostituiere mich vor allem Volk und zeige mich bald nackt, bald angethan mit all meinem Putze.

Und nun vernehmet die Vision des Todespredigers.

Ich will euch von einem Manne erzählen, der keinen Grund hatte, sich selber auszulachen, der konsequent sein konnte und geradeaus gehen durfte, der an sich glaubte und Gläubige fand. Wer ist der[146] Glückliche? Und wie ist es ihm möglich? Wie ahmen wir ihm nach? Ganz einfach ist es ihm möglich, aber wir andern können’s nicht, auch wenn wir wollen.

Der Mann, von dem ich erzählen will, war epileptisch. Was, ruft ihr voll Entsetzen, und du nennst ihn glücklich? Jawohl, selig nenne ich diesen Mann, daß die Krankheit seines Geistes in solcher Weise ausbrechen konnte. Wir alle sind ja epileptisch, in uns allen lebt etwas, das sich sträubt gegen das Leben, aber wehe über uns, deren Krankheit Geist heißt und deren Arznei wiederum Geist! Weit besser haben es die, deren Körper den Geist heilt und in die Bahnen der Ruhe lenkt. Sie haben nur die eine Hälfte ihres Hirns, denn die zuckende und krampfende Hälfte, die wie ein Gelächter schneidet in den Ernst und wie Wehschrei in die Freude ächzt – die ist nur Körper bei ihnen – und wenn ihr Körper sich windet und dreht, dann weiß die Seele nichts von den Zuckungen des Menschen und bleibt ganz und heil.

Wohl denen, die das Bewußtsein verlieren dann, wenn sie irre würden an sich! Heil den Epileptischen! Sie sind Propheten und Heilige und Heilande.

[147]

* * *

Da, da, seht hin, da ist er, da kommt er! Schreitet er nicht wie ein Gott? Da ist er, da steht er in Mitten der tausendköpfigen Versammlung, hoch ragt er empor über alles Volk, Starkblom der Todesprediger! Seht ihr ihn, seht ihr? O jetzt schweiget. Es bedarf ja nicht der Ermahnung; alles lauscht atemlos, alles wird süß bestrickt vom Zauber seiner Rede. O wie er Macht hat über die Herzen der Menschen! Wie er sie bezwinget und in den Staub, auf die Kniee schmettert. Ehret den Tod! Seid in Treue gewärtig des Todes! Harret aus! Bald sollt ihr mit mir sterben den holden Tod in Größe und Freiheit. Dann hört ihr auf zu sein und das Häßliche, was Mensch hieß bisher, ist geschwunden aus dem schönen Bezirk der Göttin Natur. Ihr werdet heimkehren zur Unbewußtheit. Ihr werdet nicht mehr fragen, wozu. Die Thorheit des Zweckwahns ist gestorben mit euch. Eins ist wieder die Natur, alles ist schön, und nichts wird empfunden als eigene, eine Schönheit. Die Zeit ist gestorben mit euch, und Ursache und Wirkung lebt dann nicht mehr. Und auferstehen wird jubelnde Veränderung und zweckloser, sinnloser, farbenfroher, tönender Zufall![148] Sterbet, ihr Einzelnen, sterbet, damit der Wahn der Gesamtheit tot sei. Stirb, mein Bruder, damit alles aus ist, und lache im Tode derer, die an die unbedingte Entwicklung glauben und an den Fortschritt und wie die heiligen Wörter alle heißen. Sterbet, sterbet, werbet zum Sterben! Und weiter wälzt sich der Menschenstrom, und größer und größer wird die Masse der Todesfrohen. – Ha, wo ist er? Alles schwand meinen Augen? Ich erblicke nichts mehr. Ich höre nichts mehr. Ich liege auf dem Boden und stöhne und betaste meinen Leib. Wo ist dieser Starkblom? Starkblom, wo bist du?

* * *

Sie haben überall, in allen Städten, die Statuen ihrer Fürsten und Heerführer auf den Marktplätzen von den Sockeln geworfen und mit den Stein- und Erztrümmern die Fenster der Schlösser und Paläste der Lebenden eingeschlagen. Und auf die Sockel haben sie kolossale Gerippe gestellt, vergötterte Todesgestalten, und sie haben ihre Kleider von sich geworfen und tanzen um das Bildnis des Todes, und jubeln und lachen und singen, und schmetternde Musik spielt[149] rauschende Marschweisen. Allons enfants, allons nous-en! Und die Sonne scheint so golden herab wie noch nie, als wolle sie den Menschen die Lebenslust warm in alle Poren träufeln und ihnen zeigen, man könne auch nackt leben. Sie aber wollen sterben, und Starkblom, der fürchterlich-herrliche, tanzt den Todesreigen vor. Und abends, wenn es kühler und dunkler wird, da erwachen die Farben in feuriger Glut. Grün und rot und gelbe Tücher schlagen sie um sich in phantastischem Wurf, und unsagbar wonnig und feierlich flüstert und kost Musik von den Thürmen, und Kinder kommen aus allen Gäßchen und Winkeln gesprungen und schlagen Purzelbäume und springen über die Alten. Die aber setzen sich im Kreise und hören zu Märchen erzählen, Märchen vom Leben. Und leise schwirren die Winde fernher durch die Straßen und tragen süße Düfte mit sich aus weiten Gärten und Haiden draußen vor der Stadt. Und nun steht Starkblom in der Mitte des Kreises und erhebt seinen Gesang von der Wunderherrlichkeit der Zukunft dieser Menschenwelt, wie alles kommen könnte und kommen müßte, wenn sie nur wollten. Und am Schlusse kehren dann immer wieder die Worte voll[150] brausenden Glückes: »Welch’ Herrlichkeit erdichten wir – welch’ schöne Welt vernichten wir – wir könnten sie erwerben – haha, haha, haha – wir aber sterben, sterben! Juh!« Und jubelnd fällt die Masse ein, und der Wind klappert im Gebein des Todenmannes, und die Posaunen gellen hoch oben aus den Lüften und das Gelächter der Menschenmenge schwillt empor wie ein bäumendes Meer und will nicht enden. Und ein stolzes hohes Weib tritt zu Starkblom in die Mitte und – oh, oh! Die elektrischen Lampen erlöschen, die Fanfaren brechen schrill ab mitten im Tone, ein schwarzes unendliches Tuch breitet sich über alles – Nacht, Nacht – nichts, nichts – wo ist das Weib? Wo sind die Menschen? Wo bleibt der Tod? Starkblom sitzt auf dem Sopha und stützt den Kopf in die Hände – es ist alles anders, alles so anders, o pfui, pfui, alles matt und gewöhnlich und niedrig und mittelmäßig. Wo bist du Größe, Größe der Gedanken, Größe der Erscheinung? Ich will schlafen, ich will nicht mehr träumen – o wenn ich weinen könnte, oder lachen, lachen – Aber nur nicht mehr dieses trockene Schluchzen, dieses Mittelding zwischen Weinen[151] und Lachen. Alles zuckt an mir, doch ich kann nicht tanzen; ich ächze, o könnte ich singen! O ich kann’s ja nicht mehr aushalten – ich werde sterben, bald sterben. O pfui, pfui!

* * *

Was ist ein Leben, wo die Ueberraschung fehlt und der Zufall und das Plötzliche und die Blindheit? Wo es eine Ueberlieferung giebt und eine Vermittlung und ein Rechnen? Ein Rechnen mit Gewesenem, ein Berechnen des Kommenden? O Natur, wie neide ich dir dein Glück! Seht diesen Wassersturz hoch vom Berge hinab in die Tiefe! Wie wandelt die Welle hier noch so friedlich, wie freut sie sich ihrer grünen Ufer und ihrer Blumen und Steine und plötzlich da – das Ereignis, das sie niemals geahnt! Sie stürzt hinab, tief, tief! O dieses Brausen und Schäumen, dieser Jubel des Nieerhörten und Niewiederkehrenden! Diese Seligkeit des Vergessens und des Entdeckens und des wieder Vergessens. Wie viele Wasser sind schon da hinabgestürzt und keine Woge hat es der andern gesagt, kein Papier verbindet die einzelnen Tropfen und trennt[152] sie von ihrer eigenen Herrlichkeit. Aber bei uns – ewig Gewesenes! Wollen wir denn nicht endlich und endlich das Alte töten? Sind wir noch nicht altersschwach? Ich bin es, ich bin es – ich breche zusammen unter der Last des Vergangenen. O könnte ich alle Ueberlieferung töten, dann, ja dann wollte ich leben. Ich kann sie töten, wenn ich mich töte. Dann bin ich ein Teil der Natur – nein, nein, dann ist ich nicht mehr, dann ist sie, sie, die Natur! Ich hasse euch, weil ihr noch leben wollt, ihr Narren! Ich will noch nicht sterben, ich muß warten, ob ihr euch nicht doch noch entschließet, mit mir zu gehen, damit Mensch aufhöre zu sein. O ich würde nicht zu euch reden, wenn ich wüßte, wie ich euch morden kann! Euch alle zusammen! Ich will nicht, daß noch einer kommen muß nach meinem Tode, der dasselbe erleben muß. Ich will nicht. Ich will, daß mein Tod einen Sinn hat. Mir ekelt vor meinem letzten Gedanken. Mir ekelt vor dem Alleinsein.

* * *

Das große Ereignis, das Starkblom immer verkündet hat, ist eingetreten. Die »Secte von Altersschwachen und übergeschnappten Lebemänner«, wie sich[153] noch ganz kurz vorher radikale Parteiführer ausgedrückt hatten, hat die ganze civilisierte Welt erobert. Ein religiöser Taumel riß alle hin, die mit der Bewegung in Berührung kamen. Die große Arbeitermasse, die bisher dem Sozialismus gefolgt war, ist mit eins müde geworden der Hoffnung auf das Leben und hat eingesehen, daß ihre revolutionäre alles verneinende und umstürzende Leidenschaft wohl einen Grund hat und darum ihre Berechtigung, aber keinen Zweck. Sie haben eingesehen, daß nicht der Zweck d. h. der Wahn, das Recht schafft, sondern der Grund, und das ist in diesem Fall die Unterdrückung und die Hoffnungslosigkeit. Sie wollen sterben, warum nicht, sie wären ja doch gestorben, aber vorher wollen sie noch einreißen! Ist es Rachsucht, was sie treibt, ist es Wahnsinn, ist es Verführung? Wer weiß es und was liegt daran. Man denkt nicht mehr in dieser Zeit der taumelnden Auflösung, man genießt seine Leidenschaft und man handelt. Sie hören auf zu arbeiten, sie zertrümmern die Maschinen, die Armeen werden angesteckt und laufen auseinander, Männer und Frauen hören auf sich zu bekleiden und gehen nackt durch die Straßen, denn sie haben keinen Schnupfen mehr zu[154] fürchten, es wäre doch ihr letzter. Die Staatsgewalt ist ohnmächtig und hört auf zu sein. Man raubt seine Bedürfnisse, der Vorrat ist groß genug für die kurze Zeit; fürchterliche Wildheit fletscht ihre Zähne und bricht überall aus und doch durchflutet die meisten eine Ahnung von der seligen Schönheit ihres bewußtlosen Thuns; Männer und Frauen umarmen sich auf öffentlichen Plätzen; wer dem andern ins Gehege kommt, wird ermordet, zahllose Einzelne und Paare sterben schon jetzt, die neugeborenen Kinder werden fast alle getötet.

* * *

Als die Dinge soweit waren, bekam Starkblom eines Tages einen heftigen Weinkrampf und am Tage darauf einen furchtbaren epileptischen Anfall, aus dem er kaum mehr erwachen wollte. Als er aber nach ein paar Tagen sich wieder erholt hatte, stellte er sich von neuem an die Spitze der Bewegung, soweit sie sich noch beherrschen ließ. Er wollte sich nicht täuschen lassen durch den anscheinend vollständigen Sieg seiner Sache; es war noch vieles zu thun. Er saß jetzt meist einsam oder umgeben von seinen Vertrautesten[155] im stillen Zimmer und schmiedete Pläne oder hielt Kriegsrat. Es konnten sich in später Zukunft aus den wilden Völkerschaften, die noch nicht ergriffen waren, auch wieder civilisierte Menschen entwickeln. Das durfte nicht sein. Er schlug vor, einen gewaltigen Kriegszug auszurüsten, zunächst ins Innere Afrikas. Einer seiner Jünger aber meinte, das halte zu lange auf. Man solle Prediger hinschicken. Die Idee des Todes sei so einfach und überzeugend, daß auch diese rohen Menschen sie verstehen müßten. Einstweilen müsse man in Europa mit dem großen Tode beginnen. Sonst verflache die Bewegung wieder. Es müsse jetzt gehandelt werden.

Aber wie es mit den hochentwickelten Tieren sei, wandte ein anderer ein. Sie haben das Selbstbewußtsein, täuscht euch darüber nicht. Wäre es nicht ekelhaft, wenn wir sterben würden und müßten diese am Leben lassen. Hunde, Pferde, Ameisen, Bienen, diese vor allem müßten mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden.

O all unser Thun ist nur Stückwerk, seufzte da ein ganz junger Mann, der bisher fast am leidenschaftlichsten in der Bewegung gewirkt hatte. Ich[156] fürchte, auf dem Mars leben auch denkende Wesen. Die können wir auch nicht erreichen. Wir wollen jetzt sterben, aber alles was wir möchten, können wir doch nicht ausführen. Nicht bloß die Menschen, nicht nur die Tiere, nicht nur diese Erde, nein, die ganze Natur, die Welt müßten wir zerstören können. Und können wir das?

Verfluchter Verräter! Treuloser! schrieen die andern. Du beschimpfst unsre gute Sache. Und sie drangen mit erhobenen Fäusten und blanken Schwertern auf ihn ein.

Da lachte der Jüngling wild auf. Haha, haha! Ihr wollt mich töten, ihr Todesfrohen? Laßt mich doch leben, das wäre die rechte Strafe! Aber ihr mahnt mich recht, ihr Narren. Wenn ich tot bin, dann ist auch die Welt tot – für mich. Was liegt mir an euch?

Und er ging ins Nebenzimmer, wo ein wunderschönes fünfzehnjähriges Mädchen schlief, totmüde von dem wilden Toben dieser Tage. Er weckte sie rasch, riß die Schlaftrunkene an sich und umarmte sie stürmisch. Dann riß er das Fenster auf, umschloß sie eisern[157] mit seinen Armen und beugte sich weit vor. Ein heftiger Schlag, und die Leute unten fanden zwei unförmliche Leichen.

Starkblom schwamm es vor den Augen. Das war das bekannte Zeichen. Der Anfall drohte wieder. Doch ging es diesmal wieder vorbei: Kurz lachte er auf. Der Mann hat recht. Es ist bald Zeit für uns. Die andern mögen für sich selbst sorgen.

* * *

Graut euch vor mir und meinem Doppelgänger? Ihr wendet euch mit Entsetzen ab vor den Ergüssen meines verrückten Hirns? Ich aber sage euch: ich preise diesen Starkblom, er hat das wahre Glück, er hat es schon vor dem Tode. Er glaubt an sich, wie der Kirschbaum an sich und seinen Blütenschnee glaubt, bevor der Frost kommt und seine Blüte verdirbt, wie die Lawine an sich glaubt, die krachend ins Thal hinabschmettert. Wußtet ihr nicht, daß die Natur grausam ist für schwächliche Zuschauer? Warum seid ihr auch Draußenbleiber, ihr winzigen Narren, mit eurem Denken und eurem Jämmerlein und eurer Moral und euren Hosen? – Starkblom der Erste ist heute[158] wieder einmal fröhlich und guter Dinge, er ahnt den Zweiten in sich und ahnt den Tod und die Unbesonnenheit und Selbstverständlichkeit und den freien Wurf und die Kälte – die ihr Narren Unverfrorenheit zu nennen beliebt. Ich pfeife auf euch, meinetwegen könnt ihr immerhin leben, ihr belustigt mich! Laßt euch nicht einfallen zu verzweifeln und zu winseln und den Tod zu begehren und zu wähnen, ihr wäret mir gleich! Wer weiß – ob ich dann nicht leben will – um mein Gelächter noch eine Weile zu genießen?

* * *

Und immer mächtiger und mächtiger schwollen die Heere der Sterbenden an. Und auf einmal war das Vorpostengefecht aus, es knatterten nicht mehr an allen Ecken Europas vereinzelte Schüsse, ganze Städte sprengten sich in die Luft, und von allen Seiten wie auf ein Commando strömten die Landbewohner herbei und stürzten sich in die Flammen der brennenden Straßen und Wälder. Eisenbahnzüge über Eisenbahnzüge fuhren nach allen Richtungen hinaus – den Meeren entgegen, und bald waren nicht nur[159] Tausende und Hunderttausende, nein Millionen und Abermillionen von Menschen versenkt in den Tiefen der Oceane. Die Haustiere wurden vielfach mitgenommen, sonst kümmerte man sich um nichts mehr. Starkblom blieb mit einem getreuen Stab von einigen Tausenden zurück in der Mitte Deutschlands und lenkte und berechnete die Bewegung. Er sandte seine Leute aus nach allen Seiten und bald konnten sie zurückkehren wie die Taube mit dem Ölzweig: nirgends mehr ein Mensch zu sehen. Da verließ er seine Umgebung mit einem Mal und reiste weg. Er war verschollen. Fieberhafte Aufregung befiel seine Getreuen. Schon murmelte man hie und da vom Verräter. Er wolle sie alle noch in den Tod treiben und dann am Leben bleiben ganz allein. Sie hatten unrecht – zunächst. Er wollte sich nur noch einmal satt sehen an der Erde. Und er sah sich satt. – Niemals in seinem ganzen Leben hatte er sich so selig, so erhoben gefühlt wie jetzt, da er ganz allein durch Thäler und Gebirge schweifte, die Ruinen der Städte und Dörfer sah und in die Lüfte emporjauchzte: Allein! allein mit der Natur! Dann aber schien ihn der wahnsinnige Gedanke wirklich anzufallen. Er näherte sich wieder dem[160] Platze, wo er seine Gefolgschaft vermutete und eines Nachts schlich er sich in ihr Lager. Es schien ihm zu glücken was er wollte. Niemand sah ihn. Und er trat in das Zelt zu dem Weibe, das er suchte, und weckte sie. Dann flüsterte er erregt auf sie ein und hielt sie umfangen, an allen Gliedern zitternd. Und er schien zu siegen. – Sie folgte ihm. Sie flüchteten hinaus in die Einsamkeit, in ein wundersames Thal. Niemand hatte ihre Spur gefunden. Adam und Eva! jauchzte er, als sie allein waren und gerettet, wie es schien. Wir beide allein im Paradies – Sie mögen sterben, sie sollen sterben! Wir bleiben zurück und gründen ein neues Geschlecht. Wir wollen leben, wir schaffen ein neues, herrliches Leben, eins mit Natur und Vernunft. – Indessen wurden er und sie – denn man hatte ihre Flucht entdeckt und ahnte schlimmes – eifrig gesucht. Nach einigen Wochen aber stellte er sich freiwillig ein bei der Schaar seiner Freunde und zwar – allein. »Verzeiht mir, meine Freunde,« sagte er kurz und freundlich, »ich habe einen letzten Versuch gemacht. Doch auch der ist unmöglich. Das noch am wenigsten. Ich habe das Weib mit diesen meinen Händen erdrosselt.[161] Nun wohlan, wir wollen sterben, ich bin bereit. Jetzt bin ich reif.«

* * *

Und sie zogen an die sonnigen Ufer des Rheins. Es war zur Zeit der Rebenblüte. Dort führten sie noch mancherlei wundersame Comödie auf, als trennten sie sich nur ungern von dem Gedanken an den Tod. Denn sie ahnten, wenn sie erst tot waren, hatten sie nur wenig Vergnügen davon. Starkblom war wieder aufgethaut und äußerst gesprächig geworden. »Was die Erde wohl ohne uns anfangen mag?« sagte er einmal. »Wir waren doch sicher ihre größte Unterhaltung. Ich hoffe, sie langweilt sich ohne uns zu Tode und stürzt in die Sonne. Vielleicht bringt das dann so große Unordnung in die Welt, daß alles durcheinander kommt und alles wieder zu eins wird und nichts mehr gesondert ist. Denn wisset, das will ich euch noch sagen: eins und nichts – das ist dasselbe. Die Besonderung und die Verschiedenheit erst hat Welt und Leben und Bewußtsein erzeugt. Ist die Welt erst eins, dann ist nichts mehr, dann ist das Nichts da, das absolute Nichts.«

[162]

Und dann stürzten sie sich hinein in die Fluten – allesamt. Und nach kurzer Frist war das Gelächter und der Gesang und das Angstgeschrei verstummt – denn einige schrieen auch – und menschlos war die Erde weit und breit. Der Rhein aber floß ruhig weiter, und bald kamen die Tiere des Waldes und spitzten die Ohren und tranken aus kühlen Gewässern, und grün umwucherte die Pflanzenwelt die ganze Erde und umspann die Trümmer der Menschenbehausungen, und ein Singen und Jubilieren der Vögel erhob sich wie nie zuvor, und die Blumen leuchteten und dufteten in süßer, nieerhörter Pracht, und die Bäume rauschten und erzählten es den Winden, und die Stürme heulten es weiter, und die Erde brauste klingend ihre Bahn dahin: er war tot, er war tot! der große Peiniger!

* * *

Und jetzt greife ich mir an den Kopf und der geneigte Leser thue desgleichen. Beruhige er sich, er lebt noch, und ich werde ihn auch nicht ermorden. Ich aber bin Starkblom, nicht Starkblom der Todesprediger[163] und nicht Starkblom der Epileptische – bloß Starkblom der Erste, Starkblom der Leidende und Starkblom der Sterbende. Ja, ich werde sterben, ihr werdet nichts mehr von mir hören. Und so wünsche ich euch denn zum letzten Male ein herzliches Sterbewohl.

Karl Starkblom.

[164]

Share on Twitter Share on Facebook