Welche Errungenschaft und Neueinführung des Hauses Berghof war es, die unsern langjährigen Freund vom Kartentic erlöste und ihn einer anderen, edleren, wenn auch im Grunde nicht weniger seltsamen Leidenschaft in die Arme führte? Wir sind im Begriffe, es zu erzählen, erfüllt von den geheimen Reizen des Gegenstandes und aufrichtig begierig, sie mitzuteilen.
Es handelte sich um eine Vermehrung der Unterhaltungsgeräte des Hauptgesellschaftsraumes, aus nie rastender Fürsorge ersonnen und beschlossen im Verwaltungsgremium des Hauses, beschafft mit einem Kostenaufwand, den wir nicht berechnen wollen, den wir aber großzügig müssen nennen dürfen, von der Oberleitung dieses unbedingt zu empfehlenden Instituts. Ein sinnreiches Spielzeug also von der Art des stereoskopischen Guckkastens, des fernrohrförmigen Kaleidoskops und der kinematographischen Trommel? Allerdings – und auch wieder durchaus nicht. Denn erstens war das keine optische Veranstaltung, die man eines Abends – und man schlug die Hände teils über dem Kopf, teils in gebückter Haltung vorm Schoße zusammen – im Klaviersalon aufgebaut fand, sondern eine akustische; und ferner waren jene leichten Attraktionen nach Klasse, Rang und Wert überhaupt nicht mit ihr zu vergleichen. Das war kein kindliches und einförmiges Gaukelwerk, dessen man überdrüssig war, und das man nicht mehr anrührte, sobald man auch nur drei Wochen auf dem Buckel hatte. Es war ein strömendes Füllhorn heiteren und seelenschweren künstlerischen Genusses. Es war ein Musikapparat. Es war ein Grammophon.
Unsere ernste Sorge ist, dies Wort möchte in einem unwürdigen und überholten Sinne mißverstanden und Vorstellungen möchten daran geknüpft werden, die einer verjährten Vorform dessen, was uns als Wahrheit vorschwebt, nicht aber dieser in unermüdlich fortbildenden Versuchen einer musisch gerichteten Technik zur vornehmsten Vollendung entwickelten Wahrheit gerecht werden. Ihr Guten! Das war das armselige Kurbelkästchen nicht, das ehemals wohl, Drehscheibe und Griffel obenauf, Anhängsel eines unförmigen Trompetenschalltrichters aus Messing, von einem Wirtshaustische herunter anspruchslose Ohren mit näselndem Gebrüll erfüllte. Der mattschwarz gebeizte Schrein, der hier, ein wenig tiefer als breit, angeschlossen mit seidenem Kabel an einen elektrischen Steckkontakt der Wand, in schlichter Distinktion auf einem Fachtischchen stand, zeigte mit jener rohen und vorsintflutlichen Maschinerie überhaupt keine Ähnlichkeit mehr. Man öffnete den anmutig sich verjüngenden Deckel, dessen innere, vom Grunde gehobene Messingstütze ihn in schräg schirmender Lage automatisch feststellte, und man gewahrte in flacher Vertiefung die mit grünem Tuch ausgeschlagene Drehscheibe mit Nickelrand und dem gleichfalls vernickelten Mittelzapfen, über den das Loch der Hartgummiplatte zu fügen war. Man bemerkte ferner, rechts seitwärts im Vordergrunde, eine uhrähnlich bezifferte Vorrichtung zur Regelung des Tempos, zur Linken den Hebel, mit dem das Drehwerk in Lauf zu setzen oder zu stoppen war; links hinten aber den gewunden keulenförmigen, in weichen Gelenken beweglichen Hohlarm aus Nickel, mit der flachrunden Schalldose an seinem Ende, deren Schraubwerk die ziehende Nadel zu tragen bestimmt war. Man öffnete auch die Flügel der vorderen Doppeltür und erblickte dahinter ein jalousieartiges Gefüge schräg stehender Leisten aus schwarz gebeiztem Holze – nichts weiter.
„Es ist das neueste Modell“, sagte der Hofrat, der mit eingetreten war. „Letzte Errungenschaft, Kinder, Ia, ff, was Besseres gibt es nicht in dem Janger.“ Er sprach das Wort urkomisch-unmöglich aus, wie etwa ein minder gebildeter Verkäufer es anpreisend getan haben würde. „Das ist kein Apparat und keine Maschine,“ fuhr er fort, indem er aus einem der auf dem Tischchen angeordneten buntfarbigen Blechbüchschen eine Nadel nahm und sie befestigte, „das ist ein Instrument, das ist eine Stradivarius, eine Guarneri, da herrschen Resonanz- und Schwingungsverhältnisse vom ausgepichtesten Raffinemang! ‚Polyhymnia‘ heißt die Marke, wie die Inschrift hier im inneren Deckel Sie lehrt. Deutsches Fabrikat, wissen Sie. Wir machen das mit Abstand am besten. Das treusinnig Musikalische in neuzeitlich-mechanischer Gestalt. Die deutsche Seele up to date. Da haben Sie die Literatur!“ sagte er und wies auf ein Wandschränkchen, worin breitrückige Alben aufgereiht standen. „Ich übermache Ihnen den ganzen Zauber zu freier Lust, empfehle ihn aber dem Schutze des Publikums. Wollen wir mal probeweise eine erbrausen lassen?“
Die Kranken baten flehentlich darum, und Behrens zog eines der stumm-gehaltvollen Zauberbücher hervor, wandte die schweren Blätter, zog aus einer der Kartontaschen, deren kreisförmige Ausschnitte die farbigen Titel erkennen ließen, eine Platte und legte sie ein. Mit einem Handgriff gab er der Drehscheibe Strom, zögerte zwei Sekunden, bis ihr Lauf die volle Geschwindigkeit erreicht hatte, und setzte die feine Spitze des Stahlstiftes behutsam auf den Plattenrand. Ein leicht wetzendes Geräusch ward hörbar. Er senkte den Deckel darüber, und in demselben Augenblick brach durch die offene Flügeltür, zwischen den Spalten der Jalousie hervor, nein, aus dem ganzen Körper der Truhe Instrumentaltrubel, eine lustig lärmende und drängende Melodie, die ersten gliederwerfenden Takte einer Ouvertüre von Offenbach.
Man lauschte mit offenen Mündern lächelnd. Man traute seinen Ohren nicht, wie überaus rein und natürlich die Koloraturen der Holzbläser lauteten. Eine Geige, sie ganz allein, präludierte phantastisch. Man vernahm den Bogenstrich, das Tremolo des Griffes, das süße Gleiten von einer Lage in die andere. Sie fand ihre Melodie, den Walzer, das „Ach, ich habe sie verloren“. Leicht trug Orchesterharmonie die schmeichlerische Weise, und es war zum Entzücken, wie sie, ehrenvoll vom Ensemble aufgenommen, als rauschendes Tutti sich wiederholte. Natürlich war es nicht so, wie wenn eine wirkliche Kapelle im Zimmer hier konzertiert hätte. Der Klangkörper, unentstellt im übrigen, erlitt eine perspektivische Minderung; es war, wenn es erlaubt ist, für den Gehörsfall ein Gleichnis aus dem Gebiet des Gesichtes einzusetzen, als ob man ein Gemälde durch ein umgekehrtes Opernglas betrachtete, so daß es entrückt und verkleinert erschien, ohne an der Schärfe seiner Zeichnung, der Leuchtkraft seiner Farben etwas einzubüßen. Das Musikstück, talentstraff und prickelnd, spielte sich ab in allem Witz seiner leichtsinnigen Erfindung. Den Schluß machte die Ausgelassenheit selbst, ein drollig zögernd ansetzender Galopp, ein unverschämter Cancan, der die Vision in der Luft geschüttelter Zylinder, schleudernder Knie, aufstiebender Röcke erzeugte und im komisch-triumphalen Enden kein Ende fand. Dann schnappte das Drehwerk selbsttätig ein. Es war aus. Man applaudierte von Herzen.
Man rief nach Weiterem und man bekam es: Menschliche Stimme entströmte dem Schrein, männlich, weich und gewaltig auf einmal, von Orchester begleitet, ein italienischer Bariton berühmten Namens, – und nun konnte durchaus von keiner Verschleierung und Entfernung mehr die Rede sein: das herrliche Organ erscholl nach seinem vollen natürlichen Umfang und Kraftinhalt, und namentlich wenn man in eines der offenen Nebenzimmer trat und den Apparat nicht sah, so war es nicht anders, als stände dort im Salon der Künstler in körperlicher Person, das Notenblatt in der Hand, und sänge. Er sang eine Opernbravourarie in seiner Sprache – eh, il barbiere. Di qualità, di qualità! Figaro qua, Figaro là, Figaro, Figaro, Figaro! Die Zuhörer wollten sterben vor Lachen über sein falsettierendes parlando, über den Kontrast dieser Bärenstimme und dieser zungenbrecherischen Sprechfertigkeit. Erfahrene mochten die Künste seiner Phrasierung, seiner Atemtechnik verfolgen und bewundern. Meister des Unwiderstehlichen, Virtuose des welschen Da capo-Geschmacks, hielt er den vorletzten Ton, vor der Schlußtonika, zur Rampe vordringend, wie es schien, und offenbar die Hand in der Luft, auf eine Weise aus, daß man in gezogene Bravorufe ausbrach, bevor er geendigt hatte. Es war vorzüglich.
Und es gab mehr. Ein Waldhorn vollführte mit schöner Vorsicht Variationen über ein Volkslied. Eine Sopranistin schmetterte, stakkierte und trillerte eine Arie aus „La Traviata“ mit der lieblichsten Kühle und Genauigkeit. Der Geist eines Violinisten von Weltruf spielte, wie hinter Schleiern, zu einer Klavierbegleitung, die trocken klang, wie Spinett, eine Romanze von Rubinstein. Aus der sacht kochenden Wundertruhe drangen Glockenklänge, Harfenglissandos, Trompetengeschmetter und Trommelwirbel. Schließlich wurden Tanzplatten eingelegt. Sogar von dem neuen Import war schon ein und das andere Beispiel vorhanden, im exotischen Hafenkneipengeschmack, der Tango, berufen, aus dem Wiener Walzer einen Großvatertanz zu machen. Zwei Paare, des modischen Schrittes mächtig, zeigten sich darin auf dem Teppich. Behrens hatte sich zurückgezogen, nachdem er die Vermahnung erteilt, jede Nadel nur einmal zu benutzen und die Platten „ganz ähnlich wie rohe Eier“ zu behandeln. Hans Castorp bediente den Apparat.
Warum gerade er? Es hatte sich so gemacht. Mit gedämpfter Kurzangebundenheit war er denjenigen entgegengetreten, die nach des Hofrats Weggang den Nadel- und Plattenwechsel, die Ein- und Ausschaltung des Triebstroms hatten in die Hand nehmen wollen. „Lassen Sie mich das tun!“ hatte er gesagt, indem er sie beiseite drängte, und sie waren ihm gleichmütig gewichen, erstens, weil er die Miene hatte, als ob er von längerer Hand her sich auf die Sache verstände, dann aber, weil ihnen sehr wenig daran gelegen war, an der Quelle des Genusses tätig zu sein, statt sich bequem und unverbindlich damit bewirten zu lassen, solange es sie nicht langweilte.
Nicht so Hans Castorp. Während der Vorführung der neuen Erwerbung durch den Hofrat hatte er sich still im Hintergrunde gehalten, ohne Lachen, ohne Beifallsrufe, aber die Darbietungen gespannt verfolgend, indes er nach gelegentlicher Gewohnheit mit zwei Fingern an einer Augenbraue drehte. Mit einer gewissen Unruhe hatte er im Rücken des Publikums mehrfach den Standort gewechselt, war ins Bibliothekszimmer getreten, um von dort zu lauschen, und hatte sich später, Hände auf dem Rücken und mit verschlossenem Gesichtsausdruck, neben Behrens aufgestellt, den Schrein im Auge, den einfachen Dienst daran erkundend. In ihm hieß es: „Halt! Achtung! Epoche! Das kam zu mir.“ Die bestimmteste Ahnung neuer Passion, Bezauberung, Liebeslast erfüllte ihn. Dem Jüngling im Flachland, dem beim ersten Blick auf ein Mädchen Amors widerhakiger Pfeil unverhofft mitten im Herzen sitzt, ist nicht gar anders zumute. Eifersucht beherrschte sofort Hans Castorps Schritte. Öffentliches Gut? Schlaffe Neugier hat weder Recht noch Kraft, zu besitzen. „Lassen Sie mich das tun!“ sagte er zwischen den Zähnen, und sie waren es ganz zufrieden. Sie tanzten noch ein bißchen nach leichtgeschürzten Piecen, die er laufen ließ, verlangten auch noch eine Gesangsnummer, ein Opernduett, die Barkarole aus „Hoffmanns Erzählungen“, die lieblich genug ins Ohr ging, und als er den Deckel schloß, zogen sie ab, flüchtig angeregt und schwatzend, in die Liegekur, zur Ruhe. Darauf hatte er gewartet. Sie ließen hinter sich alles stehen und liegen wie es mochte, die offenen Nadelbüchschen und Albums, die zerstreuten Platten. Das sah ihnen ähnlich. Er tat, als schlösse er sich ihnen an, verließ aber heimlich ihren Zug auf der Treppe, kehrte in den Salon zurück, schloß alle Türen und blieb dort die halbe Nacht, tief beschäftigt.
Er machte sich mit der neuen Erwerbung vertraut, durchmusterte ungestört den beigestellten Vortragsschatz, den Inhalt der schweren Alben. Es waren deren zwölf, von zweierlei Größe, zu je zwölf Platten; und da viele der eng kreisförmig geritzten schwarzen Scheiben doppelseitig waren, nicht nur weil manches Stück auch die Kehrseite in Anspruch nahm, sondern auch weil einer ganzen Reihe von Tafeln zwei verschiedene Darbietungen eingeschrieben waren, so war das ein anfangs schwer übersichtliches, ja verwirrendes Eroberungsgebiet schöner Möglichkeiten. Er spielte wohl ein Viertelhundert, indem er sich, um nicht zu stören, in der Nacht nicht gehört zu werden, gewisser sacht ziehender Nadeln bediente, die den Klang verringerten, – aber das war kaum der achte Teil dessen, was sich aller Enden lockend zum Versuche anbot. Für heute mußte es genug sein, die Titel zu überfliegen und nur dann und wann, stichprobeweise, ein Beispiel der stummen Zirkelgraphik dem Schreine einzuverleiben, um es zum Tönen zu bringen. Sie waren unterschieden durch das farbige Etikett ihres Zentrums, die Hartgummidisken, und durch nichts weiter, für das Auge. Eine sah aus wie die andere, ganz oder nicht ganz bis zur Mitte mit konzentrischen Kreisen dicht bedeckt; und doch barg ihr feines Liniengepräge die erdenklichste Musik, glücklichste Eingebungen aus allen Regionen der Kunst, in ausgesuchter Wiedergabe.
Es waren da eine Menge Ouvertüren und Einzelsätze aus der Welt der erhabenen Symphonik, gespielt von berühmten Orchestern, deren Leiter namhaft gemacht waren. Eine lange Reihe von Liedern sodann, vorgetragen zum Klavier, von Mitgliedern großer Opernhäuser, – und zwar sowohl Lieder, die das hohe und bewußte Erzeugnis persönlicher Kunst waren, wie auch schlichte Volkslieder, wie dann endlich auch noch solche, die zwischen diesen beiden Gattungen gleichsam die Mitte hielten, insofern sie zwar Produkte geistiger Kunst, aber im Sinn und Geist des Volkes tiefecht und fromm empfunden und erfunden waren; künstliche Volkslieder, wenn man so sagen durfte, ohne durch das Wort „künstlich“ ihrer Innigkeit zu nahe zu treten: eines zumal, das Hans Castorp von Kindesbeinen an gekannt hatte, zu dem er aber jetzt eine geheimnisvoll-beziehungsreiche Liebe faßte, und von dem die Rede sein wird. – Was gab es noch, oder eigentlich, was gab es nicht? Es gab Oper die Hülle und Fülle. Ein internationaler Chor gefeierter Sänger und Sängerinnen setzte, begleitet von diskret zurücktretendem Orchester, die hochgeschulte Gottesgabe seiner Stimmen ein zur Ausführung von Arien, Duetten, ganzen Ensembleszenen aus den verschiedenen Gegenden und Epochen des musikalischen Theaters: der südlichen Schönheitssphäre einer zugleich hoch- und leichtherzigen Hingerissenheit, einer deutsch-volkhaften Welt von Schalkheit und Dämonie, der französischen Großen und Komischen Oper. War damit ein Ende? O nein. Denn es folgte die Serie der Kammermusiken, der Quartette und Trios, der Instrumental-Solonummern für Violine, Cello, Flöte, die Konzertgesangsnummern mit obligater Violine oder Flöte, die rein pianistischen Nummern, – von den bloßen Belustigungen, den Couplets, den Zweckplatten, in die kleine Aufspielorchester ihre Weisen geprägt hatten, und die nach einer derben Nadel verlangten, nicht erst zu reden.
Hans Castorp sichtete das, ordnete das, übergab es, einsam hantierend, zu einem kleinen Teile dem Instrument, das es zu tönendem Leben weckte. Er ging mit heißem Kopfe zu ähnlich vorgerückter Stunde schlafen, wie nach dem ersten Gelage mit Pieter Peeperkorn majestätisch-duzbrüderlichen Angedenkens, und träumte von zwei bis sieben von dem Zauberkasten. Er sah im Traume die Drehscheibe um ihren Zapfen kreisen, schnell bis zur Unsichtlichkeit und lautlos dabei, in einer Bewegung, die nicht nur eben in dem wirbeligen Rundfluß, sondern auch noch in einem eigentümlichen seitlichen Wogen bestand, dergestalt, daß dem nadeltragenden Gelenkarm, unter dem sie hinzog, ein elastisch atmendes Schwingen mitgeteilt wurde, – sehr dienlich, wie man glauben mochte, dem vibrato und portamento der Streicher und der menschlichen Stimmen; doch unbegreiflich blieb es, im Traum nicht weniger als im Wachen, wie das bloße Nachziehen einer haarfeinen Linie über einem akustischen Hohlraum und einzig mit Hilfe des Schwingungshäutchens der Schallbüchse die reich zusammengesetzten Klangkörper wiedererzeugen konnte, die das geistige Ohr des Schläfers füllten.
Er war am Morgen zeitig wieder im Salon, schon vor dem Frühstück, und ließ, mit gefalteten Händen in einem Sessel sitzend, einen herrlichen Bariton aus dem Schreine zur Harfe singen: „Blick’ ich umher in diesem edlen Kreise –“. Die Harfe klang vollkommen natürlich, es war unverfälschtes und unvermindertes Harfenspiel, was der Schrein außer der schwellenden, hauchenden, artikulierenden menschlichen Stimme aus sich entließ – durchaus zum Erstaunen. Und Zärtlicheres gab es auf Erden nicht, als den Zwiegesang aus einer modernen italienischen Oper, den Hans Castorp darauf folgen ließ, – als diese bescheidene und innige Gefühlsannäherung zwischen der weltberühmten Tenorstimme, die so vielfach in den Alben vertreten war, und einem glashell-süßen kleinen Sopran, – als sein „Da mi il braccio, mia piccina“ und die simple, süße, gedrängt melodische kleine Phrase, die sie ihm zur Antwort gab ...
Hans Castorp zuckte zusammen, da hinter ihm die Tür ging. Es war der Hofrat, der zu ihm hereinschaute; – in seinem klinischen Kittel mit dem Hörrohr in der Brusttasche stand er dort einen Augenblick, den Türgriff in der Hand, und nickte dem Laboranten zu. Dieser erwiderte das Nicken über die Schulter hin, worauf das blauwangige Gesicht des Chefs mit dem einseitig geschürzten Schnurrbärtchen hinter der zugezogenen Tür verschwand und Hans Castorp sich seinem unsichtbar-wohllautenden Liebespärchen wieder zuwandte.
Später im Lauf des Tages, nach der Mittagsmahlzeit, nach dem Diner, hatte er Zuhörer bei seinem Treiben, wechselndes Publikum, – wenn man ihn selbst nicht als solches, sondern als Spender des Genusses betrachten wollte. Persönlich neigte er zu dieser Auffassung, und die Hausgesellschaft bewilligte sie ihm in dem Sinne, daß sie seiner entschlossenen Selbsteinsetzung als Verwalter und Kustos der öffentlichen Einrichtung von Anfang an stillschweigend zustimmte. Das kostete diese Leute nichts; denn ungeachtet ihres oberflächlichen Entzückens, wenn jener tenorale Abgott in Schmelz und Glanz schwelgte, die weltbeglückende Stimme in Kantilenen und hohen Künsten der Leidenschaft sich verströmte, – trotz dieses laut bekundeten Entzückens waren sie ohne Liebe und darum völlig einverstanden, jedem, der da wollte, die Sorge zu lassen. Hans Castorp war es, der den Plattenschatz in Ordnung hielt, den Inhalt der Alben auf die Innenseite der Deckel schrieb, so daß ein jegliches Stück auf Wunsch und Anruf sofort zur Hand war, und der das Instrument handhabte: Man sah es ihn mit bald geübten, knappen und zarten Bewegungen tun. Was hätten auch die anderen gemacht? Sie hätten die Platten geschändet, indem sie sie mit abgenutzten Nadeln bearbeiteten, hätten sie offen auf Stühlen herumliegen lassen, mit dem Apparat stumpfen Jux getrieben, indem sie ein edles Stück mit Tempo und Tonhöhe hundertundzehn laufen ließen oder auch den Zeiger auf Null einstellten, so daß es ein hysterisches Tirili oder ein versacktes Stöhnen ergab ... Sie hatten das alles schon getan. Sie waren zwar krank, aber roh. Und darum trug Hans Castorp nach kurzer Zeit den Schlüssel des Schränkchens, worin die Alben und Nadeln aufbewahrt wurden, einfach in der Tasche, so daß man ihn rufen mußte, wenn man aufgespielt haben wollte.
Spät, nach der Abendgeselligkeit, nach Abzug der Menge, war seine beste Zeit. Dann blieb er im Salon oder kehrte heimlich dorthin zurück und musizierte allein bis tief in die Nacht. Die Ruhe des Hauses damit zu stören, brauchte er weniger zu fürchten, als er anfangs geglaubt hatte tun zu müssen, denn die Tragkraft seiner Geistermusik hatte sich ihm als von geringer Reichweite erwiesen: so Staunenswertes die Schwingungen nahe ihrem Ursprung bewirkten, so bald ermatteten sie, schwach und scheinmächtig wie alles Geisterhafte, ferner von ihm. Hans Castorp war allein mit den Wundern der Truhe in seinen vier Wänden, – mit den blühenden Leistungen dieses gestutzten kleinen Sarges aus Geigenholz, dieses mattschwarzen Tempelchens, vor dessen offener Flügeltür er im Sessel saß, die Hände gefaltet, den Kopf auf der Schulter, den Mund geöffnet, und sich von Wohllaut überströmen ließ.
Die Sänger und Sängerinnen, die er hörte, er sah sie nicht, ihre Menschlichkeit weilte in Amerika, in Mailand, in Wien, in Sankt Petersburg, – sie mochte dort immerhin weilen, denn was er von ihnen hatte, war ihr Bestes, war ihre Stimme, und er schätzte diese Reinigung oder Abstraktion, die sinnlich genug blieb, um ihm, unter Ausschaltung aller Nachteile zu großer persönlicher Nähe, und namentlich soweit es sich um Landsleute, um Deutsche handelte, eine gute menschliche Kontrolle zu gestatten. Die Aussprache, der Dialekt, die engere Landsmannschaft der Künstler war zu unterscheiden, ihr Stimmcharakter sagte etwas aus über des Einzelnen seelischen Wuchs, und daran, wie sie geistige Wirkungsmöglichkeiten nutzten oder versäumten, erwies sich die Stufe ihrer Intelligenz. Hans Castorp ärgerte sich, wenn sie es fehlen ließen. Er litt auch und biß sich auf die Lippen vor Scham, wenn Unvollkommenheiten der technischen Wiedergabe mit unterliefen, saß wie auf Kohlen, wenn im Lauf einer oft zitierten Platte ein Gesangston scharf oder gröhlend verlautete, was namentlich bei den heiklen Frauenstimmen so leicht sich ereignete. Doch nahm er das in den Kauf, denn Liebe muß leiden. Zuweilen beugte er sich über das Spielwerk, das atmend kreiste, wie über einen Fliederstrauß, den Kopf in einer Klangwolke; stand vor dem offenen Schrein, das Herrscherglück des Dirigenten kostend, indem er mit aufgehobener Hand einer Trompete den pünktlichen Einsatz gab. Er hatte Lieblinge in seinem Magazin, einige Vokal- und Instrumentalnummern, die zu hören er niemals satt wurde. Wir mögen nicht unterlassen, sie anzuführen.
Eine kleine Gruppe von Platten bot die Schlußszenen des pompösen, von melodiösem Genie überquellenden Opernwerks, das ein großer Landsmann des Herrn Settembrini, der Altmeister der dramatischen Musik des Südens, in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts aus solennem Anlaß, bei Gelegenheit der Übergabe eines Werkes der völkerverbindenden Technik an die Menschheit, im Auftrage eines orientalischen Fürsten geschaffen hatte. Hans Castorp wußte bildungsweise ungefähr Bescheid damit, er kannte in großen Zügen das Schicksal des Radames, der Amneris und der Aida, die ihm auf Italienisch aus dem Kasten sangen, und so verstand er so ziemlich, was sie ihm sangen, – der unvergleichliche Tenor, der fürstliche Alt mit dem herrlichen Stimmbruch in der Mitte seines Umfanges und der silberne Sopran – verstand nicht jedes Wort, aber doch eines hie und da mit Hilfe seiner Kenntnis der Situationen und seiner Sympathie für diese Situationen, einer vertraulichen Anteilnahme, die wuchs, je öfter er die vier oder fünf Platten laufen ließ, und schon zur wirklichen Verliebtheit geworden war.
Zuerst setzten Radames und Amneris sich auseinander: Die Königstochter ließ den Gefesselten vor sich führen, ihn, den sie liebte und sehnlich für sich zu retten wünschte, obgleich er um der barbarischen Sklavin willen Vaterland und Ehre hingegeben hatte, – während allerdings, wie er sagte, „im Herzensgrunde die Ehre unverletzt geblieben“ war. Diese Intaktheit seines Innersten bei aller Schuldbeladenheit jedoch half ihm wenig, denn durch sein klar zutage liegendes Verbrechen war er dem geistlichen Gerichte verfallen, dem alles Menschliche fremd war, und das bestimmt kein Federlesen machen würde, wenn er sich nicht im letzten Augenblick dahin besann, der Sklavin abzuschwören und sich dem königlichen Alt mit dem Stimmbruch in die Arme zu werfen, der dies, rein akustisch genommen, so vollkommen verdiente. Amneris gab sich die inbrünstigste Mühe mit dem wohllautenden, aber tragisch verblendeten und dem Leben abgewandten Tenor, der immer nur „Ich kann nicht!“ und „Vergebens!“ sang, wenn sie ihm mit verzweifelten Bitten anlag, der Sklavin zu entsagen, es gelte sein Leben. „Ich kann nicht!“ – „Höre noch einmal, entsage ihr!“ – „Vergebens!“ Todwillige Verblendung und wärmster Liebeskummer vereinigten sich zu einem Zwiegesang, der außerordentlich schön war, aber keine Hoffnung ließ. Und dann begleitete Amneris mit ihren Schmerzensrufen die schauerlich-formelhaften Repliken des geistlichen Gerichtes, die dumpf aus der Tiefe schollen, und an denen der unselige Radames sich überhaupt nicht beteiligte.
„Radames, Radames“, sang dringlich der Oberpriester und führte ihm in zugespitzter Form sein Verbrechen des Verrates vor Augen.
„Rechtfertige dich!“ forderten im Chore alle Priester.
Und da der Oberste darauf hinweisen konnte, daß Radames schwieg, erkannten alle in hohler Einstimmigkeit auf Felonie.
„Radames, Radames!“ fing der Vorsitzende wieder an. „Du hast das Lager vor der Schlacht verlassen.“
„Rechtfertige dich!“ hieß es abermals. „Seht, er schweiget“, durfte der stark voreingenommene Verhandlungsleiter zum zweitenmal feststellen, und so vereinigten auch diesmal alle Richterstimmen sich mit der seinen in dem Wahrspruch: „Felonie!“
„Radames, Radames!“ hörte man den unerbittlichen Ankläger zum drittenmal. „Dem Vaterlande, der Ehre und dem Könige brachst du deinen Eid.“ – „Rechtfertige dich!“ scholl es aufs neue. Und: „Felonie!“ erkannte endgültig und mit Schauder die Priesterschaft, nachdem sie aufmerksam gemacht worden, daß Radames absolut stillschwieg. So konnte denn das Unausbleibliche nicht ausbleiben, daß der Chor, der stimmlich gleich beieinander geblieben war, dem Missetäter für Recht verkündete, sein Los sei erfüllt, er sterbe den Tod der Verfluchten, unter dem Tempel der zürnenden Gottheit habe er lebend ins Grab einzugehen.
Die Entrüstung der Amneris über diese pfäffische Härte mußte man sich nach Kräften selber einbilden, denn hier brach die Wiedergabe ab, Hans Castorp mußte die Platte wechseln, was er mit stillen und knappen Bewegungen, gleichsam mit niedergeschlagenen Augen, tat, und wenn er sich wieder zum Lauschen niedergelassen hatte, war es schon des Melodramas letzte Szene, die er vernahm: das Schlußduett des Radames und der Aida, gesungen auf dem Grunde ihres Kellergrabes, während über ihren Köpfen bigotte und grausame Priester im Tempel ihren Kult feierten, die Hände spreizten, sich in dumpfem Gemurmel ergingen ... „Tu – in questa tomba?!“ schmetterte die unbeschreiblich ansprechende, zugleich süße und heldenhafte Stimme des Radames entsetzt und entzückt ... Ja, sie hatte sich zu ihm gefunden, die Geliebte, um derentwillen er Ehre und Leben verwirkt, sie hatte ihn hier erwartet, sich mit ihm einschließen lassen, um mit ihm zu sterben, und die Gesänge, die sie in dieser Sache, zuweilen unterbrochen von dem dumpfen Getön des Zeremoniells im oberen Stockwerk, miteinander tauschten, oder zu denen sie sich vereinigten, – sie waren es eigentlich, die es dem einsam-nächtlichen Zuhörer in tiefster Seele angetan hatten: in Hinsicht auf die Umstände sowohl, wie auf ihren musikalischen Ausdruck. Es war vom Himmel die Rede in diesen Gesängen, aber sie selbst waren himmlisch, und sie wurden himmlisch vorgetragen. Die melodische Linie, die Radames’ und Aidas Stimmen einzeln und dann in Vereinigung unersättlich nachzogen, diese einfache und selige, um Tonika und Dominante spielende Kurve, die vom Grundton zu lang betontem Vorhalt, einen halben Ton vor der Oktave, aufstieg und nach flüchtiger Berührung mit dieser sich zur Quinte wandte, erschien dem Lauscher als das Verklärteste, Bewunderungswürdigste, was ihm je untergekommen. Doch wäre er in das Lautliche weniger verliebt gewesen, ohne die zum Grunde liegende Situation, die sein Gemüt für die daraus erwachsende Süße erst recht empfänglich machte. Es war so schön, daß Aida sich zu dem verlorenen Radames gefunden hatte, um sein Grabesschicksal mit ihm zu teilen in Ewigkeit! Mit Recht protestierte der Verurteilte gegen das Opfer so lieblichen Lebens, aber seinem zärtlich verzweifelten „No, no! troppo sei bella“ war doch das Entzücken endgültiger Vereinigung mit derjenigen anzumerken, die er nie wiederzusehen gemeint hatte, und dieses Entzücken, diese Dankbarkeit ihm deutlich nachzufühlen, bedurfte es für Hans Castorp keines Aufgebotes an Einbildungskraft. Was er aber letztlich empfand, verstand und genoß, während er mit gefalteten Händen auf die schwarze kleine Jalousie blickte, zwischen deren Leisten dies alles hervorblühte, das war die siegende Idealität der Musik, der Kunst, des menschlichen Gemüts, die hohe und unwiderlegliche Beschönigung, die sie der gemeinen Gräßlichkeit der wirklichen Dinge angedeihen ließ. Man mußte sich nur vor Augen führen, was hier, nüchtern genommen, geschah! Zwei lebendig Begrabene würden, die Lungen voll Grubengas, hier miteinander, oder, noch schlimmer, einer nach dem anderen, an Hungerkrämpfen verenden, und dann würde an ihren Körpern die Verwesung ihr unaussprechliches Werk tun, bis zwei Gerippe unterm Gewölbe lagerten, deren jedem es völlig gleichgültig und unempfindlich sein würde, ob es allein oder zu zweien lagerte. Das war die reale und sachliche Seite der Dinge – eine Seite und Sache für sich, die vor dem Idealismus des Herzens überhaupt nicht in Betracht kam, vom Geiste der Schönheit und der Musik aufs Triumphalste in den Schatten gestellt wurde. Für Radames’ und Aidas Operngemüter gab es das sachlich Bevorstehende nicht. Ihre Stimmen schwangen sich unisono zum seligen Oktavenvorhalt auf, versichernd, nun öffne sich der Himmel und ihrem Sehnen erstrahle das Licht der Ewigkeit. Die tröstliche Kraft dieser Beschönigung tat dem Zuhörer außerordentlich wohl und trug nicht wenig dazu bei, daß diese Nummer seines Leibprogramms ihm so besonders am Herzen lag.
Er pflegte sich auszuruhen von ihren Schrecken und Verklärungen bei einer zweiten Pièce, die kurzläufig, aber von konzentriertem Zauber war, – viel friedlicher ihrem Inhalt nach, als jene erste, ein Idyll, aber ein raffiniertes Idyll, gemalt und gestaltet mit den zugleich sparsamen und verwickelten Mitteln neuester Kunst. Es war ein reines Orchesterstück, ohne Gesang, ein symphonisches Präludium französischen Ursprungs, bewerkstelligt mit einem für zeitgenössische Verhältnisse kleinen Apparat, jedoch mit allen Wassern moderner Klangtechnik gewaschen und klüglich danach angetan, die Seele in Traum zu spinnen.
Der Traum, den Hans Castorp dabei träumte, war dieser: Rücklings lag er auf einer mit bunten Sternblumen besäten, von Sonne beglänzten Wiese, einen kleinen Erdhügel unter dem Kopf, das eine Bein etwas hochgezogen, das andere darüber gelegt, – wobei es jedoch Bocksbeine waren, die er kreuzte. Seine Hände fingerten, nur zu seinem eigenen Vergnügen, da die Einsamkeit über der Wiese vollkommen war, an einem kleinen Holzgebläse, das er im Munde hielt, einer Klarinette oder Schalmei, der er friedlich-nasale Töne entlockte: einen nach dem anderen, wie sie eben kommen wollten, aber doch in geglücktem Reigen, und so stieg das sorglose Genäsel zum tiefblauen Himmel auf, unter dem das feine, leicht vom Winde bewegte Blätterwerk einzeln stehender Birken und Eschen in der Sonne flimmerte. Doch war sein beschauliches und unverantwortlich-halbmelodisches Dudeln nicht lange die einzige Stimme der Einsamkeit. Das Summen der Insekten in der sommerheißen Luft über dem Grase, der Sonnenschein selbst, der leichte Wind, das Schwanken der Wipfel, das Glitzern des Blätterwerks, – der ganze sanft bewegte Sommerfriede umher wurde gemischter Klang, der seinem einfältigen Schalmeien eine immer wechselnde und immer überraschend gewählte harmonische Deutung gab. Die symphonische Begleitung trat manchmal zurück und verstummte; aber Hans mit den Bocksbeinen blies fort und lockte mit der naiven Eintönigkeit seines Spiels den ausgesucht kolorierten Klangzauber der Natur wieder hervor, – welcher endlich nach einem abermaligen Aussetzen, in süßer Selbstübersteigerung, durch Hinzutritt immer neuer und höherer Instrumentalstimmen, die rasch nacheinander einfielen, alle verfügbare, bis dahin gesparte Fülle gewann, für einen flüchtigen Augenblick, dessen wonnevoll-vollkommenes Genügen aber die Ewigkeit in sich trug. Der junge Faun war sehr glücklich auf seiner Sommerwiese. Hier gab es kein „Rechtfertige dich!“, keine Verantwortung, kein priesterliches Kriegsgericht über einen, der der Ehre vergaß und abhanden kam. Hier herrschte das Vergessen selbst, der selige Stillstand, die Unschuld der Zeitlosigkeit: Es war die Liederlichkeit mit bestem Gewissen, die wunschbildhafte Apotheose all und jeder Verneinung des abendländischen Aktivitätskommandos, und die davon ausgehende Beschwichtigung machte dem nächtlichen Musikanten die Platte vor vielen wert. –
Da war eine dritte ... Es waren eigentlich wiederum mehrere, zusammengehörig, ineinandergehend, drei oder vier, denn die Tenorarie, die vorkam, nahm allein eine bis zur Mitte beringte Seite für sich in Anspruch. Wieder war das etwas Französisches, aus einer Oper, die Hans Castorp gut kannte, die er wiederholt im Theater gehört und gesehen und auf deren Handlung er einmal sogar gesprächsweise – und zwar in einem sehr entscheidenden Gespräch – eine Anspielung gemacht hatte ... Es war im zweiten Akt, in der spanischen Schenke, einer geräumigen Spelunke, dielenartig, mit Tüchern geschmückt und von defekter maurischer Architektur. Carmens warme, ein wenig rauhe, aber durch Rassigkeit einnehmende Stimme erklärte, tanzen zu wollen vor dem Sergeanten, und schon hörte man ihre Kastagnetten klappern. In demselben Augenblick aber erschollen aus einiger Entfernung Trompeten, Clairons, ein wiederholtes militärisches Signal, das dem Kleinen nicht wenig in die Glieder fuhr. „Halt! Einen Augenblick!“ rief er und spitzte die Ohren wie ein Pferd. Und da Carmen „Warum?“ fragte und „was es denn gäbe?“: „Hörst du nicht?“ rief er, ganz erstaunt, daß ihr das nicht eingehe, wie ihm. Es seien ja die Trompeten aus der Kaserne, die das Zeichen gäben. „Zur Heimkehr naht die Frist“, sagte er opernhaft. Aber die Zigeunerin konnte das nicht begreifen und wollte es vor allem auch gar nicht. Desto besser, meinte sie halb dumm, halb frech, da brauchten sie keine Kastagnetten, der Himmel selbst schicke ihnen Musik zum Tanz und darum: Lalalala! – Er war außer sich. Sein eigener Enttäuschungsschmerz trat ganz zurück hinter dem Bemühen, ihr klarzumachen, um was es sich handle, und daß keine Verliebtheit der Welt gegen dieses Signal aufkomme. Wie war es denn möglich, daß sie etwas so Fundamentales und Unbedingtes nicht verstand! „Ich muß nun fort, nach Haus, ins Quartier, zum Appell!“ rief er, verzweifelt über eine Ahnungslosigkeit, die ihm das Herz doppelt so schwer machte, als es ohnedies gewesen wäre. Da aber mußte man Carmen hören! Sie war wütend, sie war in tiefster Seele empört, ihre Stimme war ganz und gar betrogene und beleidigte Liebe – oder sie stellte sich so. „Ins Quartier? Zum Appell?“ Und ihr Herz? Und ihr gutes, zärtliches Herz, das in seiner Schwäche – ja, sie gebe es zu: in seiner Schwäche! – bereit gewesen sei, ihm mit Gesang und Tanz die Zeit zu kürzen? „Traterata!“ und sie hob mit wildem Hohn die gerollte Hand an den Mund, um das Clairon nachzuahmen. „Traterata!“ Und das genüge. Da springe der Dummkopf in die Höhe und wolle fort. Gut denn, fort mit ihm! Hier sein Helm, sein Säbel und Gehänge! Machen, machen, machen solle er, daß er in die Kaserne komme! – Er bat um Erbarmen. Aber sie fuhr fort in ihrem glühenden Hohn, indem sie tat, als sei sie er, der beim Schall der Hörner sein bißchen Verstand verloren habe. Traterata, zum Appell! Barmherziger Himmel, er werde noch zu spät kommen! Nur fort, denn es rufe ja zum Appelle, und da störe er selbstverständlich auf wie ein Narr, in dem Augenblick, wo sie, Carmen, für ihn habe tanzen wollen. Das, das, das sei seine Liebe zu ihr! –
Qualvolle Lage! Sie verstand nicht. Das Weib, die Zigeunerin konnte und wollte nicht verstehen. Sie wollte es nicht, – denn ohne jeden Zweifel: in ihrer Wut, ihrem Hohn war etwas über den Augenblick und das Persönliche Hinausgehende, ein Haß, eine Urfeindschaft gegen das Prinzip, das durch diese französischen Clairons – oder spanischen Hörner – nach dem verliebten kleinen Soldaten rief, und über das zu triumphieren ihr höchster, eingeborener, überpersönlicher Ehrgeiz war. Sie besaß ein sehr einfaches Mittel dazu: Sie behauptete, wenn er gehe, so liebe er sie nicht; und das war genau das, was zu hören José dort drinnen im Kasten nicht ertrug. Er beschwor sie, ihn zu Worte kommen zu lassen. Sie wollte nicht. Da zwang er sie – es war ein verteufelt ernster Moment. Fatale Klänge lösten sich aus dem Orchester, ein düster drohendes Motiv, das sich, wie Hans Castorp wußte, durch die ganze Oper bis zum katastrophalen Ausgang zog und auch die Einleitung zu des kleinen Soldaten Arie bildete, der neuen Platte, die nun einzulegen war.
„Hier an dem Herzen treu geborgen“ – José sang das wunderschön; Hans Castorp ließ die Scheibe auch einzeln, außer dem vertrauten Zusammenhange öfters laufen und lauschte stets in achtsamster Sympathie. Es war inhaltlich nicht weit her mit der Arie, aber ihr flehender Gefühlsausdruck war im höchsten Grade rührend. Der Soldat sang von der Blume, die Carmen ihm am Anfang ihrer Bekanntschaft zugeworfen, und die im schweren Arrest, worein er um ihretwillen geraten, sein ein und alles gewesen sei. Er gestand tief erschüttert, er habe augenblicksweise dem Schicksal geflucht, weil es zugelassen hatte, daß er Carmen je mit Augen gesehen. Aber gleich habe er die Lästerung bitter bereut und auf den Knien zu Gott um ein Wiedersehen gebetet. Da – und dies Da war der gleiche hohe Ton, mit dem er unmittelbar vorher sein „Ach, teures Mädchen“ begonnen, – da – und nun war in der Begleitung aller Instrumentalzauber los, der nur irgend geeignet sein mochte, den Schmerz, die Sehnsucht, die verlorene Zärtlichkeit, die süße Verzweiflung des kleinen Soldaten zu malen, – da hatte sie vor seinen Blicken gestanden in all ihrem schlechthin verhängnishaften Reiz, so daß er klar und deutlich das eine gefühlt hatte, daß es „um ihn getan“ („getan“ mit einem schluchzenden ganztönigen Vorschlag auf der ersten Silbe), auf immer also um ihn getan sei. „Du meine Wonne, mein Entzücken!“ sang er verzweifelt in einer wiederkehrenden und auch vom Orchester noch einmal auf eigene Hand geklagten Tonfolge, die vom Grundton zwei Stufen aufstieg und sich von dort mit Innigkeit zur tieferen Quinte wandte. „Dein ist mein Herz“, beteuerte er abgeschmackter, aber allerzärtlichster Weise zum Überfluß, indem er sich eben dieser Figur bediente, ging dann die Tonleiter bis zur sechsten Stufe durch, um hinzuzufügen: „Und ewig dir gehör ich an!“, ließ danach die Stimme um zehn Töne sinken und bekannte erschüttert sein „Carmen, ich liebe dich!“, dessen Ausklang von einem wechselnd harmonisierten Vorhalt schmerzlich verzögert wurde, bevor das „dich“ mit der vorhergehenden Silbe sich in den Grundakkord ergab.
„Ja, ja!“ sagte Hans Castorp schwergemut und dankbar und legte auch noch das Finale ein, wo alle den jungen José dazu beglückwünschten, daß ihm durch das Renkontre mit dem Offizier der Rückweg abgeschnitten war, so daß er nun fahnenflüchtig werden mußte, wie Carmen es zu seinem Entsetzen schon vorher von ihm verlangt hatte.
„O folg uns in felsige Klüfte,
wilder, doch rein wehen dort die Lüfte –“
sangen sie ihm im Chor, – man konnte sie ganz gut verstehen.
„Offen die Welt – nicht Sorgen drücken;
unbegrenzt dein Vaterland;
und voran: das seligste Entzücken,
die Freiheit lacht! Die Freiheit lacht!“
„Ja, ja!“ sagte er abermals und ging zu etwas Viertem über, etwas sehr Liebem und Gutem.
Daß es wieder etwas Französisches war, ist so wenig unsere Schuld, wie es auf unsere Rechnung kommt, daß auch wieder militärischer Geist obwaltete. Es war eine Einlage, eine Solo-Gesangsnummer, ein „Gebet“ aus der Faust-Oper von Gounod. Jemand trat auf, jemand Erz-Sympathisches, der Valentin hieß, den aber Hans Castorp im Stillen anders nannte, mit einem vertrauteren, wehmutsvollen Namen, dessen Träger er in hohem Grade mit der aus dem Kasten laut werdenden Person identifizierte, obgleich diese eine viel schönere Stimme hatte. Es war ein starker und warmer Bariton, und sein Gesang war dreiteilig; er bestand aus zwei miteinander nahverwandten Eckstrophen, die frommen Charakters, ja, fast im Stile des protestantischen Chorals gehalten waren, und einer Mittelstrophe keck-chevaleresken Mutes, kriegerisch, leichtsinnig, dabei aber ebenfalls fromm; und das war eigentlich das Französisch-Militärische daran. Der Unsichtbare sang:
„Da ich nun verlassen soll
mein geliebtes Heimatland“ –
und er wandte unter diesen Umständen sein Flehen zum Herrn des Himmels, daß er ihm unterdessen das holde Schwesterblut schützen möge! Es ging in den Krieg, der Rhythmus sprang um, wurde unternehmend, Gram und Sorge mochten zum Teufel fahren, er, der Unsichtbare wollte sich dort, wo die Schlacht am heißesten, die Gefahr am größten war, keck, fromm und französisch dem Feinde entgegenwerfen. Wenn ihn aber Gott zu Himmelshöhen rufe, sang er, dann wolle er schützend von dort auf „dich“ herniedersehen. Mit diesem „dich“ war das Schwesterblut gemeint; aber es rührte Hans Castorp trotzdem in tiefster Seele, und diese seine Ergriffenheit ließ nicht nach bis zum Schluß, wo der Brave dort drinnen zu mächtigen Choralakkorden sang:
„O Herr des Himmels, hör mein Flehn,
in deinem Schutz laß Margarete stehn!“
Weiter war es nichts mit dieser Platte. Wir glaubten, kurz von ihr reden zu sollen, weil Hans Castorp sie so ausnehmend gern hatte, dann aber auch, weil sie bei späterer, seltsamer Gelegenheit noch eine gewisse Rolle spielte. Für jetzt kommen wir auf ein fünftes und letztes Stück aus der Gruppe der engeren Favoriten, – welches nun freilich gar nichts Französisches mehr war, sondern etwas sogar besonders und exemplarisch Deutsches, auch nichts Opernhaftes, sondern ein Lied, eines jener Lieder, – Volksgut und Meisterwerk zugleich und eben durch dieses Zugleich seinen besonderen geistig-weltbildlichen Stempel empfangend ... Wozu die Umschweife? Es war Schuberts „Lindenbaum“, es war nichts anderes, als dies allvertraute „Am Brunnen vor dem Tore“.
Ein Tenorist trug es vor zum Klavier, ein Bursche von Takt und Geschmack, der seinen zugleich simplen und gipfelhohen Gegenstand mit vieler Klugheit, musikalischem Feingefühl und rezitatorischer Umsicht zu behandeln wußte. Wir alle wissen, daß das herrliche Lied im Volks- und Kindermunde etwas anders lautet, denn als Kunstgesang. Dort wird es meist, vereinfacht, nach der Hauptmelodie strophisch durchgesungen, während diese populäre Linie im Original schon bei der zweiten der achtzeiligen Strophen in Moll variiert, um beim fünften Vers, überaus schön, wieder in Dur einzulenken, bei den darauf folgenden „kalten Winden“ aber und dem vom Kopfe fliegenden Hute dramatisch aufgelöst wird und sich erst bei den letzten vier Versen der dritten Strophe wiederfindet, die wiederholt werden, damit die Weise sich aussingen könne. Die eigentlich bezwingende Wendung der Melodie erscheint dreimal und zwar in ihrer modulierenden zweiten Hälfte, das drittemal also bei der Reprise der letzten Halbstrophe „Nun bin ich manche Stunde“. Diese zauberhafte Wendung, der wir mit Worten nicht zu nahe treten mögen, liegt auf den Satzfragmenten „So manches liebe Wort“, „Als riefen sie mir zu“, „Entfernt von jenem Ort“, und die helle und warme, atemkluge und zu einem maßvollen Schluchzen geneigte Stimme des Tenoristen sang sie jedesmal mit so viel intelligentem Gefühl für ihre Schönheit, daß sie dem Zuhörer auf ungeahnte Weise ans Herz griff, zumal der Künstler seine Wirkung durch außerordentlich innige Kopftöne bei den Zeilen „Zu ihm mich immerfort“, „Hier findst du deine Ruh“ zu steigern wußte. Beim wiederholten letzten Verse aber, diesem „Du fändest Ruhe dort!“ sang er das „fändest“ das erstemal aus voller, sehnsüchtiger Brust und erst das zweitemal wieder als zartestes Flageolett.
Soviel vom Liede und seinem Vortrag. Wir mögen uns wohl schmeicheln, es sei uns in früheren Fällen gelungen, unseren Zuhörern ein ungefähres Verständnis für die intime Teilnahme einzuflößen, die Hans Castorp den Vorzugs-Programmnummern seiner nächtlichen Konzerte entgegenbrachte. Allein begreiflich zu machen, was diese letzte, dies Lied, der alte „Lindenbaum“ ihm bedeutete, das ist nun freilich ein Unternehmen der kitzlichsten Art, und höchste Behutsamkeit der Intonation ist vonnöten, wenn nicht mehr verdorben, als gefördert werden soll.
Wir wollen es so stellen: Ein geistiger, das heißt ein bedeutender Gegenstand ist eben dadurch „bedeutend“, daß er über sich hinausweist, daß er Ausdruck und Exponent eines Geistig-Allgemeineren ist, einer ganzen Gefühls- und Gesinnungswelt, welche in ihm ihr mehr oder weniger vollkommenes Sinnbild gefunden hat, – wonach sich denn der Grad seiner Bedeutung bemißt. Ferner ist die Liebe zu einem solchen Gegenstand ebenfalls und selbst „bedeutend“. Sie sagt etwas aus über den, der sie hegt, sie kennzeichnet sein Verhältnis zu jenem Allgemeinen, jener Welt, die der Gegenstand vertritt, und die in ihm, bewußt oder unbewußt, mitgeliebt wird.
Will man glauben, daß unser schlichter Held nach so und so vielen Jährchen hermetisch-pädagogischer Steigerung tief genug ins geistige Leben eingetreten war, um sich der „Bedeutsamkeit“ seiner Liebe und ihres Objektes bewußt zu sein? Wir behaupten und erzählen, daß er es war. Das Lied bedeutete ihm viel, eine ganze Welt und zwar eine Welt, die er wohl lieben mußte, da er sonst in ihr stellvertretendes Gleichnis nicht so vernarrt gewesen wäre. Wir wissen, was wir sagen, wenn wir – vielleicht etwas dunklerweise – hinzufügen, daß sein Schicksal sich anders gestaltet hätte, wenn sein Gemüt den Reizen der Gefühlssphäre, der allgemein geistigen Haltung, die das Lied auf so innig-geheimnisvolle Weise zusammenfaßte, nicht im höchsten Grade zugänglich gewesen wäre. Eben dieses Schicksal aber hatte Steigerungen, Abenteuer, Einblicke mit sich gebracht, Regierungsprobleme in ihm aufgeworfen, die ihn zu ahnungsvoller Kritik an dieser Welt, diesem ihrem allerdings absolut bewunderungswürdigen Gleichnis, dieser seiner Liebe reif gemacht hatten und danach angetan waren, sie alle drei unter Gewissenszweifel zu stellen.
Der müßte nun freilich von Liebesdingen rein gar nichts verstehen, der meinte, durch solche Zweifel geschähe der Liebe Abtrag. Sie bilden im Gegenteil ihre Würze. Sie sind es erst, die der Liebe den Stachel der Leidenschaft verleihen, so daß man schlechthin die Leidenschaft als zweifelnde Liebe bestimmen könnte. Worin bestanden denn aber Hans Castorps Gewissens- und Regierungszweifel an der höheren Erlaubtheit seiner Liebe zu dem bezaubernden Liede und seiner Welt? Welches war diese dahinter stehende Welt, die seiner Gewissensahnung zufolge eine Welt verbotener Liebe sein sollte?
Es war der Tod.
Aber das war ja erklärter Wahnsinn! Ein so wunderherrliches Lied! Reines Meisterwerk, geboren aus letzten und heiligsten Tiefen des Volksgemüts; ein höchster Besitz, das Urbild des Innigen, die Liebenswürdigkeit selbst! Welch häßliche Verunglimpfung!
Ei ja, ja, ja, das war recht schön, so mußte wohl jeder Redliche sprechen. Und dennoch stand hinter diesem holden Produkte der Tod. Es unterhielt Beziehungen zu ihm, die man lieben mochte, aber nicht ohne sich von einer bestimmten Unerlaubtheit solcher Liebe ahnungsvoll-regierungsweise Rechenschaft zu geben. Es mochte seinem eigenen ursprünglichen Wesen nach nicht Sympathie mit dem Tode, sondern etwas sehr Volkstümlich-Lebensvolles sein, aber die geistige Sympathie damit war Sympathie mit dem Tode, – lautere Frömmigkeit, das Sinnige selbst an ihrem Anfang, das sollte auch nicht aufs Leiseste bestritten werden; aber in ihrer Folge lagen Ergebnisse der Finsternis.
Was redete er sich da ein! – Er hätte es sich von euch nicht ausreden lassen. Ergebnisse der Finsternis. Finstere Ergebnisse. Folterknechtssinn und Menschenfeindlichkeit in spanischem Schwarz mit der Tellerkrause und Lust statt Liebe – als Ergebnis treublickender Frömmigkeit.
Wahrhaftig, der Literat Settembrini war nicht eben der Mann seines unbedingten Vertrauens, aber er erinnerte sich einiger Belehrung, die der klare Mentor ihm einst, vor Zeiten, am Anfang seiner hermetischen Laufbahn, über „Rückneigung“, die geistige „Rückneigung“ in gewisse Welten hatte zuteil werden lassen, und er fand es ratsam, diese Unterweisung mit Vorsicht auf seinen Gegenstand zu beziehen. Herr Settembrini hatte das Phänomen jener Rückneigung als „Krankheit“ bezeichnet, – das Weltbild selbst, die Geistesepoche, der die Rückneigung galt, mochte seinem pädagogischen Sinn wohl als „krankhaft“ erscheinen. Wie denn nun aber! Hans Castorps holdes Heimwehlied, die Gemütssphäre, der es angehörte, und die Liebesneigung zu dieser Sphäre sollten – „krank“ sein? Mit nichten! Sie waren das Gemütlich-Gesundeste auf der Welt. Allein das war eine Frucht, die, frisch und prangend gesund diesen Augenblick oder eben noch, außerordentlich zu Zersetzung und Fäulnis neigte, und, reinste Labung des Gemütes, wenn sie im rechten Augenblicke genossen wurde, vom nächsten unrechten Augenblicke an Fäulnis und Verderben in der genießenden Menschheit verbreitete. Es war eine Lebensfrucht, vom Tode gezeugt und todesträchtig. Es war ein Wunder der Seele, – das höchste vielleicht vor dem Angesicht gewissenloser Schönheit und gesegnet von ihr, jedoch mit Mißtrauen betrachtet aus triftigen Gründen vom Auge verantwortlich regierender Lebensfreundschaft, der Liebe zum Organischen, und Gegenstand der Selbstüberwindung nach letztgültigem Gewissensspruch.
Ja, Selbstüberwindung, das mochte wohl das Wesen der Überwindung dieser Liebe sein, – dieses Seelenzaubers mit finsteren Konsequenzen! Hans Castorps Gedanken oder ahndevolle Halbgedanken gingen hoch, während er in Nacht und Einsamkeit vor seinem gestutzten Musiksarge saß, – sie gingen höher, als sein Verstand reichte, es waren alchimistisch gesteigerte Gedanken. O, er war mächtig, der Seelenzauber! Wir alle waren seine Söhne, und Mächtiges konnten wir ausrichten auf Erden, indem wir ihm dienten. Man brauchte nicht mehr Genie, nur viel mehr Talent, als der Autor des Lindenbaumliedes, um als Seelenzauberkünstler dem Liede Riesenmaße zu geben und die Welt damit zu unterwerfen. Man mochte wahrscheinlich sogar Reiche darauf gründen, irdisch-allzu irdische Reiche, sehr derb und fortschrittsfroh und eigentlich gar nicht heimwehkrank, – in welchen das Lied zur elektrischen Grammophonmusik verdarb. Aber sein bester Sohn mochte doch derjenige sein, der in seiner Überwindung sein Leben verzehrte und starb, auf den Lippen das neue Wort der Liebe, das er noch nicht zu sprechen wußte. Es war so wert, dafür zu sterben, das Zauberlied! Aber wer dafür starb, der starb schon eigentlich nicht mehr dafür und war ein Held nur, weil er im Grunde schon für das Neue starb, das neue Wort der Liebe und der Zukunft in seinem Herzen – –
Das also waren Hans Castorps Vorzugsplatten.