5. Der sterbende Zellenstaat.

Eine Leiche war uns eine Zelle, deren Stoffwechsel unwiderruflich erloschen ist. Solange nur von einzelligen Lebewesen die Rede war, haben wir uns gut an diese Vorstellung einer Leiche halten können. Wenn wir nun aber auf den Tod der vielzelligen Lebewesen zu sprechen kommen – wie entsteht hier die Leiche?

Das vielzellige Tier ist ein Zellenstaat, und in diesem Zellenstaat gehen stets wieder und wieder Zellen zugrunde, die zum Teil vom Körper abgestoßen, abgeworfen werden. In allen Klassen des Tier- und Pflanzenreiches ist das der Fall. Die obersten Schichten unserer Haut z. B. sind abgestorbene verhornte Zellen, die mit der Zeit von unserer Haut losgelöst und abgestoßen werden, während an ihre Stelle von unten her jüngere Zellen vorrücken, und das Schicksal dieser Jungen ist ebenso besiegelt wie das ihrer Vorgänger (Abb. 11 u. 12). Auch unsere Haare und unsere Nägel sind zum großen Teil tote Zellen der Haut. Ebenso die Federn der Vögel. Und wenn die Vögel mausern, so werfen sie schon recht beträchtliche Mengen von toter Zellsubstanz ab, sie werfen Zelleichen ab. So tun es auch zahlreiche Gliederfüßler bei der Häutung. Dieses Sterben einzelner Zellen im Zellverband beginnt schon sehr frühzeitig, indem z. B. schon die Haut des Tieres im Mutterleibe eine Hornschicht und ein Haarkleid besitzt. Und schon im Mutterleibe werden abgestorbene Zellen der Hornschicht und der Haare abgestoßen. Auch von den Schleimhäuten des Mundes und des Darmes werden andauernd Zellen, und sogar intakte Zellen, aus dem Zellverbande gelockert, um dann dem Tode zu verfallen. Unsere roten Blutkörperchen, die roten Blutzellen, die im Laufe ihrer Entwicklung den Zellkern einbüßen und als kernlose Scheiben willenlos vom Blutstrom getragen werden, leben bloß vierzehn Tage, um dann zu zerfallen und als „altes Eisen“ – hier im buchstäblichen Sinne des Wortes – im Haushalt des Zellenstaates Verwendung zu finden. Rote Blutkörperchen, die um vierzehn Tage jünger sind, treten aus dem Knochenmarke, das die Bildungsstätte der roten Blutzellen in unserem Körper ist, an die Stelle ihrer toten Vorgänger. Auch in den Drüsen gehen ständig Zellen zugrunde. Die Geschlechtsdrüsen des Männchens geben periodisch Millionen von lebensfrischen Zellen ab, die winzig kleinen Samenzellen, die alle dem Untergange, dem Tode geweiht sind. Nur einigen wenigen dieser Millionen und Abermillionen von Zellen ist es beschieden, am Leben zu bleiben und in den Kindern fortzuleben. Auch beim Weibe findet periodisch eine Abstoßung von lebendigen Zellen statt, die dem Tode verfallen. Und bei den höheren Tieren ist die Geburt des Kindes damit verknüpft, daß ein Teil des mütterlichen Organismus, der Mutterkuchen, sich vom Körper loslöst und mit all seinen Zellen stirbt.

Abb. 11. Senkrechter Schnitt durch die Haut. Oben die Hornhaut (O), unten die Lederhaut aus Bindegewebe. In der Lederhaut und der Hornhaut der Ausführungsgang einer Schweißdrüse (S) und Blutgefäße (B). P die in die Oberhaut hineinragenden Papillen der Lederhaut. Z die Schicht der Zellen, die später verhornen und die Hornschicht bilden. Die einzelnen Zellen sind bei schwacher Vergrößerung nicht sichtbar. DS Übergangsschicht zwischen der Bildungsschicht der verhornenden Zellen und der eigentlichen Hornhaut. Schwach vergrößert. Nach Sigmund. Abb. 12. Ein Schnitt durch die Haut, stärker vergrößert. Man sieht in der Bildungsschicht der später verhornenden Zellen die einzelnen Zellen liegen, die sich später bis zur Unkenntlichkeit (in der Hornschicht) verändern. Bezeichnungen wie in Abb. 11. Nach Stöhr.

Wie bei den Tieren, so ist es auch bei den Pflanzen. Im Pflanzenkörper stirbt immer wieder und wieder ein Teil der Zellen, um als Bildungsmaterial für den Aufbau der vielzelligen Pflanze zu dienen. Da sind die verholzten Zellen, aus denen die vielgestaltigen Elemente der Leitung in der Pflanze aufgebaut sind, wo von den Zellen schließlich nur verholzte Wände zurückgeblieben sind, und auch diese durchlöchert und durchbrochen. Das Protoplasma dieser Zellen ist ganz geschwunden. Da sind die toten Zellen der Rinde, der Oberhaut der Blätter. Millionen von Zellen des Pflanzenkörpers gehen ferner während des Laubfalls zugrunde, und ihre vielen, vielen Leichen bestimmen das Bild unserer herbstlichen Landschaft. Millionen lebendiger Zellen der Pflanze werden der Liebe geopfert, wenn der Pollen der Blüte vom Winde erfaßt und in die Weite getragen wird – nur einige wenige Pollenkörner der, ach, so vielen gelangen auf die Narbe der weiblichen Blüte. Und auch die lebensfrischen und duftsprühenden Zellen der bunten Blütenpracht verfallen dem Tod.

Das Gespenst des Todes geht in uns und um uns …

Die toten Zellen der vielzelligen Pflanzen und Tiere – sie sind jede für sich eine Leiche, sie sind Zelleichen. Aber es wird doch niemandem einfallen zu behaupten, ein vielzelliger Organismus sei gestorben, weil ein Teil der Zellen, aus denen er besteht, abgestorben ist. Das wäre eine ganz unsinnige Behauptung. Denn diese toten Zellen gehören ja zum Teil mit zum Zellenstaat von Pflanze und Tier, ohne diese toten Zellen können Pflanze und Tier nicht leben. Die einzelnen Zelleichen schlechtweg machen also den Zellenstaat noch nicht zu einer Leiche. Aber doch, wie wir gleich sehen werden, es ist der Tod der Zellen, was den Zellenstaat zur Leiche macht.

Wenn der vielzellige Organismus aufhört zu leben, so wird sein Stoffwechsel stillgestanden sein. Nun ist das Leben des vielzelligen Organismus nichts anderes als das Leben, das Zusammenleben der Zellen, aus denen er aufgebaut ist. Der Stoffwechsel des vielzelligen Organismus beruht auf dem Stoffwechsel seiner Zellen. Und da ist es uns klar, daß Zellen gestorben sein müssen, wenn einmal der Zellenstaat zu leben aufhört. Aber wir wissen ja schon, daß nicht der Tod einer jeden Zellgruppe im Zellenstaat diesen zur Leiche macht. Bestimmte Zellgruppen vielmehr müssen gestorben sein, wenn der große Zellenstaat zu einer Leiche werden soll. Ja, noch mehr: schon wenn bestimmte Zellen im Zellenstaat nicht mehr so recht auf ihrem Posten sind, ohne tot zu sein, auch dann schon kann der Zellenstaat zugrunde gehen. Das muß aber noch näher erklärt werden.

Wir verstehen es wohl, daß dem Leben eines vielzelligen Tieres noch kein Ziel gesetzt ist, wenn das Tier z. B. Arme und Beine eingebüßt hat. Aber stellen wir uns vor, wir haben einem Versuchstier, z. B. einem Frosch, das Herz herausgeschnitten. Innerhalb eines kürzeren oder längeren Zeitraumes wird unser Versuchstier sterben. Die Zellen seines Gehirnes, seiner Muskeln, seiner Leber usw. werden nach Entfernung des Herzens keinen Sauerstoff mehr bekommen und sie werden ersticken. Ihr Stoffwechsel wird erlöschen, die Zellen werden Leichen sein. Und schließlich wird ein Zeitpunkt kommen, wo sämtliche Zellen des Zellenstaates, der der Frosch ist, tot sein werden. Wir sagen, jetzt ist das Versuchstier tot, jetzt ist es eine Leiche. Oder wir haben einem Versuchstier, z. B. einem Kaninchen, beide Nieren herausgeschnitten. Die Schlacken, die Abfallsprodukte des Stoffwechsels werden nun nicht aus dem Körper herausgeschafft werden können, sie werden sich in dem Blute und in den Zellen des Tieres anhäufen: und die Zellen werden sterben – die einen früher, die andern später, bis schließlich alle Zellen des Zellenstaates tot sein werden. Oder in Krankheiten, wo bestimmte Zellen und Organe in ihrer Tätigkeit erlahmen, z. B. bei Erkrankungen des Herzens. Das Herz tut seine Arbeit nicht mehr wie sonst, weil die Herzmuskelzellen erkrankt und geschwächt sind. Die Zellen des ganzen Zellenstaates werden dabei in Mitleidenschaft gezogen, sie bekommen zu wenig Nährstoffe, vor allem zu wenig Sauerstoff, und die Stoffwechselprodukte werden aus den Zellen nicht gründlich genug herausgewaschen. Schließlich hört die geregelte Arbeit des Herzens ganz auf, und es beginnt ein schnelles Sterben aller Zellen des Zellenstaates. Oder die Nieren sind erkrankt, sie tun ihre Arbeit nicht mehr so recht, ohne daß die tätigen Drüsenzellen der Niere ganz ihre Arbeit eingestellt hätten, ohne daß sie tot wären. Und alle Zellen des Körpers werden unter der schlechten Arbeit der Nierenzellen zu leiden haben, und es wird die Stunde kommen, wo die Zellen des Herzens oder die Zellen des Gehirnes versagen werden. Sie werden sterben – und es beginnt das große Sterben der Zellen im Zellenstaat.

Genau so ist es bei der Pflanze. Büßt die Pflanze ihre Wurzeln ein, so werden nach kürzerer oder längerer Zeit alle lebendigen Zellen des pflanzlichen Zellenstaates sterben. Die Pflanze wird tot sein. Oder wir schneiden mit Hilfe eines scharfen Instruments aus dem Stamm einer Pflanze dicht oberhalb der Wurzel ein auch nur ganz kleines Stück des Holzteiles heraus: nun wird die Zuleitung der Nährstoffe zu den Zellen der Pflanze ins Stocken geraten – genau so, wie wenn wir einem Versuchstier das Herz herausgeschnitten haben. Die Zellen der Pflanze werden abzusterben beginnen, bis schließlich alle Zellen des großen Zellenstaates der Pflanze tot sein werden. Jetzt wird die Pflanze eine Leiche sein.

Alles in allem: der vielzellige Organismus stirbt, wenn bestimmte Zellen im Zellenstaat in ihrer gewohnten Tätigkeit versagen und damit den normalen Ablauf des Stoffwechsels in allen anderen Zellen des Zellenstaates stören. Aber nicht alle Zellen des Zellenstaates sterben zu gleicher Zeit. Wie der Tod über das sterbende kernlose Teilstück einer Zelle „hinkriecht“, um mit Verworn zu sprechen, so kriecht er auch über die einzelnen Zellen des Zellenstaates ganz allmählich hin. Gleichgültig, was den Tod des vielzelligen Organismus unmittelbar bedingt hat: stets sterben die einen Zellen früher, die andern später, bis schließlich der ganze Zellenstaat eine Leiche ist …

Und wenn wir wissen wollen, warum wir sterben? Warum wir alt werden und schließlich eine Leiche sind? Welch einen Weg müssen wir gehen, wenn wir hier Antwort haben wollen?

Wir müssen vor allen Dingen die Veränderungen studieren, die die Zellen des vielzelligen Organismus im Laufe des Lebens erfahren, im Laufe des Lebens, das sich zum Tode entwickelt.

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