4. Tod und Unsterblichkeit.

Nun wissen wir, was eine Leiche ist: eine Zelle, deren Stoffwechsel irreparabel gestört und schließlich unwiderruflich erloschen ist.

Aber wir haben bisher nur die Leichen von Zellen gesehen, die wir getötet hatten. Stirbt die Zelle auch eines natürlichen Todes? Wir haben uns ja noch gar nicht darüber Rechenschaft abgegeben, ob es bei den Zellen einen natürlichen Tod gibt, einen Tod, der zum Leben der Zelle gehört.

Wenn wir diese Frage beantworten wollen, müssen wir den Lebensweg einer Zelle verfolgen, den Lebensweg eines freilebenden einzelligen Lebewesens.

Die einzelligen Lebewesen pflanzen sich durch Teilung fort. Eine Amöbe z. B., ein Protoplasmaklümpchen mit einem Kern darin, hat sich schlecht und recht durchs Leben gefressen, ist ausgewachsen und teilt sich nun einfach in zwei Teile auf. Man hat den Vorgang der Teilung bei der Amöbe und den vielen andern einzelligen Lebewesen sehr genau studiert, aber all das Viele, was man dabei gefunden hat, interessiert uns an dieser Stelle nicht. Wir wollen hier nur die Tatsache festhalten, daß im Lebenslauf des einzelligen Lebewesens einmal die große Stunde kommt, wo in der Zelle, nachdem sie herangewachsen ist, der Kern allerlei Veränderungen zeigt, die schließlich darauf hinausgehen, daß der Kern sich in zwei Teile teilt und gleichzeitig der ganze Protoplasmaleib der Zelle sich in die Länge zu strecken beginnt. Dann bekommt die Zelle eine Einschnürung in der Mitte, gleichsam als ob der Protoplasmaleib mit einer Schlinge zusammengeschnürt würde. Jederseits von der Einschnürung sehen wir eine der beiden Kernhälften liegen – und da hat jedermann schon den Eindruck, daß da zwei Amöben aus der einen entstanden sind. Nur noch durch eine schmale Verbindungsbrücke hängen sie miteinander zusammen. Schließlich reißt die schmale Brücke ein und zwei kleine Amöben gehen jede ihren eigenen Weg (Abb. 9). Alles in allem hat der Vorgang der Teilung wenige Minuten oder auch Stunden und sogar Tage gedauert – das ist bei den verschiedenen Einzelligen nicht gleich. Aus der „Mutterzelle“ sind zwei „Tochterzellen“ entstanden – zwei jüngere Amöben, die ganz der Mutter gleichen, nur kleiner sind als diese. Dann wachsen die Tochterzellen heran und jede von ihnen teilt sich wiederum in zwei Teile, in zwei Tochteramöben. Und das geht so fort – ins Unendliche …

Abb. 9. Amöbe in Teilung. Im Protoplasmaleib der Amöbe sieht man den dunkleren Kern und das pulsierende Bläschen (Vakuole). Man sieht die Scheinfüßchen der Amöbe. 1, 2, 3, 4, 5 und 6 verschiedene Stadien der Teilung. Erklärung siehe im Text. Nach F. E. Schultze.

Wirklich ins Unendliche? Wir werden bald sehen, wie wichtig diese Frage für uns ist.

Es ist zunächst nicht abzusehen, was schließlich der Teilung bei den Einzelligen einen Riegel vorschieben sollte. Warum sollte plötzlich, nachdem die Zelle sich fortlaufend vielmals geteilt, ein Moment eintreten, wo sie sich nicht mehr teilen könnte? Aber doch schien es auf Grund verschiedener Beobachtungen lange Zeit, daß die Teilungsfähigkeit der Einzelligen nicht unbegrenzt sei, daß nach einer bestimmten Anzahl von Teilungen die Teilungsfähigkeit der Einzelligen sich erschöpfte. Man hatte gefunden, daß nach einer bestimmten Anzahl von Generationen die Einzelligen aufhörten, sich zu teilen und zugrunde gingen, starben. Wir wollen von allen diesen Dingen später sprechen, wenn wir der ganzen Lebensgeschichte eines Pantoffeltierchens zuhören werden. Hier interessiert uns aus dieser Geschichte nur das eine oder das andere, was wir uns von einem fleißigen Amerikaner erzählen lassen wollen, der in den letzten Jahren den kleinen Pantoffeltierchen eine ganze Menge von ihrem Leben und Weben abgeguckt hat.

Woodruff, der besagte Amerikaner, hat nämlich mit aller Sicherheit festgestellt, daß die Teilungsfähigkeit der Einzelligen wirklich unbegrenzt ist. Woodruff fing sich aus einem Aquarium ein wildes Pantoffeltierchen heraus. Das Pantoffeltierchen hielt er in einigen Tropfen Wasser, das er zuvor mit Heu und Gras ausgekocht hatte. Das Pantoffeltierchen ist ja ein „Aufgußtierchen“, ein Infusor, das sich in einem Heuaufguß zu Hause fühlt, weil es in ihm all das an Nahrungsmitteln findet, was ihm sonst die freie Natur in Sumpf und Tümpel zu bieten weiß. Die paar Tropfen Wasser kamen in ein „Aquarium“, das nichts anderes war als eine Aushöhlung in einer Glasplatte und einige Tropfen Wasser zu fassen vermochte. Woodruff war um das Wohlergehen seines Pantoffeltierchens äußerst besorgt, und er ließ es nicht in den paar Tropfen Aufgußwasser versauern. Nachdem nämlich das wilde Pantoffeltierchen sich geteilt hatte (Abb. 10) – das geschieht bei einem Pantoffeltierchen ungefähr alle Tage einmal – brachte Woodruff eines der beiden Tochtertiere in frisch bereitetes Aquariumwasser. Sobald sich im Laufe des nächsten Tages der erste Nachkomme des wilden Pantoffeltierchens seinerseits auch geteilt hatte, wurde eines seiner beiden Tochtertiere wiederum in frisch bereitetes Aquariumwasser verbracht usf. Jede Teilung wurde notiert, und Woodruff konnte somit ganz genau wissen, zu welcher Generation ein Pantoffeltierchen gehörte, das er in seinem tropfengroßen Aquarium gerade vor sich hatte. So ein Zuchtversuch hat natürlich sehr viele Mühe gemacht. Aber die Mühe wurde reichlich belohnt durch all das viele, was das Pantoffeltierchen dabei von seinem Können gezeigt hat. Denn Woodruff ist es gelungen, seinen Zuchtversuch bis zur 3029. Generation fortzuführen! Fünf Jahre hat es gedauert, bis aus dem wilden Pantoffeltierchen der Ururur … 3029. Urenkel entstanden war, den Woodruff als das Ergebnis seiner vielen Mühe schließlich der Wissenschaft präsentieren konnte. Und, was wichtig ist, dieser Ururur-Enkel war genau so frisch und gesund, wie sein wilder Ururur-Ahne.

Abb. 10. Pantoffeltierchen in Teilung. m Mund, ps pulsierende Bläschen, ma Großkern, mi Kleinkern. Aus Stridde.

Von dem wilden Pantoffeltierchen-Ahnherrn stammte in 3029. Generation dieses Pantoffeltierchen ab. Aber dieser Sprößling eines so uralten Pantoffeltierchen-Geschlechts, dessen Urahne als ein wilder Raubritter doch wohl etwas zu bedeuten hatte, besaß keine … Ahnengalerie, keine Galerie der Toten seines Geschlechts. Woher auch? Aus dem wilden Pantoffeltierchen waren zwei Tochterzellen entstanden, aus jeder der beiden Tochterzellen wiederum zwei, aus jeder der so entstandenen vier Tochterzellen der zweiten Generation wiederum zwei Pantoffeltierchen, aus jeder der acht Pantoffeltierchen der dritten Generation waren wieder zwei Tochterzellen entstanden usf. bis zur 3029. Generation. Oder gar bis ins Unendliche – denn vielleicht präsentiert uns Woodruff nach einiger Zeit die 5000. Generation des wilden Pantoffeltierchen-Ahnherrn. Es hatte sich das Pantoffeltierchen bis ins 3029. Geschlecht fortgepflanzt, ohne daß es eine Leiche gegeben hatte, und wir dürfen mit gutem Recht annehmen, daß die Einzelligen sich bis ins Unendliche fortpflanzen können, ohne daß eine Leiche entsteht.

Die Leiche ist uns das Abbild des Todes. Und wenn bei den Einzelligen normalerweise keine Leichen vorkommen, so ist damit gesagt, daß es einen natürlichen Tod bei den Einzelligen nicht gibt. Was da bei den Einzelligen stirbt, das ist das Opfer eines Unglücks, von dem ein Pantoffeltierchen betroffen wird, das ist das Opfer ungünstiger Lebensumstände. Sind die Umstände günstig, so gibt es einen Tod im Reiche der Einzelligen nicht.

Übrigens: wer sollte normalerweise bei den Einzelligen sterben? Wer von den beiden völlig gleichen Tochterzellen? Der Elter, die Mutter sollte zuerst sterben – nicht wahr? Aber wer könnte sagen, welche der beiden Zellen Mutter und welche Tochter ist? „Stellen wir uns eine Amöbe mit Selbstbewußtsein vor“, sagt der jetzt achtzigjährige Altmeister der Zoologie Weismann, der als einer der ersten das große Problem des natürlichen Todes wissenschaftlich behandelt hat, sehr launig, „so würde sie bei ihrer Teilung denken: ‚ich schnüre eine Tochter von mir ab‘, und ich zweifle nicht, daß jede Hälfte die andere für die Tochter und sich selbst für das ursprüngliche Individuum (für die Mutter) ansehen würde“. Der Elter, die Mutterzelle, die neben den Tochterzellen vorhanden wäre, müßte zunächst sterben: hier aber geht die ganze Mutterzelle in den Tochterzellen auf …

Da haben wir Lebewesen vor uns, die nicht unbedingt zu sterben brauchen. Gehört somit der Tod nicht zum Leben?

Sofern wir unter Tod die Bildung einer Leiche verstehen, sind die Einzelligen – wenn ihnen die äußeren Umstände günstig sind – unsterblich. Denn im Verlauf des Entwicklungsganges dieser Zellen erfährt ihr Stoffwechsel, wie die Versuche von Woodruff uns mit aller Sicherheit gezeigt haben, unter günstigen äußeren Umständen niemals eine Störung, die zur Entstehung einer Leiche, d. h. zum Untergang der Zelle führen müßte. Und da jede einzelne Zelle schon all das darbietet, was Leben ist, da die Zelle die allgemeine Form der lebendigen Substanz ist, so dürfen wir jetzt sagen, daß der Tod in dem oben gefaßten Sinne der Leichenbildung nicht unbedingt zum Leben gehört. Der Tod aus Altersschwäche, wie er bei Mensch und Tier vorkommt, ist nur ein Spezialfall: die lebendige Substanz schlechtweg ist unsterblich.

Aber man muß sich hüten, diese Schlußfolgerung zu mißdeuten, wenn man nicht in arge Widersprüche hineingeraten will. Faßt man nämlich die Unsterblichkeit der lebendigen Substanz in einem weitern Sinne auf, im Sinne einer unveränderten Fortexistenz der Zelle – und das ist ja die geläufige Auffassung der „Unsterblichkeit“ –, so kommt man in Widerspruch mit allen unsern wissenschaftlichen Vorstellungen vom Leben. Leben ist Veränderung, und lebendige Substanz kann nicht sein ohne Veränderung. Alles Leben beruht auf dem Stoffwechsel der Zelle, auf bestimmten chemischen Wandlungen, auf Zerfall und Wiederaufbau der lebendigen Substanz: ein unverändertes Sein der Zelle ist ein Unding. Leben ohne Veränderung ist ein Widerspruch in sich selbst: denn Leben ohne Veränderung würde Stillstand des Lebens bedeuten. Ja, man kann so weit gehen und auch den Zerfall der lebendigen Substanz, wie er normalerweise andauernd im Stoffwechsel vor sich geht, als ein „Sterben“ auffassen und man kann dann mit Verworn sagen, daß ohne Sterben kein Leben vorhanden ist, daß alles Leben ein Sterben ist, „une destruction organique“, eine organische Zerstörung, wie der große Meister der Biologie Claude Bernard einst gesagt hat.

Die beiden Tochterzellen eines Pantoffeltierchens bestehen in Wahrheit gar nicht aus derselben lebendigen Substanz, aus der ihre Mutterzelle aufgebaut war, als sie als Tochterzelle einst ihr selbständiges Dasein begonnen hatte. Denn im Verlaufe ihres individuellen Lebens – von dem Augenblick ab, in dem sie sich als Tochterzelle abgeschnürt hatte, bis zu dem Augenblick, wo sie sich selbst wieder in zwei Tochterzellen aufgeteilt hat –, haben andauernd Veränderungen in ihrer lebendigen Substanz stattgefunden und kein Teilchen der Zelle war davon verschont geblieben. So existiert die lebendige Substanz der Mutterzelle nicht unverändert in den Tochterzellen fort und es gibt keine Unsterblichkeit im Sinne einer unveränderten Fortdauer der lebendigen Substanz.

Um den Mißdeutungen aus dem Wege zu gehen, die mit der Tatsache verknüpft werden können, daß die Einzelligen unsterblich sind, müssen wir also streng festhalten, was wir unter Unsterblichkeit verstehen. Unsterblichkeit bedeutet für uns nur, daß im normalen Entwicklungsgang einer Zelle keine Leiche entsteht. Die lebendige Substanz ist unsterblich nur soweit, als man unter Tod die Bildung einer Leiche versteht, einer Zelle, deren Stoffwechsel unwiderruflich erloschen ist.

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