Unerbittlich ringt der Tod die vielzelligen Tiere nieder …
Die befruchtete Eizelle, der Keim des werdenden vielzelligen Tieres hat sich mehrfach geteilt, und aus der einen Keimzelle ist ein ganzer Zellenstaat geworden, in dem jede einzelne Zelle ein Nachkomme der Keimzelle ist. Die Zellen des Zellenstaats sterben schließlich alle – mit Ausnahme einer bestimmten Anzahl von Keimzellen, die in den Kindern fortleben. Während bei den Einzelligen sämtliche Nachkommen einer Stammzelle, wie z. B. in den Versuchen von Woodruff, unsterblich sind, sich weiter teilen, sind aus der Zahl der Nachkommen der Keimzelle eines vielzelligen Tieres nur die Keimzellen unsterblich. Die Körperzellen leben dagegen im großen Ganzen nur wenig länger, als es für die Brutpflege nötig ist. Der Mohr hat seine Pflicht getan, der Mohr kann gehn …
Hier sind wir vor eine neue Frage gestellt. Das Zusammenleben der Zellen im Zellverbande bringt es mit sich, daß die Zellen der vielzelligen Tiere sterben. Aber, wie gesagt, nicht alle Zellen des Zellenstaates sterben. Denn die Keimzellen sind ja unsterblich: während der mütterliche Organismus stirbt, leben die Nachkommen seiner Keimzellen in den Keimzellen der Kinder und Kindeskinder fort. Wieso kommt es nun, daß bestimmte Zellen des Zellenstaates unsterblich sind wie die unsterblichen Einzelligen? Hier liegt die Sache wahrscheinlich so. Die Keimzellen werden im Zellverband wohl genau so geschädigt wie die Zellen sonst und auch sie gehen zugrunde, wenn der Zellverband stirbt – mit Ausnahme derjenigen Keimzellen, die befruchtet wurden. Die mütterliche Eizelle und der väterliche Samenfaden sind in genau derselben Lage wie das Pantoffeltierchen in den Versuchen von Calkins, das in eine Depression verfällt und stirbt, weil es mit Stoffwechselprodukten überladen ist, und das sein munteres Dasein wieder beginnt, wenn ihm die Gelegenheit geboten wird, eine Vereinigung mit einem andern Pantoffeltierchen einzugehen. Die Befruchtung der Eizelle ist in dieser Beziehung mit der Kopulation bei den Einzelligen identisch. Wie die Kopulation bei den Einzelligen das wieder gut machen kann, was die Überladung der Zellen mit Schlacken an ihnen verdorben hat, so auch die Befruchtung. Auch hier vereinigen sich zwei Zellen, die Eizelle und die Samenzelle, und in der Folge dieser Vereinigung gewinnt die Keimzelle die Fähigkeit, sich zu teilen und Stammutter einer langen Reihe von Zellgenerationen zu werden. Ihre Nachkommen sterben, weil sie im Zellverband leben, mit Ausnahme wiederum jener Keimzellen, denen es beschieden war, befruchtet zu werden usf. Wie gesagt: genau wie bei den Pantoffeltierchen, wo die Nährflüssigkeit nicht häufig genug gewechselt worden ist, jene Pantoffeltierchen, die Gelegenheit zur Kopulation bekamen, besser davonkommen als die übrigen.
Wie weit die Übereinstimmung zwischen Kopulation und Befruchtung geht, zeigen uns folgende Tatsachen. Wir haben schon einmal erwähnt, daß Calkins eine Überwindung der Depression bei seinen Pantoffeltierchen nicht allein dadurch bewerkstelligen konnte, daß er ihnen Gelegenheit zur Kopulation gab, sondern auch mit Hilfe verschiedener chemischer Reize, wie z. B. durch Veränderungen in der Zusammensetzung der Nährflüssigkeit und mit Hilfe mechanischer Reize, durch Schütteln des Aquariums. Der amerikanische Physiologe Jacques Loeb hat nun gezeigt, daß man auch die Teilung, die Entwicklung der Eizelle zum Zellenstaat anregen kann, ohne daß eine Befruchtung stattgefunden hat. Loeb brachte Eier vom Seeigel in Seewasser, dem kleine Mengen verschiedener chemische Stoffe wie Salze, Natronlauge u. a., beigegeben waren. Die unbefruchteten Eier, die der Einwirkung dieser Stoffe ausgesetzt waren, teilten sich und entwickelten sich zu Seeigel-Larven. Die unbefruchtete Eizelle gewinnt unter dem Einfluß von Reizen die Lebensfähigkeit wieder – genau so wie das Einzellige, das sich in einem Depressionszustand befindet und keine Gelegenheit hat, eine Kopulation einzugehen. Wie für die Kopulation, so kann auch für die Befruchtung irgendein Reiz eintreten.
Sehr interessant sind in dieser Beziehung auch manche Fälle der in der freien Natur vorkommenden „Parthenogenese“. Unter Parthenogenese, was so viel heißt wie Jungfernzeugung, versteht man die Entwicklung unbefruchteter Eizellen, wie z. B. auch in den oben erwähnten Versuchen von Jacques Loeb. Es ist jedem Naturforscher bekannt, daß auch in der freien Natur die Eizellen sich unter Umständen unbefruchtet teilen und entwickeln können. Allbekannt ist das Beispiel der Bienen. Hier entwickeln sich sowohl befruchtete als unbefruchtete Eizellen. Die befruchteten Eier werden zu Weibchen, die unbefruchteten zu Männchen, zu Drohnen. Wir müssen nun annehmen, daß die Entwicklung der unbefruchteten Eier bei der Parthenogenese in der freien Natur – genau so wie in den Versuchen von Jacques Loeb – durch allerlei Reize veranlaßt wird, die wir noch nicht kennen. Dafür sprechen die Beobachtungen über die Parthenogenese bei manchen kleinen Wassertieren, z. B. bei den Rädertierchen und den Wasserflöhen. Hier entwickeln sich die Eier im Sommer, d. h. unter höherer Temperatur, parthenogenetisch, ohne befruchtet zu werden. Dagegen können die Wintereier sich nur dann entwickeln, wenn sie vorher befruchtet worden sind. Es wirkt hier die Wärme in demselben Sinne auf die Eizelle ein wie die Befruchtung. Wie wir schon mehrfach erwähnt haben, hat Calkins gezeigt, daß Temperatursteigerung wahrscheinlich imstande ist, den Depressionszustand der Pantoffeltierchen zu beheben, ihnen Teilungsfähigkeit und Lebensfähigkeit wiederzugeben, daß bei den Einzelligen Temperaturreize wohl in demselben Sinne wirksam sind wie die Kopulation. Wir sehen, alles verdichtet sich dahin, daß die Kopulation der Einzelligen und die Befruchtung der Geschlechtszellen in mancherlei Beziehung gleiche Dinge sind.
Die engen Beziehungen zwischen Kopulation und Befruchtung sind uns klar geworden, nachdem wir erkannt hatten, daß der Befruchtung im Leben der Eizelle in mancherlei Beziehung dieselbe Bedeutung zukommt, wie die Kopulation des Pantoffeltierchens, der Einzelligen: wie mit der Kopulation, so wird auch mit der Befruchtung einem Untergang der Zelle vorgebeugt. Es ist nun von großem Interesse, daß die engen Beziehungen zwischen Kopulation und Befruchtung auch schon allein durch das Studium der Fortpflanzungsformen mancher Arten in wunderschöner Weise aufgedeckt werden können. Vergleichen wir z. B. die Fortpflanzungsverhältnisse nur innerhalb der Gruppe der Braunalgen, so können wir hier eine ganz allmähliche Herausentwicklung der Befruchtung, die auf einer Vereinigung äußerlich ungleicher Zellen – der unbeweglichen Eizelle und der flinken Samenzelle – beruht, aus der Kopulation, die eine Vereinigung äußerlich gleicher Zellen ist, nachweisen.
Abb. 35. Schwärmsporenbildung bei der Braunalge Cladostephus verticillatus. A Zellfaden, oben eine noch geschlossene Zelle mit zahlreichen Schwärmsporen. B Entleerung der Schwärmsporen. A und B ca. 230 mal vergrößert. C eine einzelne Schwärmspore ca. 1600 mal vergrößert. (Nach Pringsheim, aus Straßburger, Lehrbuch der Botanik.) | Abb. 36. Verschmelzung von Schwärmsporen bei der Braunalge Ectocarpus siliculosus. Oben „Weibliche“ Schwärmspore, von vielen „männlichen“ Schwärmsporen umgeben. Unten allmähliche Verschmelzung einer weiblichen Schwärmspore mit einer männlichen. Vergrößert. (Nach Berthold, aus Straßburger.) |
Die Fortpflanzungszellen bei vielen Algen sind sogenannte Schwärmsporen, sehr kleine Zellen, die mit einer oder mehreren Rudergeißeln versehen sind. Die Schwärmsporen entstehen durch Teilung aus einer Mutterzelle, die sich statt in zwei in zahlreiche Zellen aufgeteilt hat (Abb. 35 A). Diese Zellen sind natürlich viel kleiner als die Zellen sonst. Die ganze Schar der kleinen Tochterzellen oder Schwärmsporen bleibt zunächst noch beisammen innerhalb der Zellwände der Mutterzelle, gleichsam in einem Bläschen (A). Dann platzt das Bläschen eines schönen Tages auf (B), die kleinen Zellen werden frei und schwärmen ins Wasser hinaus (C). Eben darum hat man sie Schwärmsporen genannt. Nach einiger Zeit setzen sich die Schwärmsporen auf einer Unterlage fest, wachsen heran, teilen sich und bilden schließlich eine junge Zellkolonie, einen neuen Algenstock. Bei manchen Algen kommt es vor, daß zwei Schwärmsporen, die äußerlich einander völlig gleichen, sich miteinander vereinigen, und zu einer Zelle verschmelzen. So, wie das bei der Kopulation der Einzelligen, wo die Zellen allerdings später wieder auseinander gehen, der Fall ist. Zunächst sind, wie gesagt, alle Schwärmsporen noch einander gleich. Aber eine Braunalge hat da schon einen Schritt zur Befruchtung gemacht: von den Schwärmsporen, die alle noch gleich aussehen, setzen sich manche schon frühzeitig auf einer Unterlage fest und werden von den andern beweglichen Schwärmsporen umschwärmt wie die Eizelle von den Samenzellen (Abb. 36,1), bis sich schließlich eine freibewegliche Schwärmspore mit einer festsitzenden vereinigt hat, mit ihr verschmolzen ist (5). Die festsitzende Schwärmspore ist das Urbild der weiblichen Eizelle, die bewegliche Schwärmspore das Urbild der männlichen Samenzelle. Bei einer andern Braunalge gibt es zweierlei Schwärmsporen, die schon äußerlich zu unterscheiden sind: große und kleine Schwärmsporen. Die großen setzen sich nach kurzem Schwärmen bald fest und werden von den kleinen umschwärmt. Bei einer dritten Braunalge sind die großen Schwärmsporen von vornherein unbeweglich. Sie sind hier schon richtige unbewegliche Eizellen, und die kleinen freibeweglichen Schwärmsporen sind richtige Samenzellen. So lassen sich schon innerhalb dieser einen Gruppe von Algen die Beziehungen der geschlechtlichen Fortpflanzung zur Kopulation in ziemlich lückenloser Weise aufzeigen.
Die Kopulation hatten wir kennen gelernt als einen Vorgang, der die Depression und den Tod des Pantoffeltierchens behebt. Als ein solcher Vorgang war uns schließlich auch die Befruchtung der Eizelle durch die Samenzelle erschienen: die Eizelle, als Zelle im Zellenstaat dem unerbittlichen Tode geweiht, wird durch die Samenzelle zu jugendfrischem Leben erweckt.