Wir haben der Wilden gedacht, die es gar nicht begreifen wollen, daß jeder Mensch sterben müsse. Der Naturmensch betrachtet den Tod als ein Unglück, bei dem unbedingt ein böser Geist im Spiele war: dem bösen Geist waren nicht all die Artigkeiten erwiesen, die man den feindseligen Geistern schon schuldet, wenn man ungeschoren bleiben und sich nicht allerlei peinlichen Zufällen aussetzen will. Wenn jemand stirbt, dann hat stets ein feindseliger Geist sein schändliches Handwerk getan.
Abb. 13. Krümmung der Wirbelsäule im Alter. A Wirbelsäule einer Frau von 35 Jahren. B eines Mannes von 83 Jahren. Aus Ewald.
Sieht man sich die modernen Statistiken an, die uns über das Sterben der Menschen berichten, so möchte man beinahe dem Naturmenschen darin Recht geben, daß es einen „natürlichen“ Tod, einen Tod aus Altersschwäche gar nicht gibt, und daß es beim Sterben der Menschen stets mit „unrechten Dingen“, wo Geister im Spiele sind, zugeht. In Deutschland sterben jährlich über eine Million Menschen, und von diesen sterben an Altersschwäche nur über hunderttausend, nicht mehr als z. B. allein an Tuberkulose sterben. Und dann kommt noch hinzu, daß von den hunderttausend Menschen, die über sechzig Jahre alt geworden und angeblich an Altersschwäche verstorben sind, in Wirklichkeit nur die wenigsten an Altersschwäche zugrunde gegangen sind. Daß einer wirklich an Altersschwäche und nicht an einer Krankheit gestorben ist, die seinen gealterten, widerstandslosen Körper befallen hat, darüber kann man ja mit Sicherheit nur dann etwas aussagen, wenn man die Organe des Verstorbenen einer sehr eingehenden mikroskopischen Untersuchung unterworfen hat. Das geschieht nur in den seltensten Fällen, dann, wenn der Greis in einer öffentlichen Krankenanstalt gestorben ist, und auch dann nicht immer. Bei der mikroskopischen Untersuchung der Organe des verstorbenen Greises wird sich herausstellen, ob der anscheinend an Altersschwäche Verstorbene nicht doch krankhafte Veränderungen in seinen Organen und Zellen hat. Wo diese fachmännische Untersuchung der Leiche nicht vorgenommen worden ist, läßt es sich niemals ausschließen, daß es sich um einen Tod aus Krankheit gehandelt hat. Dieser Verdacht ist um so eher gerechtfertigt, als gerade im hohen Alter die Menschen sehr häufig leichtern Krankheiten erliegen, die ein Jüngerer ohne weiteres überstanden hätte, ohne auch nur den Eindruck eines Schwerkranken auf seine Umgebung gemacht zu haben. Dabei ist in Betracht zu ziehen, daß ziemlich ein Drittel aller Verstorbenen überhaupt nicht vor dem Tode ärztlich behandelt wird. Und der Arzt, der in solchen Fällen die Todesursache zu beglaubigen hat, wird bei einem über sechzig Jahre alten Menschen natürlich nichts anderes als Todesursache angeben können, als Altersschwäche, – was ja insofern auch richtig ist, als die Altersschwäche jedenfalls an dem Tode des alten Menschen mit schuld war. Aber eine wissenschaftlich genaue Aussage darüber, daß der alte Mensch wirklich aus Altersschwäche und nicht an einer Krankheit gestorben ist, ist die Beglaubigung des Arztes nicht. Wie schon erwähnt, nur die eingehende Leichenschau mit Hilfe von Messer und Mikroskop erlaubt uns eine Aussage darüber, ob jemand an Altersschwäche und nicht an Krankheit gestorben ist.
So werden wir es verstehen, daß der berühmte Arzt Nothnagel zur Überzeugung gelangen konnte, „daß fast alle Menschen durch äußere Gewalt oder Krankheit dahingerafft werden … und daß die allerwenigsten Menschen eines natürlichen Todes sterben, vielleicht kaum einer unter Hunderttausend.“
Und nun das „andererseits“.
Untersucht man die Organe von alten Leuten, gleichgültig, ob sie aus Altersschwäche oder an irgendeiner Krankheit gestorben sind, so findet man in ihnen stets Veränderungen ganz charakteristischer Art. Von diesen Veränderungen werden wir weiter unten noch erzählen. Es ist klar, daß Veränderungen, die man bei allen alten Leuten antrifft, als Altersveränderungen aufgefaßt werden müssen. Und der Arzt kann in der Regel sagen, daß wenn ein Greis auch nicht an Altersschwäche gestorben ist, doch die allen Greisen gemeinsamen Altersveränderungen den Boden abgegeben haben für die Entwicklung und für die schlimme Wendung der Krankheit, die ein Jüngerer wohl überwunden hätte. Daß heute so wenig Menschen aus Altersschwäche sterben, liegt nicht daran, daß es einen Tod aus Altersschwäche nicht gibt, sondern lediglich daran, daß der gealterte Organismus sehr leicht verschiedenen Krankheiten erliegt, die für jüngere Leute nicht tödlich sind. Der Greis, der an irgendeiner Krankheit stirbt, stirbt gleichzeitig immer auch aus Altersschwäche.
Jetzt wollen wir davon erzählen, wie sich die alternden Zellen im Zellenstaat verändern.
Ein gebücktes Mütterchen ist uns das Abbild des Alters. Ein gerunzeltes, zahnloses Mütterchen. Das Fettgewebe, das die Haut einst prall erhalten, ist geschwunden, und in Falten legt sich die Haut. Die bindegewebigen Bänder, die die Knochen der Wirbelsäule fest aneinander gebunden hatten, haben ihre Elastizität eingebüßt wie ein viel gebrauchtes Gummiband. Und die Wirbelsäule gibt dem Druck des Oberkörpers nach, der Oberkörper sinkt nach vorne. (Abb. 13). In den Kiefern schwindet der Teil, in dem einmal die Zähne gesessen, und die Zähne fallen aus (Abb. 14 u. 15).
Abb. 14. Unterkiefer eines erwachsenen
Menschen.
Nach Toldt. |
Abb. 15. Unterkiefer eines alten Menschen. Nach Ribbert. |
Denken und Handeln des alternden Menschen haben sich auch verändert. Man denkt und handelt langsamer, träger. Man humpelt, wenn das Alter gekommen, auch im Denken, genau so wie man mühsam mit Krücken sich fortbewegt, über Pflaster und Stiege geht.
Sehen wir uns die inneren Organe eines alten Menschen an, so finden wir, daß sie kleiner sind als bei einem jüngeren Menschen. Man kann direkt von einem Schwund der Organe im Alter sprechen. Wir haben schon des äußerlich sichtbaren Schwundes vom Unterkiefer gedacht. Auch die Knochen sonst erleiden einen richtigen Schwund, die Schädelknochen (Abb. 16) und alle andern auch. Die Knochen werden dünner, und die Verdünnung der Knochen geht so weit, daß sie brüchig werden. Jedermann weiß, daß alte Leute leicht Knochenbrüche erleiden, namentlich an bestimmten Knochen, z. B. am Schenkelhals. Und wie die Knochen, so erfahren auch alle andern Organe im Alter einen Schwund: die Leber, die um die Hälfte verkleinert sein kann, die Nieren, das Herz usw. Besonders auffallend aber ist der Schwund, den das Gehirn bei alten Leuten erfährt. Die Windungen des Gehirnes, die aus Nervenzellen bestehen, sind schmäler geworden, weit klaffen die Furchen zwischen den Windungen. Aber nicht nur kleiner, auch härter sind die Organe im Alter geworden. Derb und zähe fühlt sie der Arzt in der Hand, wenn er die Leichenschau übt.
Abb. 16. Schädeldach eines alten Menschen. Rechts und links an den Scheitelknochen sieht man sehr deutlich den Knochenschwund: es sind hier flache Gruben im Knochen entstanden. Nach Ziegler.
Da haben wir eine ganze Menge darüber erfahren, wie die Organe im Alter verändert werden. Aber all das können wir erst verstehen, wenn wir das Mikroskop zu Hilfe nehmen, die Organe alter Leute mikroskopisch untersuchen. Sehen wir uns z. B. ein Stückchen Niere von einem Menschen an, der aus Altersschwäche gestorben ist (Abb. 17). Da sind an einer Stelle noch gut erhaltene Nierenzellen zu sehen, die ein Nierenkanälchen bilden, wie es sich für eine normale Niere nicht besser gehörte. Aber wir finden auch Nierenkanälchen, die ganz zusammengefallen sind, wo sogar die Lichtung der Kanälchen geschwunden ist. Die Zellen dieser Kanälchen sind verkleinert, „atrophisch“, wie man sagt. Diese Zellen haben einen Altersschwund erfahren. Genau so ist es mit den Zellen der Leber, der Drüsen, des Gehirnes und der Organe sonst. Weil die Zellen der Organe klein, atrophisch geworden sind, sind eben bei dem alten Menschen die Organe kleiner als in jüngeren Jahren. Es findet also im Alter eine Atrophie der Zellen statt, ein Schwund der lebendigen Zellsubstanz. Der Schwund der lebendigen Substanz der Zellen kennzeichnet alle Organe des gealterten Körpers.
Abb. 17. Horizontalschnitte durch Nierenkanälchen aus der Niere eines alten Menschen. a mit noch gut erhaltenen Zellen; man sieht hier deutlich die Lichtung des Nierenkanälchens. b und c mit atrophischen Zellen: die Kanälchen sind zusammengefallen, eine Lichtung ist nicht mehr vorhanden. Stark vergrößert. Nach Ziegler. Etwas schematisiert.
Auch härter und derber, haben wir gesagt, werden die Organe im Alter. Schon äußerlich kann man das an dem harten Puls eines alten Menschen beobachten. Was hat das zu bedeuten? Die mikroskopische Untersuchung der Organe von alten Menschen zeigt uns, daß sich in ihnen sehr reichliche Mengen von Bindegewebe finden. Das Bindegewebe ist natürlich auch in lebensfrischen Organen, in Nieren, Leber usw. stets vorhanden. Es bildet gewissermaßen die weichen Daunen, in denen die Zellen der Organe gebettet liegen. Das Bindegewebe nun kommt im Alter zu üppiger Entwicklung. Das wäre noch nicht so schlimm. Aber das Bindegewebe wird im Alter sehr hart, faserig und es ist nicht mehr so elastisch wie früher einmal. Sehr auffällig ist die Verhärtung des Bindegewebes, das die Blutröhren umhüllt, und das, was wir als harten Puls bei allen Leuten fühlen, das ist das verhärtete Bindegewebe um die Blutröhren herum. Und wie die Zellen der Niere, der Leber, des Gehirns und aller andern Organe im Alter nicht mehr so recht ihre gewohnte Arbeit tun können, weil sie einen Altersschwund erfahren haben, so auch das Bindegewebe. Es versagt im Dienst: es ist den Zellen und Organen nicht mehr das weiche und elastische Bett und gibt ihnen nicht mehr wie ehedem ihren Halt. Wir sehen das namentlich an der Krümmung der Wirbelsäule im Alter. Verhängnisvoll ist dieses Versagen des Bindegewebes bei den Blutgefäßen. Die Verteilung des Blutes im Körper kann nämlich nur dann regelrecht vonstatten gehen, wenn die Blutröhren gut elastisch sind. Die elastischen Röhren gehören mit zum Pumpapparat des Blutkreislaufes, sie arbeiten bei der Verteilung des Blutes im Körper dem Herzen in die Hand. Ein Pumpwerk nämlich, das eine Flüssigkeit durch starre Röhren treibt, gibt einen unterbrochenen Strom, einen Strom in einzelnen Stößen. Dagegen treibt dasselbe Pumpwerk die Flüssigkeit durch elastische Röhren nicht in Stößen, sondern fortlaufend, ununterbrochen. Die elastischen Blutröhren haben somit einen sehr wichtigen Anteil bei der Verteilung des Blutes im Körper: sie sorgen dafür, daß das Blut dauernd zu Organen und Zellen fließt. Wären sie starr, so käme das Blut an die Zellen nur in einzelnen Stößen heran, alle Sekunde, mit jedem Herzschlag einmal. Nun haben aber im Alter die Blutröhren an Elastizität eingebüßt, wenn das Bindegewebe, in dem sie gebettet sind, härter geworden ist. Die Zufuhr des Blutes zu den Zellen im Körper wird beeinträchtigt. Der Stoffwechsel der Zellen wird geschädigt. Und es kommt noch hinzu, daß die Blutpumpe selber, die Zellen des Herzens, einen Altersschwund erfahren. Auch das Herz wird im Alter kleiner und kann dann nicht mehr so kräftige Arbeit leisten wie in jungen Tagen. All das trägt dazu bei, daß die Atrophie der lebendigen Substanz aller Zellen im Körper noch beschleunigt wird.
Der Altersschwund der Zellen im Zellenstaat bedeutet, daß nunmehr weniger lebendige Substanz im Organismus enthalten ist – die Zellen sind kleiner geworden und es wird jetzt im Körper weniger lebendige Substanz im Stoffwechsel verbrannt. Das ist uns selbstverständlich: im alternden Organismus brennt das Feuer des Lebens – ganz wörtlich zu verstehen – nicht mehr wie einst im Mai, es brennt nicht mehr in lodernder Glut wie früher, wie in der Jugend des Menschen. Man hat gefunden, daß der Stoffwechsel bei Greisen und Greisinnen eine Abnahme erfährt. So sind die Verbrennungsvorgänge bei Leuten im Alter von etwa 68 bis 86 Jahren um rund 20% geringer als bei Leuten, die im mittleren Lebensalter stehen.
Alles in allem: es ist das Altenteil der Zellen im Zellenstaat, daß sie atrophisch werden, daß sie einen Altersschwund erfahren, wobei der Stoffwechsel der Zellen eine bedeutende Abnahme erfährt.