Dieser drei Jahre, die nun folgten, und in denen ich mich mit begieriger Empfänglichkeit tausend neuen, wechselnden, reichen Eindrücken hingab, erinnere ich mich wie eines schönen, fernen Traumes. Wie lange ist es her, dass ich bei den Mönchen auf dem Symplon zwischen Schnee und Eis ein Neujahrsfest verbrachte; dass ich zu Verona über die Piazza Erbe schlenderte; dass ich vom Borgo San Spirito aus zum ersten Male unter die Kolonnaden von Sankt Peter trat und meine eingeschüchterten Augen sich auf dem ungeheuren Platze verloren; dass ich vom Corso Vittorio Emanuele über das weissschimmernde Neapel hinabblickte und fern im Meere die graziöse Silhouette von Capri in blauem Dunst verschwimmen sah ... Es sind in Wirklichkeit sechs Jahre und nicht viel mehr.
Oh, ich lebte vollkommen vorsichtig und meinen Verhältnissen entsprechend: in einfachen Privatzimmern, in wohlfeilen Pensionen – bei dem häufigen Ortswechsel aber, und weil es mir anfangs schwer fiel, mich meiner gutbürgerlichen Gewohnheiten zu entwöhnen, waren grössere Ausgaben gleichwohl nicht zu vermeiden. Ich hatte mir für die Zeit meiner Wanderungen 15000 Mark meines Kapitals ausgesetzt; diese Summe freilich ward überschritten.
Übrigens befand ich mich wohl unter den Leuten, mit denen ich unterwegs hier und da in Berührung kam, uninteressierte und sehr interessante Existenzen oft, denen ich allerdings nicht wie meiner ehemaligen Umgebung ein Gegenstand des Respekts war, aber von denen ich auch keine befremdeten Blicke und Fragen zu befürchten hatte.
Mit meiner Art von gesellschaftlicher Begabung erfreute ich mich in Pensionen zuweilen aufrichtiger Beliebtheit bei der übrigen Reisegesellschaft – wobei ich mich einer Scene im Salon der Pension Minelli zu Palermo erinnere. In einem Kreise von Franzosen verschiedenen Alters hatte ich am Pianino von ungefähr begonnen, mit grossem Aufwand von tragischem Mienenspiel, deklamierendem Gesang und rollenden Harmonieen ein Musikdrama »von Richard Wagner« zu improvisieren, und ich hatte soeben unter ungeheurem Beifall geschlossen, als ein alter Herr auf mich zueilte, der beinahe kein Haar mehr auf dem Kopfe hatte, und dessen weisse, spärliche Cotelettes auf seine graue Reisejoppe hinabflatterten. Er ergriff meine beiden Hände und rief mit Thränen in den Augen:
– »Aber das ist erstaunlich! Das ist erstaunlich, mein teurer Herr! Ich schwöre Ihnen, dass ich mich seit dreissig Jahren nicht mehr so köstlich unterhalten habe! Ah, Sie gestatten, dass ich Ihnen aus vollem Herzen danke, nicht wahr! Aber es ist nötig, dass Sie Schauspieler oder Musiker werden!«
Es ist wahr, dass ich bei solchen Gelegenheiten etwas von dem genialen Übermut eines grossen Malers empfand, der im Freundeskreise sich herbeiliess, eine lächerliche zugleich und geistreiche Karrikatur auf die Tischplatte zu zeichnen. Nach dem Diner aber begab ich mich allein in den Salon zurück und verbrachte eine einsame und wehmütige Stunde damit, dem Instrumente getragene Accorde zu entlocken, in die ich die Stimmung zu legen glaubte, die der Anblick Palermos in mir erweckt.
Ich hatte von Sizilien aus Afrika ganz flüchtig berührt, war alsdann nach Spanien gegangen und dort, in der Nähe von Madrid, auf dem Lande war es, im Winter, an einem trüben, regnerischen Nachmittage, als ich zum ersten Male den Wunsch empfand, nach Deutschland zurückzukehren – und die Notwendigkeit obendrein. Denn abgesehen davon, dass ich begann, mich nach einem ruhigen, geregelten und ansässigen Leben zu sehnen, war es nicht schwer, mir auszurechnen, dass bis zu meiner Ankunft in Deutschland bei aller Einschränkung 20000 Mark verausgabt sein würden.
Ich zögerte nicht allzu lange, den langsamen Rückweg durch Frankreich anzutreten, auf den ich bei längerem Aufenthalt in einzelnen Städten annähernd ein halbes Jahr verwendete, und ich erinnere mich mit wehmütiger Deutlichkeit des Sommerabends, an dem ich in den Bahnhof der mitteldeutschen Residenzstadt einfuhr, die ich mir beim Beginn meiner Reise bereits ausersehen hatte, – ein wenig unterrichtet nunmehr, mit einigen Erfahrungen und Kenntnissen versehen und ganz voll von einer kindlichen Freude, mir hier, in meiner sorglosen Unabhängigkeit und gern meinen bescheidenen Mitteln gemäss, nun ein ungestörtes und beschauliches Dasein gründen zu können.
Damals war ich 25 Jahre alt.