7. Wie wir sterben.

Nun wissen wir, was das Altenteil der Zellen im Zellenstaat ist.

Aber was gewinnen wir für das Verständnis des natürlichen Todes, das wir suchen, wenn wir nun wissen, daß die Zellen im Zellenstaat einen Altersschwund erfahren? Wir waren im fünften Kapitel dahin gelangt, daß der vielzellige Organismus stirbt, wenn bestimmte Zellen, die für den normalen Ablauf des Stoffwechsels im Zellenstaat von Bedeutung sind, in ihrer Tätigkeit versagen. Weisen uns nun die Veränderungen der Zellen im alternden Zellenstaat, die wir festgestellt haben, darauf hin, welche Zellen im Körper am ehesten versagen und das Sterben des Zellenstaates einleiten? Nein. Wir haben bloß gesehen, daß sämtliche Zellen des Zellenstaates einen Altersschwund erleiden. Wir wollen aber doch wissen, warum mehr oder weniger plötzlich der Zeitpunkt kommt, wo ein schnelles Hinsterben aller Zellen des Zellenstaates beginnt. Darüber sagt uns das, was wir über den Altersschwund der Zellen im Zellenstaat und über die Abnahme ihres Stoffwechsels erfahren haben, noch nichts aus. Wollen wir hier Aufschluß gewinnen, so müssen wir einen anderen Weg einschlagen. Wir dürfen uns dann nicht darauf beschränken, bloß die Organe von Leuten, die an Altersschwäche verstorben sind, zu untersuchen. Wir müssen hier zusehen, wie man stirbt.

Um uns das Suchen zu erleichtern, wollen wir zunächst zusehen, wie man an einer Krankheit stirbt, wie der Tod durch Krankheit zustandekommt.

Wer wollte sich aber im freudigen Jubel des Lebens in die Zahlen versenken, welche statistische Ämter und Krankenhäuser ermittelt haben und aus denen herauszulesen ist, woran und wie die Menschen sterben! Und mancher von denen, die diese Zeilen zu Gesicht bekommen, nimmt's mir gar übel, daß ich nun dran gehen will, all die trüben Bilder des Todes hervorzuzaubern. Es mag ja dahingehen, daß man vom Sterben eines Pantoffeltierchens spricht und wohl auch vom Tode des Menschen aus Altersschwäche. Aber vom Tod aus Krankheit, vom Tode, der uns der kalte Schrecken ist! Und da möchte ich Nothnagel zu Worte kommen lassen, der kurz vor seinem eigenen Tode in einem Vortrag eine lichtvolle Darstellung vom Sterben gegeben hat: „Es ist ein Wagnis, wenn ich es unternehme, nicht, wie sonst üblich, holde Gebilde der Kunst und Dichtung oder ergreifende Darstellungen aus dem Menschenleben und der Geschichte oder hoheitgeschmückte lichte Fragen der Wissenschaft, sondern ein so nachtgeborenes Problem, wie das Sterben ist, vor Ihr geistiges Auge zu führen. Den Mut dazu gibt mir die Erwägung, daß der elementaren Gewalt dieses Problems kein Denkender sich entziehen kann. Handelt es sich doch um eine unentrinnbare Frage, die jeden, ohne Ausnahme, persönlichst angeht. Wir mögen sie gleichgültig oder leichtsinnig, mutig oder ergeben, angstvoll oder gar freudig, mit der Ruhe des Philosophen oder der Wißbegierde des Forschers aufnehmen, aber erinnert werden wir auf diesem oder auf jenem Wege doch irgend einmal an sie. Dem ernsten Menschen aber geziemt es, einem Vorgange, der alles Lebendige der Vernichtung zuführt, eine eindringliche und vertiefte Aufmerksamkeit zuzuwenden.“

Und so nehmen wir uns denn den Mut, auch über den Tod durch Krankheit zu sprechen …

Wenn wir uns die Todesstatistiken ansehen, so finden wir in ihnen sehr zahlreiche „Todesursachen“ verzeichnet. Das offizielle Verzeichnis der Todesursachen, das die obersten Medizinalbehörden in den einzelnen deutschen Bundesstaaten den Ärzten zur Anwendung empfohlen haben, enthält über 175 verschiedene Nummern. Und schon das „kurze Verzeichnis“, das das kaiserliche Gesundheitsamt für die Todesstatistik benutzt, zählt 23 Todesursachen auf. Da sterben die Menschen an Infektionskrankheiten, wie Tuberkulose, Typhus, Scharlach, Diphtherie, Masern, Rose, Lungenentzündung und Influenza, an Pocken, Ruhr, Genickstarre, an Keuchhusten usw. Die andern erliegen Verdauungskrankheiten, Krankheiten des Herzens, der Lungen, der Nieren, der Leber, des Nervensystems. Und andere wieder sterben an Krebs, fallen als Opfer auf dem Schlachtfeld der Arbeit in Fabrik oder Bergwerk, werden das Opfer eines Unfalls, eines Mordes, sterben an Gift. Und was der Schrecken noch mehr!

So ergibt sich zunächst eine ganz außerordentliche Mannigfaltigkeit von „Todesursachen“. Bei näherem Zusehen erweist es sich jedoch, daß das Sterben der Menschen viel einheitlicher gestaltet ist. Nehmen wir z. B. den Fall, daß ein Mensch an Lungenentzündung gestorben ist. Auf den ersten Blick scheint kein Zweifel vorhanden, daß eine Erkrankung der Lungen den Tod unseres Patienten verschuldet hat. Die erkrankten Lungen können die Atmung nicht mehr so gut besorgen. Die Zellen des Körpers bekommen nun nicht genug Sauerstoff zugeführt, und die Kohlensäure wird aus ihnen nicht prompt genug herausgeschwemmt. Vor allem wird das die Nervenzellen treffen, die gegenüber Sauerstoffmangel außerordentlich empfindlich sind. Die Sinne des Kranken umnebeln sich, und schließlich wird unser Patient bewußtlos. Aber noch steht die Atmung nicht ganz still und das Herz tut noch seine Arbeit. Doch auch das Herz beginnt schließlich zu erlahmen. Denn die Herzmuskelzellen können nur dann tüchtig Arbeit leisten, wenn sie genug Sauerstoff mit dem Blute zugeführt bekommen und wenn sie nicht mit Stoffwechselprodukten überladen bleiben. Normalerweise bringen besondere Blutgefäße den Herzmuskelzellen das allerfrischeste Blut im Körper. Nun, wo die Atmung mangelhaft geworden ist, wo die Lungen nicht mehr genug Sauerstoff ins Blut hineinbringen, wird natürlich auch die Sauerstoffzufuhr zu den Herzmuskelzellen mangelhaft – die Schlagfolge des Herzens beginnt unregelmäßig zu werden und schließlich steht das Herz still, obgleich die Atmung unseres Patienten noch nicht ganz aufgehört hatte. Für das Herz aber war die mangelhafte Sauerstoffzufuhr so ungenügend, daß es seine Arbeit nicht mehr tun konnte. Unser Patient ist tot. Wir sagen, er sei an Lungenentzündung gestorben. Das ist insofern richtig, als die Lungenentzündung ihn krank gemacht hatte. Aber von allen Organen hat doch das Herz zuerst versagt, und der Stillstand des Herzens hat das Sterben der Zellen im Zellenstaat eingeleitet.

Ein anderes Beispiel. Ein Kind ist an Diphtherie erkrankt. Die Entzündung des Kehlkopfes ruft Atemnot hervor. Das Kind „erstickt“, wenn der Arzt nicht rechtzeitig dazukommt, um den rettenden Luftröhrenschnitt auszuführen: der Stillstand des Herzens, der bei Sauerstoffmangel eintritt, auch wenn die Atmung noch einigermaßen anhält, hat das Schicksal des Kindes besiegelt. Und noch mehr: es kommt vor, daß ein diphtheriekrankes Kind stirbt, bevor es noch überhaupt zu Atemnot gekommen war. Das Herz war stillgestanden. Die Stoffe, welche die Diphtheriebazillen ins Blut ausscheiden, haben das Herz vergiftet. Auch bei Typhus, Influenza, Scharlach und andern Infektionskrankheiten sieht man infolge der Bakteriengiftwirkung in gleicher Weise das Herz erlahmen, während die Veränderungen in den andern Organen bei allen diesen Krankheiten so verschieden sind.

Ein Patient geht an einer Erkrankung der Niere zugrunde. Sein Körper ist mit Stoffen überschwemmt, die normalerweise in den Stoffhaushalt seines Organismus nicht hineingehören. Der Kranke liegt bewußtlos da. Aber solange das Herz noch arbeitet, ist noch nicht alle Hoffnung geschwunden. Doch die Stoffe, die aus den kranken Nieren in das Blut gelangen, wirken auch auf das Herz, und das Herz ist im Laufe der Zeit, wo die Nieren krank sind, geschwächt worden. Schließlich versagt das Herz, das Herz steht still. Der Kranke stirbt. Das Herz hat sein Machtwort gesprochen.

Der Arzt kennt diese Tatsachen, und das erste, worüber er sich bei einem Patienten zu vergewissern sucht, den man seiner Kunst anvertraut hat, ist der Zustand des Herzens. Je kräftiger, je widerstandsfähiger das Herz, desto geringer die Todesgefahr.

So können wir mit Nothnagel sagen: „Der Mensch stirbt fast immer vom Herzen aus. So lange dieses in der Brust sich zusammenzieht, und sei es noch so schwach, noch so mühsam, so lange lebt der Mensch – der letzte Herzschlag, und erst dann ist alles unwiederbringlich zu Ende.“

Die Frage, wie man stirbt, hatte für uns Interesse, weil wir wissen wollten, welche Zellen im Zellenstaat zuerst versagen und das Sterben aller Zellen im Zellenstaat einleiten. Da ist es nach dem, was wir eben erfahren, wohl plausibel, daß die Herzmuskelzellen die Künder des Todes im Zellenstaat sind. Wo das Herz stillsteht, da sind die Zellen des ganzen Zellenstaates ohne Sauerstoff – da hat der Zellenstaat ausgelebt. Das ist uns klar.

Gut, das Herz steht still, und die Zellen im Zellenstaat beginnen zu sterben. Aber die Herzmuskelzellen sind noch nicht tot, wenn das Herz zu schlagen aufhört. Daß dem so ist, haben in schöner Weise Versuche gezeigt, die vor mehr als zehn Jahren der russische Physiologe Kuljabko ausgeführt hat. Kuljabko hat nämlich den erfolgreichen Versuch gemacht, das Herz eines toten Menschen wieder zu beleben. Auf den ersten Blick direkt Zauberei. Im Laboratorium aber hat sich die Zauberei in folgender Weise abgespielt. Kuljabko ließ sich aus einem Kinderkrankenhause in Petersburg nach der Leichenschau von Kindern, die an verschiedenen Krankheiten gestorben waren, die Herzen in sein Laboratorium bringen. Hier band er ein Glasröhrchen ins Herz und pumpte mit Hilfe eines automatischen Pumpapparates eine geeignet zusammengesetzte Salzlösung durchs Herz. Die Salzlösung hatte er vorher auf Körpertemperatur erwärmt und gut mit Sauerstoff durchlüftet. Launig ist es dabei zu hören, wie es Kuljabko beim ersten Versuch ergangen war. Nachdem er nämlich das Herz etwa eine Viertelstunde mit der Salzlösung durchspült hatte, war das Herz noch so leblos wie zuvor. Kuljabko wollte den Versuch eben abbrechen, weil er sich dachte, die Sache sei nun abgemacht, mit der Wiederbelebung eines Herzens aus der Brust des toten Menschen ginge es nicht. Da wurde er zufällig ins Nebenzimmer gerufen und ließ seinen Pumpapparat mit dem Herzen einstweilen noch stehen. Als er nach fünf Minuten zu seinem Pumpapparat zurückgekehrt war – da schlug das Herz! Das Herz des toten Kindes hatte wieder zu schlagen angefangen, nachdem es kaum eine halbe Stunde mit warmer und sauerstoffhaltiger Salzlösung durchspült worden war – beinahe vierundzwanzig Stunden nach dem Tode des Kindes. Kuljabko hat zehn solcher Versuche ausgeführt an den Herzen von Kindern, die an Lungenentzündung, Diphtherie, Genickstarre und Darmkrankheiten gestorben waren. In drei Fällen gelang die Wiederbelebung nicht, während sieben andere Versuche von Erfolg gekrönt waren. Gewöhnlich begannen nur einzelne Teile, nicht das ganze Herz wieder zu schlagen. Aber in einem Falle war die Wiederbelebung des Herzens vollständig gelungen: das Herz schlug regelrecht, genau so gut wie das Herz im lebendigen Körper. Siebzig bis achtzig Mal in der Sekunde schlug das Herz, und so ging es mehr als eine Stunde lang. Dann wurde der Herzschlag schwächer, und als am nächsten Tage der Versuch mit diesem Herzen wiederholt wurde, da war es für immer tot. Kuljabko hat seine Wiederbelebungsversuche auch an Kaninchenherzen ausgeführt und es gelang ihm, das Herz eines Kaninchens wieder zu beleben, das schon vor sieben Tagen verstorben war! Im Mittelalter wären Kuljabko als einem Hexenmeister reinsten Wassers Scheiterhaufen und Folterkammer sicher gewesen, wie ein bekannter Physiologe einmal gescherzt hat. Heutzutage ist es ihm besser ergangen.

Nun kann es sich aber in den Versuchen von Kuljabko nicht um eine Wiederbelebung von toten Zellen handeln. Eine Zelleiche kann nicht zum Leben erweckt werden: was zum Leben erweckt werden kann, ist noch nicht tot! In den Versuchen von Kuljabko war somit nur das allmähliche Sterben der Herzmuskelzellen, der Tod in seinem Hinkriechen über die Herzmuskelzellen aufgehalten, und der Tod war hier durch die Kunst des Physiologen ein gut Stück Weges zurückgeworfen.

Was wir aus den Versuchen von Kuljabko also lernen, das ist: daß die Herzmuskelzellen noch gar nicht tot zu sein brauchen, wenn das Herz stillsteht. An dieser Tatsache kann nach den Versuchen von Kuljabko nicht mehr gezweifelt werden. Aber warum steht denn das Herz still, wenn die Herzmuskelzellen noch nicht tot sind? Nun, die Herzmuskelzellen sind durch die Krankheit geschädigt: giftige Stoffe, die im Blute des Patienten kreisen, haben sie getroffen, oder Sauerstoffmangel, wie z. B. bei der Lungenentzündung, hat sich eingestellt, und die Herzmuskelzellen, die für ihre rastlose Arbeit der ununterbrochenen und reichlichen Sauerstoffzufuhr so sehr bedürfen, können jetzt ihre Arbeit nicht mehr so tun, wie es sich normalerweise gehört. Ein regelrechtes Zusammenarbeiten der Herzmuskelzellen, auf dem der Herzschlag beruht, ist jetzt nicht mehr möglich und das Herz steht still. Nun führen wir aber, wie in den Versuchen von Kuljabko, den Herzmuskelzellen genug Sauerstoff zu und spülen aus ihnen die Schlacken heraus, die sich in jeder schlechtatmenden Zelle zu einem Berge anhäufen. Auch die Gifte, mit denen die Herzmuskelzellen in der Krankheit überschwemmt worden sind, werden dabei mit entfernt. Die Herzmuskelzellen arbeiten jetzt wieder besser und der Herzschlag kommt wieder zustande.

Kuljabkos Versuche haben uns gezeigt, daß ein Herzstillstand und damit das schnelle Hinsterben aller Zellen im Zellenstaat schon eintreten kann, wenn die Herzmuskelzellen noch nicht tot sind, sondern nur erst eine Störung in ihrem Stoffwechsel durch Sauerstoffmangel oder durch Gifte erfahren haben. Aber wir kennen auch Fälle, wo die Herzmuskelzellen vollkommen gesund sind, und doch das Herz plötzlich seinen Dienst versagt und stillsteht. Das kommt zuweilen nach heftigen Gemütsbewegungen vor, nach einem heftigen Schlag auf den Kopf, nach starken Erschütterungen, denen der Körper ausgesetzt war. Für den Arzt ist hier der Zusammenhang zwischen der Schädigung des Gehirns und dem Herzstillstand ohne weiteres klar. Vom Gehirn geht nämlich ein Nerv seinen weiten Weg zum Herzen herunter – „Wandernerv“ nennen ihn die Ärzte. So hat das Gehirn die Herrschaft auch über das Herz. Das Gehirn tut bei der Herzarbeit mit, unter seinem strengen Regiment tun all die vielen Herzmuskelzellen ihre gewohnte Arbeit. Und wenn es einmal eine Störung gibt in denjenigen Nervenzellen des Gehirnes – sie sind im „verlängerten Mark“, in dem Verbindungsstück zwischen Gehirn und Rückenmark gelegen –, die der Herzarbeit vorstehen, dann kann die ganze geregelte Herzarbeit mit einem Male in die Brüche gehen. Ein über alle Maßen heftiger Impuls vom Gehirn, dessen Zellen durch eine starke Gemütsbewegung oder durch einen schweren Schlag sehr stark erregt worden sind, geht durch den Wandernerv zu den Herzmuskelzellen – und das hat sie aus Rand und Band gebracht. Die einzelnen Herzmuskelzellen aber können dabei ganz wohlauf sein: nur ihr Zusammenarbeiten geht dabei verloren. Namentlich machen sich solche Störungen, die vom Gehirn ausgehen, dann geltend, wenn auch die Herzmuskelzellen irgendwie geschädigt sind, z. B. bei allerlei Herzkrankheiten. Darum ist es so wichtig, daß ein Herzkranker keinen heftigen gemütlichen Erregungen – gleich, ob großer Freude oder großer Trauer – ausgesetzt wird: sein Herz kann unter Umständen stillstehen, die für ein gesundes Herz belanglos sind.

Der langen Rede kurzer Sinn aber ist folgender: Wie mannigfaltig auch die Krankheiten sind, die uns treffen, wir sterben alle so, daß das Herz infolge von Veränderungen in den Herzmuskelzellen oder infolge von Störungen in den Nervenzellen, die der Herzarbeit vorstehen, seinen Dienst im Zellenstaat versagt. Herzmuskelzellen und Nervenzellen brauchen dabei noch nicht tot zu sein: schon allerlei Schädigungen, die ihr Stoffwechsel erfährt und die eine geregelte Arbeit der Herzmuskelzellen unmöglich machen, können einen Stillstand des Herzens veranlassen. Und ist der Stillstand des Herzens da, so beginnen alle Zellen des Zellenstaates, eine Zellgruppe nach der andern, zu sterben.

Zu allererst sterben im Zellenstaat die Nervenzellen, die gegen Sauerstoffmangel sehr empfindlich sind. Andere Zellgruppen können noch recht lange am Leben bleiben. Daß die Herzmuskelzellen viele Stunden lang nach dem Eintritt des Herzstillstandes, viele Stunden, nachdem der Körper schon eine reglose Leiche geworden, noch am Leben sind, davon haben wir schon gehört. Es ist auch bekannt, daß die einzelnen Muskeln des Skeletts und andere Zellgruppen in unserem Körper noch viele Stunden nach dem Eintritt des Herzstillstandes und nach dem Tode der Nervenzellen am Leben bleiben. Erst nach Ablauf mehrerer Tage ist der letzte Funken des Lebens im großen Zellenstaat erloschen …

So nimmt Gevatter Tod Besitz von uns, wenn er durch Krankheiten, die seine Späher und Häscher sind, sein Kommen uns kündet.

Nach vielem hin und her im Suchen und Forschen sind wir dahin gekommen, daß wir nun wissen, wie der Tod nach Krankheit über den Zellenstaat hinkriecht. Aber was wir eigentlich herausbekommen wollten, war doch etwas anderes: wie der Tod aus Altersschwäche von uns Besitz ergreift, wie wir aus Altersschwäche sterben. Das wollten wir wissen. Vom Tod durch Krankheit haben wir nur gesprochen, weil wir uns das Suchen leichter machen wollten. Und wirklich, das Suchen ist uns jetzt leicht gemacht: Unsere Aufmerksamkeit ist nun von vornherein auf zwei Zellgruppen im Zellenstaat gerichtet, die wir fest ins Auge fassen müssen – auf die Herzmuskelzellen und auf die Nervenzellen. Diese Zellgruppen hatten wir erkannt als die Künder des Todes im kranken Zellenstaat. Vielleicht sind sie es auch im alternden Zellenstaat. Sehen wir zu.

Wir haben schon früher erfahren, daß alle Organe im alternden Zellenstaat kleiner werden, und daß dieses Kleinerwerden der Organe auf einem Altersschwund der Zellen beruht. Was die Zellen im Alter leisten, ist nicht mehr das, was in jüngern Jahren ihre Arbeit war. Wir haben gehört, daß der Stoffwechsel der Zellen im alternden Zellenstaat eine ganz bedeutende Abnahme erfährt. Und da können wir uns wohl denken, daß die herabgesetzte Leistungsfähigkeit der Herzmuskelzellen schließlich zu einem Stillstand des Herzens führt: das Zusammenarbeiten der Herzmuskelzellen klappt nicht mehr und das Herz versagt. Um so mehr, als die Blutröhren, durch die das Herz das Blut zu treiben hat, nicht mehr so elastisch sind wie früher und dem schwachen, gealterten Herzen sogar noch mehr Arbeit zumuten als in jungen Tagen.

Und was noch hinzukommt: auch das Gehirn hat einen Altersschwund erfahren. Ja, wie Ribbert, dem wir eine geistvolle Studie über den Tod verdanken, darauf hingewiesen hat, unterliegt es gar keinem Zweifel, daß beim Sterben aus Altersschwäche die Veränderungen und Störungen im Gehirn und damit auch in denjenigen Nervenzellen, die der Atmung und der Herzarbeit vorstehen, noch mehr in die Wagschale fallen, als die Veränderungen in den Herzmuskelzellen selber.

Das Herz tut seinen Dienst bis ins hohe Alter hinein – rastlos und unermüdlich, wenn es auch nicht mehr so auf dem Posten ist wie einst im Mai. Dagegen machen sich im Denken des alternden Menschen stets Veränderungen geltend, die darauf hindeuten, daß die Störungen in den Nervenzellen sehr beträchtlich sind. Das reife Alter ist uns gekennzeichnet durch die große Erfahrung und die viele Kritik im Denken, die uns in allen Fragen des Lebens zugutekommt. Im Greisenalter aber versagt der Mensch in diesen beiden Dingen. Das Gedächtnis des Greises läßt nach, neuen Dingen wird er unzugänglich, gleichgültig ist er gegen die Umgebung. Und er wird unlogisch, einseitig, „egoistisch“, wie man zu sagen pflegt, – es kommt die Zeit, wo nicht nur die Jugend, sondern auch der reife Mann in Konflikt gerät mit dem Greis. Mißtrauisch, launenhaft ist der Greis: weil alles, was die Jugend erfüllt, nicht mehr ist für den Greis, weil er nicht mithalten kann mit der Jugend. Alles in allem: die Intelligenz des Greises läßt nach, läßt allmählich nach, gleichsam, als ob er leise schmollend, weil er nicht mehr mitkann, hinter den anderen zurückbliebe, über die er sich früher erhaben gedünkt, erhaben gewesen, weil er ihnen früher mit großer Erfahrung voraus war. Dem, was uns die alltägliche Beobachtung über die Intelligenz der Greise lehrt, entsprechen vollkommen die Veränderungen, die man bei einer Untersuchung der Gehirne von Leuten findet, die in sehr hohem Alter gestorben sind. Man kann sagen, daß in keinem andern Organ die Altersveränderungen so weitgehend, so eingreifend sind, wie im Gehirn. Die Altersveränderungen im Gehirn, die man mit bloßem Auge sehen kann, haben wir schon früher erwähnt, und wir werden in einem späteren Kapitel noch die mikroskopisch sichtbaren Veränderungen kennen lernen, die die Nervenzellen im gealterten Zellenstaat aufweisen.

Die Abnahme der geistigen Fähigkeiten, die für das Greisenalter charakteristisch ist, kann nun natürlich nicht daran schuld sein, daß mehr oder weniger plötzlich ein Zeitpunkt kommt, wo das schnelle Sterben der Zellen im Zellenstaat beginnt. Bei manchen von Geburt mißbildeten Menschen, wie z. B. bei den sogenannten Mikrokephalen, d. h. den Kleinköpfen, ist die Großhirnrinde von vornherein so mangelhaft entwickelt, daß im Seelenleben dieser Menschen all das fehlt, was uns im großen Ganzen einen Menschen „Mensch“ sein läßt. Und trotzdem können solche „Menschen“ ein hohes Alter erreichen. Anderseits können Tiere, denen man das ganze Großhirn wegschneidet, trotz der sehr weitgehenden Störungen in ihrem ganzen Verhalten doch noch recht lange, sogar jahrelang leben. Aber der Tod droht von anderswo im Gehirn. Und da müssen wir zunächst von einem Tierversuch erzählen. Wird nämlich jener Teil des Gehirnes verletzt, in dem die Nervenzellen gelegen sind, die der Atmung vorstehen, so tritt sofort der Tod des Tieres ein. Wenn man z. B. einem jungen Hunde oder einem Kaninchen den Kopf stark nach vorne neigt und ihm dann mit einem hohlen Metallröhrchen, dessen unterer Rand scharf geschliffen ist, in den Nacken sticht, tief und sicher genug, um das verlängerte Mark zu treffen, so steht die Atmung des Tieres momentan still. Kein Muskel von all denen, die bei den Atembewegungen mittun, regt sich mehr, das Tier ist momentan ohne alle Qual tot, ohne daß es auch nur die geringste Bewegung gemacht hat. Wie war das möglich? Einfach so, daß wir mit dem hohlen Metallröhrchen eine Gruppe von Nervenzellen im verlängerten Mark, die den Atembewegungen vorstehen und sie regulieren, aus dem verlängerten Mark direkt herausgeschnitten haben. Der Franzose Flourens, der in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts alle diese Dinge fleißig studiert und die Überzeugung der Gelehrten von der großen Bedeutung dieser Gruppe von Nervenzellen für das Zustandekommen der geregelten Atembewegungen endgültig gefestigt hat, hat diese Zellgruppe schlecht und recht den „Lebensknoten“ genannt.

Nun müssen wir festhalten, daß natürlich nicht nur diejenigen Nervenzellen einen Altersschwund erfahren werden, die das Denken vermitteln. Auch diejenigen Nervenzellen, die der Atmung vorstehen und die Atembewegungen regulieren, werden im Alter arg mitgenommen sein. Und wenn die Störungen in dem fein abgestuften Mechanismus des Zusammenarbeitens dieser Nervenzellen weit genug fortgeschritten sind, dann geht dieser Mechanismus in die Brüche. Dann steht die Atmung plötzlich still und man ist tot. Man hat ausgehaucht – im wahrsten Sinne des Wortes.

Und auch noch das ist möglich: daß einmal die Nervenzellen versagen, die die Herzarbeit regulieren. Das alte Herz klappt dann zusammen. Wiederum – man hat ausgelebt.

So kommen wir nach all den vielen Dingen, die wir vom Sterben aus Altersschwäche erfahren haben, dahin, daß die Künder des Todes hier die Nervenzellen sind. Störungen in dem Mechanismus der Arbeit der Nervenzellen sind es, die das schnelle Sterben der gealterten Zellen im Zellenstaat einleiten.

Aber wir dürfen doch nicht sagen, der Tod aus Altersschwäche trete ein, weil bestimmte Zellen des Gehirnes einen Altersschwund erfahren haben. Das allein wäre falsch. Die Veränderungen, die die alternden Nervenzellen erfahren haben, sind nur ein Teil von all den Altersveränderungen, die sich im ganzen Zellenstaat abgespielt haben: alle andern Zellen im Zellenstaat sind auch gealtert. Und alle Zellen im Zellenstaat sind aufeinander angewiesen. Wenn z. B. die Nervenzellen, auf deren Mitarbeit die Herzmuskelzellen angewiesen sind, ihre Dienste nicht mehr tun, wie einst im Mai, dann zahlen sie dem Herzmuskel nur mit gleicher Münze heim. Denn die Nervenzellen sind, namentlich dann, wenn es schon just vor dem Ende war, vom alten Herzen aus arg mitgenommen worden, weil sie nun nicht mehr soviel Blut zugeführt bekommen konnten, wie es früher der Fall gewesen. Das rächt sich nun am Herzen – und so geht das hin und her im alternden Zellenstaat. Und auch alle andern Zellen im Zellenstaat tun nur mangelhaft ihre Arbeit. Die Leber und die Nieren, die für das Herausschaffen der Schlacken im Körper zu sorgen haben, sind im Rückstand, die Drüsen, die allerlei Stoffe ans Blut abzugeben haben, lassen auf sich warten. Und schließlich ist die Stunde da, wo die Nervenzellen, die der Atmung und dem Herzen vorstehen, versagen, und dann beginnt das schnelle Hinsterben der Zellen im Zellenstaat.

Es ist also mit dem Sterben aus Altersschwäche so bestellt, daß im Verlauf der vielen Störungen in den Zellen alle Zellen im Zellenstaat einander die Grube graben – und fallen alle selbst herein.

Nun wissen wir, wie der Tod aus Altersschwäche kommt. Aber warum er kommt? Darauf hinaus wollten wir ja: zu wissen, warum wir alt werden und sterben.

Aber alles „warum“ in der Wissenschaft ist stets nur ein anderes „wie“: wenn wir wissen wollen, warum wir sterben, müssen wir einfach herauszubekommen suchen, wie die Altersveränderungen in den Zellen des Zellenstaates zustandekommen, die zum Tode des Zellenstaates führen, wie die Zellen im alternden Zellenstaat atrophisch werden. Wir wissen aber, daß alles Leben der Zellen in letzter Linie auf dem Stoffwechsel der Zellen beruht. So müssen wir denn versuchen, die Altersveränderungen der Zellen im Zellenstaat auf eine Störung im Stoffwechsel der Zellen des vielzelligen Organismus zurückzuführen, auf eine Störung, die im Verlaufe des Lebens der Zellen im Zellverband entsteht. Und weil wir erfahren haben, daß die Nervenzellen allen andern Zellen des Zellverbandes voraus sind mit dem Versagen im Dienst, so werden wir die Nervenzellen vor allem fest ins Auge fassen, um an ihnen herauszubekommen, wie im Laufe des Lebens des Zellenstaats die Zellen alt werden und den Zellenstaat zugrunde richten.

Um das aber herauszubekommen, müssen wir vorerst noch der Lebensgeschichte eines Pantoffeltierchens mit aller Aufmerksamkeit zuhören. Die also soll nun erzählt werden.

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