Der große Stumpfsinn

Noch einmal hören wir Hofrat Behrens’ Stimme – horchen wir gut hin! Wir vernehmen sie vielleicht zum letztenmal! Einmal endigt selbst diese Geschichte; sie hat die längste Zeit gedauert, oder vielmehr: Ihre inhaltliche Zeit ist derart ins Rollen gekommen, daß kein Halten mehr ist, daß auch ihre musikalische zur Neige geht, und daß vielleicht keine Gelegenheit mehr unterkommen wird, den aufgeräumten Tonfall zu belauschen der Sprache des redensartlichen Rhadamanthys. Er sagte zu Hans Castorp:

„Castorp, alter Schwede, Sie langweilen sich. Sie lassen das Maul hängen, ich sehe es alle Tage, die Verdrossenheit steht Ihnen an der Stirn geschrieben. Sie sind ein blasierter Balg, Castorp, Sie sind verhätschelt mit Sensationen, und wenn Ihnen nicht alle Tage was Erstklassiges geboten wird, so mucken und muffen Sie über die Sauregurkenzeit. Hab ich recht oder unrecht?“

Hans Castorp schwieg, und da er das tat, so mußte wohl wirklich Finsternis walten in seinem Innern.

„Recht hab ich, wie immer“, gab Behrens sich selbst zur Antwort. „Und eh Sie mir hier das Gift der Reichsverdrossenheit verbreiten, Sie mißvergnügter Staatsbürger, sollen Sie doch sehen, daß Sie durchaus nicht von Gott und Welt verlassen sind, sondern daß die Obrigkeit ein Auge auf Sie hat, ein unverwandtes Auge, mein Lieber, und rastlos auf Ihre Divertierung bedacht ist. Der alte Behrens ist auch noch da. Na, nun mal ohne Spaß mein Junge! Es ist mir was eingefallen in Ihrer Sache, ich hab mir, weiß Gott, in schlaflosen Nächten für Sie was ausgedacht. Man könnte von einer Erleuchtung reden – tatsächlich versprech ich mir viel von meiner Idee, das heißt nicht mehr und nicht weniger, als Ihre Entgiftung und triumphale Heimkehr in ungeahnter Bälde.“

„Da machen Sie Augen“, fuhr er nach einer Kunstpause fort, obgleich Hans Castorp keinerlei Augen machte, sondern ihn ziemlich schläfrig und zerstreut betrachtete, „und haben keine Ahnung, wie der alte Behrens es meinen könnte. Ich meine es aber so. Mit Ihnen stimmt etwas nicht, Castorp, das wird Ihrer werten Apperzeption ja nicht entgangen sein. Es stimmt insofern nicht, als Ihre Vergiftungserscheinungen sich schon seit längerem auf den zweifellos sehr gebesserten lokalen Zustand nicht mehr recht reimen lassen – ich meditiere nicht erst seit gestern darüber. Wir haben hier Ihr neuestes Photo ... halten wir den Zauber mal gegen das Licht. Sie sehen, da findet der ärgste Nörgler und Schwarzseher, wie unser kaiserlicher Herr immer sagt, nicht allzuviel mehr zu erinnern. Ein paar Herde sind ganz resorbiert, das Nest ist kleiner geworden und schärfer umgrenzt, was, wie Sie gelehrterweise wissen, auf Heilung deutet. Aus diesem Befund ist die Unsolidität Ihres Wärmehaushalts nicht recht zu erklären, Mann; der Arzt sieht sich in die Notwendigkeit versetzt, nach neuen Ursachen zu fahnden.“

Hans Castorps Kopfbewegung drückte leidlich höfliche Neugier aus.

„Nun werden Sie denken, Castorp, der olle Behrens muß zugeben, daß er die Behandlung verfehlt hat. Da hätten Sie aber einen Bock geschossen und wären der Sachlage nicht gerecht geworden und dem ollen Behrens auch nicht. Ihre Behandlung war nicht verfehlt, sie war nur möglicherweise zu einseitig orientiert. Die Möglichkeit ist mir aufgegangen, daß Ihre Symptome von jeher nicht ausschließlich auf tuberculosis zurückzuführen gewesen sind, und ich leite diese Möglichkeit aus der Wahrscheinlichkeit ab, daß sie heute überhaupt nicht mehr darauf zurückzuführen sind. Es muß eine andere Störungsquelle vorhanden sein. Nach meiner Meinung haben Sie Kokken.“

„Nach meiner tiefinnersten Überzeugung“, wiederholte verstärkend der Hofrat, nachdem er die Kopfbewegung entgegengenommen, die hiernach auf seiten Hans Castorps fällig gewesen, „haben Sie Streptos – worüber Sie sich übrigens nicht gleich zu entsetzen brauchen.“

(Es konnte von Entsetzen gar nicht die Rede sein. Hans Castorps Miene drückte vielmehr eine Art von ironischer Anerkennung, sei es des ihm begegnenden Scharfsinns, sei es des neuen Würdenstandes aus, in den der Hofrat ihn hypothetisch versetzte.)

„Kein Grund zur Panik!“ variierte dieser sein Zureden. „Kokken hat jeder. Streptos hat jeder Esel. Sie brauchen sich gar nichts einzubilden. Wir wissen erst seit neulich, daß einer Streptokokken im Blut haben kann, ohne irgendwie ansehnliche Infektionserscheinungen zu produzieren. Wir stehen vor dem vielen Kollegen noch gar nicht bekannten Ergebnis, daß auch Tuberkeln im Blute vorkommen können, ganz ohne Konsequenzen. Wir sind keine drei Schritte mehr von der Auffassung entfernt, daß die Tuberkulose eigentlich eine Blutkrankheit ist.“

Hans Castorp fand das recht bemerkenswert.

„Wenn ich also sage: Streptos,“ fing Behrens wieder an, „so dürfen Sie natürlich nicht an das bekannte schwere Krankheitsbild denken. Ob diese Kleinen von den Meinen sich überhaupt bei Ihnen angesiedelt haben, muß die baktereologische Blutuntersuchung zeigen. Aber ob Ihre Febrilität von ihnen herrührt, gesetzt, daß sie vorhanden sind, das lehrt dann erst die Wirkung der Streptovakzinkur, die wir diesfalls einzuleiten haben. Das ist der Weg, lieber Freund, und ich verspreche mir, wie gesagt, das Unvorhergesehenste davon. So langwierig Tuberkulose ist, so rasch können Erkrankungen dieser Art heute geheilt werden, und wenn Sie überhaupt auf die Einspritzungen reagieren, so sind Sie in sechs Wochen springgesund. Was sagen Sie nun? Ist der olle Behrens auf seinem Posten, he?“

„Es ist ja vorläufig nur eine Hypothese“, sagte Hans Castorp schlaff.

„Eine beweisbare Hypothese! Eine höchst fruchtbare Hypothese!“ versetzte der Hofrat. „Sie werden sehen, wie fruchtbar sie ist, wenn auf unseren Kulturen die Kokken wachsen. Morgen nachmittag zapfen wir Sie an, Castorp; nach allen Regeln der Dorfbaderkunst lassen wir Sie zur Ader. Das ist ein Spaß für sich und kann allein schon für Körper und Seele die segensreichsten Effekte zeitigen ...“

Hans Castorp erklärte sich zu der Diversion bereit und bedankte sich recht schön für das ihm gewidmete Augenmerk. Den Kopf gegen die Schulter geneigt, blickte er dem davonrudernden Hofrat nach. Die Ansprache des Chefs traf genau in einen kritischen Moment; Radamanth hatte Mienen und Stimmung des Berggastes ziemlich richtig gedeutet, und sein neues Unternehmen war bestimmt – ausdrücklich dazu bestimmt, die Absicht war gar nicht geleugnet worden –, den toten Punkt zu überwinden, auf den dieser Gast sich seit kurzem gelangt fand, wie eben aus seiner Mimik zu schließen war, die deutlich an diejenige des seligen Joachim erinnerte, zur Zeit, als gewisse wilde und trotzige Entschlüsse sich in ihm vorbereitet hatten.

Es ist mehr zu sagen. Nicht nur er selbst, Hans Castorp, schien sich auf solchem toten Punkte angekommen, sondern ihm war, als ob es mit der Welt, mit allem, mit „dem Ganzen“ eben diese Bewandtnis habe, oder vielmehr: er fand, daß es schwer sei, hier das Besondere vom Allgemeinen zu unterscheiden. Seit dem exzentrischen Ende seiner Verbindung mit einer Persönlichkeit; seit der vielfältigen Bewegung, die dieses Ende über das Haus gebracht, und seit Clawdia Chauchats neuerlichem Ausscheiden aus der Gemeinschaft derer hier oben, dem Lebewohl, das, beschattet von der Tragik großen Versagens, im Geiste ehrerbietiger Rücksicht, zwischen ihr und dem überlebenden Duzbruder ihres Herrn getauscht worden, – seit dieser Wende schien es dem jungen Mann, als sei es mit Welt und Leben nicht ganz geheuer; als stehe es auf eine besondere Weise und zunehmend schief und beängstigend darum; als habe ein Dämon die Macht ergriffen, der, schlimm und närrisch, zwar lange schon beträchtlichen Einfluß geübt, jetzt aber seine Herrschaft so zügellos offen erklärt habe, daß es wohl geheimnisvollen Schrecken einflößen und Fluchtgedanken nahelegen konnte, – der Dämon, des Name Stumpfsinn war.

Man wird urteilen, der Erzähler trage dick und romantisch auf, indem er den Namen des Stumpfsinns mit dem des Dämonischen in Verbindung bringe und ihm die Wirkung mystischen Grauens zuschreibe. Und dennoch fabeln wir nicht, sondern halten uns genau an unseres schlichten Helden persönliches Erlebnis, dessen Kenntnis uns auf eine Weise, die sich freilich der Untersuchung entzieht, gegeben ist, und das schlechthin den Beweis liefert, daß Stumpfsinn unter Umständen solchen Charakter gewinnen und solche Gefühle einflößen kann. Hans Castorp blickte um sich ... Er sah durchaus Unheimliches, Bösartiges, und er wußte, was er sah: Das Leben ohne Zeit, das sorg- und hoffnungslose Leben, das Leben als stagnierend betriebsame Liederlichkeit, das tote Leben.

Geschäftigkeit herrschte darin, Betätigungen von allerlei Art liefen nebeneinander her; doch dann und wann artete eine davon zur wilden Modewut aus, der alles fanatisch unterlag. So hatte die Liebhaberphotographie von jeher in der Berghofwelt eine bedeutende Rolle gespielt; schon zweimal aber – denn wer lange genug hier oben verweilte, konnte die periodische Wiederkehr solcher Epidemien erleben – war die Leidenschaft dafür auf Wochen und Monate zur allgemeinen Narretei geworden, so daß niemand war, der nicht, mit besorgter Miene den Kopf über eine in die Magengrube gestützte Kamera gebeugt, die Blende hätte blinzeln lassen, und das Herumreichen von Abzügen bei Tische kein Ende nahm. Plötzlich war es Ehrensache, selbst zu entwickeln. Die zur Verfügung stehende Dunkelkammer genügte der Nachfrage bei weitem nicht. Man versah Fenster und Balkontüren der Zimmer mit schwarzen Vorhängen; und bei Rotlicht hantierte man so lange mit chemischen Bädern, bis Feuer auskam und der bulgarische Student vom Guten Russentisch um ein Haar zu Asche verbrannt wäre, worauf denn ein Verbot der Anstaltsobrigkeit erging. Bald fand man das einfache Lichtbild abgeschmackt; Blitzlichtaufnahmen und farbige Photographien nach Lumière kamen in Schwung. Man weidete sich an Bildern, auf denen Personen, vom Magnesiumblitz jäh betroffen, mit stieren Augen aus fahl verkrampften Gesichtern blickten, wie Leichen Ermordeter, die man mit offenen Augen aufrecht hingesetzt. Und Hans Castorp bewahrte eine in Pappe gerahmte Glasplatte, die ihn, wenn man sie gegen das Licht hielt, zwischen Frau Stöhr und der elfenbeinfarbenen Levi, von denen die erste einen himmelblauen, die andere einen blutroten Sweater trug, mit kupferigem Angesicht und unter blechgelben Butterblumen, deren eine ihm im Knopfloch strahlte, auf einer giftgrünen Waldwiese zeigte.

Es war da ferner das Briefmarkensammeln, das, alle Zeit von einzelnen betrieben, zeitweise zu allgemeiner Besessenheit um sich griff. Jedermann klebte, schacherte, tauschte. Philatelistische Zeitschriften wurden gehalten, Korrespondenzen mit Spezialgeschäften des In- und Auslandes, mit Fachvereinen und Privatliebhabern unterhalten und erstaunliche Summen zur Gewinnung seltener Wertzeichen selbst von solchen aufgebracht, deren häusliche Verhältnisse den monate- oder jahrelangen Aufenthalt in der Luxusheilstätte nur knapp gestatteten.

Das dauerte so lange, bis eine andere Geckerei zur Herrschaft gelangte und etwa das Anhäufen und unaufhörliche Verzehren von Schokolade der erdenklichsten Sorten zum guten Ton wurde. Alle Welt hatte braune Münder, und die leckersten Darbietungen der Berghofküche fanden faule und krittelnde Genießer, da die Magen mit Milka-Nut, Chocolat à la crème d’amandes, Marquis-Napolitains und goldgesprenkelten Katzenzungen gestopft und davon verstimmt waren.

Das Schweinchenzeichnen mit geschlossenen Augen, inauguriert von höchster Stelle an einem verflossenen Faschingsabend und seitdem viel gepflegt, hatte fortzeugend zu geometrischen Geduldsübungen geführt, denen zeitweise die Geisteskraft aller Berghofgäste und selbst noch die letzten Gedanken und Energiebezeugungen Moribunder gehörten. Wochenlang stand das Haus im Zeichen einer verwickelten Figur, die sich aus nicht weniger als acht großen und kleinen Kreisen und mehreren ineinanderliegenden Dreiecken zusammensetzte. Die Aufgabe war, diese flächige Vielgestalt freihändig in einem Zug zu beschreiben; das höchste Ziel aber, dies endlich auch noch bei sicher verbundenen Augen zu vollbringen, – was schließlich, über geringe Schönheitsfehler billig hinweggesehen, denn doch nur dem Staatsanwalt Paravant gelang, der Hauptträger dieser Scharfsinnsverbohrung war.

Wir wissen, daß er der Mathematik oblag, wissen es vom Hofrat selbst und kennen auch die züchtige Triebfeder dieser Hingabe, deren kühlende, den Fleischesstachel stumpfende Wirkung wir haben preisen hören, und deren allgemeinere Nachfolge gewisse Maßregeln, die man neuerdings zu treffen sich gezwungen gesehen hatte, wahrscheinlich unnötig gemacht haben würde. Sie bestanden hauptsächlich in der Abriegelung aller Balkondurchgänge, an den nicht ganz bis zur Brüstung reichenden Milchglasscheidewänden vorbei, durch kleine Türen, die zur Nacht durch den Bademeister unter populärem Schmunzeln verschlossen wurden. Sehr gesucht waren seitdem die Zimmer im ersten Stock über der Veranda, wo man nach Übersteigung der Balustrade über das vorspringende Glasdach hin, unter Vermeidung der Türchen, von Abteil zu Abteil gelangen konnte. Des Staatsanwalts wegen aber hätte die disziplinäre Neuerung überhaupt nicht eingeführt zu werden brauchen. Die schwere Anfechtung, die von der Erscheinung jener ägyptischen Fatme auf Paravant ausgegangen, war längst überwunden, und sie war die letzte gewesen, die seinem natürlichen Teil zu schaffen gemacht. Mit verdoppelter Inbrunst hatte er sich seitdem der klaräugigen Göttin in die Arme geworfen, von deren kalmierender Macht der Hofrat so Sittliches zu sagen wußte, und das Problem, dem bei Tag und Nacht all sein Sinnen gehörte, an das er all jene Persistenz, die ganze sportliche Zähigkeit wandte, mit der er ehemals, vor seiner oft verlängerten Beurlaubung, welche in völlige Quieszierung überzugehen drohte, die Überführung armer Sünder betrieben hatte, – war kein anderes als die Quadratur des Kreises.

Der entgleiste Beamte hatte sich im Lauf seiner Studien mit der Überzeugung durchdrungen, daß die Beweise, mit denen die Wissenschaft die Unmöglichkeit der Konstruktion erhärtet haben wollte, unstichhaltig seien, und daß die planende Vorsehung ihn, Paravant, darum aus der unteren Welt der Lebendigen entfernt und hierher versetzt habe, weil sie ihn dazu ausersehen, das transzendente Ziel in den Bereich irdisch genauer Erfüllung zu reißen. So stand es mit ihm. Er zirkelte und rechnete, wo er ging und stand, bedeckte Unmassen von Papier mit Figuren, Buchstaben, Zahlen, algebraischen Symbolen, und sein gebräuntes Gesicht, das Gesicht eines scheinbar urgesunden Mannes, trug den visionären und verbissenen Ausdruck der Manie. Sein Gespräch betraf ausschließlich und mit furchtbarer Eintönigkeit die Verhältniszahl pi, diesen verzweifelten Bruch, den das niedrige Genie eines Kopfrechners namens Zacharias Dase eines Tages bis auf zweihundert Dezimalstellen berechnet hatte –, und zwar rein luxuriöserweise, da auch mit zweitausend Stellen die Annäherungsmöglichkeiten an das Unerreichbar-Genaue so wenig erschöpft gewesen wären, daß man sie für unvermindert hätte erklären können. Alles floh den gequälten Denker, denn wen immer ihm an der Brust zu ergreifen gelang, der mußte glühende Redeströme über sich ergehen lassen, bestimmt, seine humane Empfindlichkeit zu wecken für die Schande der Verunreinigung des Menschengeistes durch die heillose Irrationalität dieses mystischen Verhältnisses. Die Fruchtlosigkeit ewiger Multiplikation des Durchmessers mit pi, um den Umfang –, des Quadrats über dem Halbmesser, um den Inhalt des Kreises zu finden, schuf dem Staatsanwalt Anfälle von Zweifeln, ob nicht die Menschheit sich die Lösung des Problems seit Archimedes’ Tagen viel zu schwer gemacht habe und ob diese Lösung nicht in Wahrheit die kindlich einfachste sei. Wie, man sollte die Kreislinie nicht rektifizieren und also auch nicht jede Gerade zum Kreise biegen können? Zuweilen glaubte Paravant sich einer Offenbarung nahe. Man sah ihn öfters noch spät am Abend im verödeten und schlecht erleuchteten Speisesaal an seinem Tische sitzen, auf dessen entblößter Platte er ein Stück Bindfaden sorgfältig in Kreisform legte, um es plötzlich, mit überrumpelnder Gebärde, zur Geraden zu strecken, danach aber, schwer aufgestützt, in bitteres Grübeln zu verfallen. Der Hofrat ging ihm gelegentlich zur Hand bei solchem schwermütigen Getändel, bestärkte ihn überhaupt in seiner Grille. Und auch an Hans Castorp wandte sich der Leidende wohl einmal mit seinem geliebten Gram, einmal und wiederholt, da er auf viel freundliches Verständnis, auf ein teilnehmendes Gefühl für das Geheimnis des Kreises stieß. Er veranschaulichte dem jungen Mann die Verzweiflung pi, indem er ihm eine haarscharfe Zeichnung vorwies, worin mit äußerster Mühe eine Kreislinie zwischen zwei Polygonen mit winzig-zahllosen Seiten, einem eingeschriebenen und einem umschriebenen, bis zur letzt-menschenmöglichen Annäherung eingefangen war. Der Rest aber, die Krümmung, die sich auf eine ätherisch-geistige Art der Rationalisierung durch die berechenbare Umklammerung entzog, – das, sagte der Staatsanwalt mit bebendem Unterkiefer, sei pi! Hans Castorp, bei aller Empfänglichkeit, zeigte sich weniger reizbar gegen pi, als sein Unterredner. Er nannte es eine Eulenspiegelei, riet Herrn Paravant, sich bei seinem Haschespiel doch nicht zu ernstlich zu erhitzen und sprach von den ausdehnungslosen Wendepunkten, aus denen der Kreis von seinem nicht vorhandenen Anfang bis zu seinem nicht vorhandenen Ende bestehe, sowie von der übermütigen Melancholie, die in der ohne Richtungsdauer in sich selber laufenden Ewigkeit liege, mit so gelassener Religiosität, daß vorübergehend eine begütigende Wirkung davon auf den Staatsanwalt ausging.

Übrigens bestimmte seine Natur den guten Hans Castorp zum Vertrauten mehr als eines Hausgenossen, von dem irgendeine fixe Idee Besitz ergriffen, und der darunter litt, daß er bei der leichtlebigen Mehrzahl kein Gehör dafür fand. Ein ehemaliger Bildhauer aus der österreichischen Provinz, ein schon älterer Mann mit weißem Schnurrbart, einer Hakennase und blauen Augen, hatte einen Plan finanzpolitischer Art gefaßt – und ihn, unter Markierung entscheidender Stellen durch Pinselstriche von Sepiawasserfarbe, in Schönschrift aufgesetzt –, der darauf ausging, daß jeder Zeitungsbezieher gehalten sein solle, eine tägliche Teilmenge von 40 Gramm Altzeitungspapier, gesammelt am ersten jeden Monats, abzuliefern, was denn im Jahre rund 14000 Gramm, in zwanzig Jahren aber nicht weniger als 288 Kilo ausmachen und, das Kilo zu 20 Pfennigen berechnet, einen Wert von 57,60 deutschen Mark darstellen werde. Fünf Millionen Abonnenten, so fuhr das Memorandum fort, würden also in zwanzig Jahren an Altzeitungswerten die ungeheuere Summe von 288 Millionen Mark abliefern, wovon ihnen zwei Drittel auf das Neuabonnement möchten angerechnet werden, das sich so verbilligen werde, der Rest aber, ein Drittel, gegen 100 Millionen Mark, für humanitäre Zwecke, zur Finanzierung volkstümlicher Lungenheilstätten, zur Unterstützung bedrängter Talente und so weiter, frei werden würde. Der Plan war ausgearbeitet bis auf die zeichnerische Darstellung des Zentimeterpreisstockes, von dem das Altpapierabholorgan allmonatlich den Wert der gesammelten Papiermenge ablesen sollte, und der gelochten Formulare, mit denen Vergütungsgelder quittiert werden sollten. Er war gerechtfertigt und begründet nach allen Seiten. Die unbesonnene Vergeudung und Vernichtung von Zeitungspapier, das von Unaufgeklärten dem Spülwasser, dem Feuer ausgesetzt werde, bedeute Hochverrat an unserem Walde, an unserer Volkswirtschaft. Papier schonen, Papier sparen heiße Zellstoff, den Waldbestand, Menschenmaterial schonen und sparen, das bei der Fabrikation von Zellstoff und Papier verbraucht werde, nicht minder Menschenmaterial und Kapital. Da ferner Altzeitungspapier auf dem Wege über die Packpapier- und Kartonageerzeugung leicht in vierfache Werte gesteigert werden könne, so werde es Wirtschaftsfaktor von Belang und Unterlage ergiebiger staatlicher und gemeindlicher Besteuerungen werden, die Zeitungsleser als Steuersubjekte entlasten. Kurzum, der Plan war gut, war eigentlich unwidersprechlich, und wenn ihm Unheimlich-Müßiges, ja Finster-Närrisches anhaftete, so eben nur des schiefen Fanatismus wegen, womit der vormalige Künstler eine ökonomische Idee, und gerade nur diese verfolgte und verfocht, mit der es ihm offenbar im Innersten so wenig ernst war, daß er nicht den geringsten Versuch unternahm, sie ins Werk zu setzen ... Hans Castorp hörte dem Mann mit schrägem Kopfe nickend zu, wenn er mit fiebrig beschwingten Worten seinen Heilsgedanken vor ihm propagierte, und untersuchte dabei das Wesen der Verachtung und des Widerwillens, die seine Parteinahme für den Erfinder gegen die gedankenlose Welt beeinträchtigten.

Einige Berghofinsassen trieben Esperanto und wußten sich etwas damit, in dem künstlichen Kauderwelsch bei Tische zu konversieren. Hans Castorp blickte sie finster an, indem er übrigens bei sich selber dafür hielt, daß sie die Schlimmsten nicht seien. Es gab hier seit kurzem eine Gruppe von Engländern, die ein Gesellschaftsspiel eingeführt hatten, welches in nichts anderem bestand, als daß ein Teilnehmer an seinen Nachbarn im Kreise die Frage richtete: „Did you ever see the devil with a night-cap on?“, der Gefragte aber zur Antwort gab: „No! I never saw the devil with a night-cap on“, worauf er die Frage andererseits weitergab – und so immer reihum. Das war entsetzlich. Aber dem armen Hans Castorp war doch noch schlimmer zumute beim Anblick der Patienceleger, die überall im Hause und zu jeder Tageszeit zu beobachten waren. Denn die Leidenschaft für diese Zerstreuung war neuestens derart eingerissen, daß sie buchstäblich das Haus zur Lasterhöhle machte, und Hans Castorp hatte um so mehr Ursache, sich grauenhaft davon berührt zu fühlen, als er selber zeitweise ein Opfer – und zwar vielleicht das hingenommenste – der Seuche war. Die Elferpatience hatte es ihm angetan: jene Form, bei der man die Whistkarte zu je drei Blatt in drei Reihen auslegt und zwei Karten, die zusammen elf ausmachen, sowie die drei Bildkarten, wenn sie offen daliegen, neu bedeckt, bis bei holdem Glücke das Spiel aufgeht. Man sollte nicht für möglich halten, daß Seelenreize, die zur Behexung zu führen vermögen, von einem so einfachen Verfahren ausgehen könnten. Dennoch erprobte Hans Castorp, gleich so vielen anderen, diese Möglichkeit – erprobte sie, da die Ausschweifung niemals heiter ist, mit finsteren Brauen. Verfallen den Launen des Kartenkobolds, berückt von dieser phantastisch wechselnden Gunst, die zuweilen, in leichter Glücksschwebe, von allem Anbeginn die Elferpaare, das Bub-Dame-Königsbild sich häufen ließ, so daß das Spiel schon vergeben war, bevor noch die dritte Staffel sich vollendet hatte (ein flüchtiger Triumph, der die Nerven sogleich zu neuen Versuchen stachelte); dann wieder bis zum neunten und letzten Blatt jede einzige Möglichkeit der Neubedeckung verweigerte, oder den scheinbar schon sicheren Erfolg durch jähe Stockung im letzten Augenblick verflattern ließ, – legte er Patience überall und zu allen Tageszeiten, des Nachts unter den Sternen, des Morgens im bloßen Pyjama, bei Tische und selbst im Traum. Ihm graute, aber er tat es. Und so betraf ihn bei einem Besuche Herr Settembrini, ihn „störend“, wie es von jeher seine Sendung gewesen.

„Accidenti!“ sprach er. „Sie legen sich die Karten, Ingenieur?“

„So ist es nicht gerade gemeint“, erwiderte Hans Castorp. „Ich lege einfach, ich balge mich mit dem abstrakten Zufall. Mich intrigieren seine wetterwendischen Faxen, seine Liebedienerei und dann wieder seine unglaubliche Widerspenstigkeit. Heute morgen gleich nach dem Aufstehen ist die Patience dreimal hintereinander glatt ausgekommen, davon einmal in zwei Reihen, was ein Rekord ist. Wollen Sie glauben, daß ich jetzt zum zweiunddreißigstenmal auslege, ohne ein einziges Mal auch nur bis zur Hälfte des Spieles gekommen zu sein?“

Herr Settembrini blickte ihn, wie sooft schon im Laufe der Jährchen, mit traurigen schwarzen Augen an.

„Jedenfalls finde ich Sie präokkupiert“, sagte er. „Es sieht nicht aus, als ob ich hier für meine Sorgen Trost, und Balsam für den inneren Zwiespalt finden sollte, der mich quält.“

„Zwiespalt?“ wiederholte Hans Castorp und legte ...

„Die Weltlage verwirrt mich“, seufzte der Freimaurer. „Der Balkanbund wird zustandekommen, Ingenieur, alle meine Informationen sprechen dafür. Rußland arbeitet fieberhaft daran, und die Spitze der Kombination ist gegen die österreichisch-ungarische Monarchie gerichtet, ohne deren Zertrümmerung kein Punkt des russischen Programms zu verwirklichen ist. Begreifen Sie meine Skrupel? Ich hasse Wien mit ganzer Kraft, Sie wissen es. Aber soll ich darum die Unterstützung meiner Seele der sarmatischen Despotie zuteil werden lassen, die im Begriffe ist, die Brandfackel an unseren hochadeligen Erdteil zu legen? Andererseits würde ein auch nur gelegentliches diplomatisches Zusammenwirken meines Landes mit Österreich mich wie Entehrung treffen. Das sind Gewissensfragen, welche –“

„Sieben und vier“, sagte Hans Castorp. „Acht und drei. Bub, Dame, König. Es geht ja. Sie bringen mir Glück, Herr Settembrini.“

Der Italiener verstummte. Hans Castorp fühlte seine schwarzen Augen, den Blick von Vernunft und Sittlichkeit, in tiefer Trauer auf sich ruhen, legte indessen noch eine Weile weiter, bevor er, die Wange in die Hand gestützt, mit der falschen und verstockten Unschuldsmiene eines bösen Kindes zu dem vor ihm stehenden Mentor aufblickte.

„Ihre Augen“, sprach dieser, „suchen ganz vergebens zu verhehlen, daß Sie wissen, wie es um Sie steht.“

„Placet experiri“, hatte Hans Castorp die Frechheit zu antworten, und Herr Settembrini verließ ihn, – worauf denn freilich der allein Gebliebene noch längere Zeit, ohne weiterzulegen, den Kopf in die Hand gestützt, an seinem Tische inmitten des weißen Zimmers sitzenblieb, grübelnd und im Innersten grauenhaft berührt von dem nicht geheueren und schiefen Zustand, worin er die Welt befangen sah, von dem Grinsen des Dämons und Affengottes, unter dessen rat- und zügellose Herrschaft er sie geraten fand, und des Name „Der große Stumpfsinn“ war.

Ein schlimmer, apokalyptischer Name, ganz danach angetan, geheime Beängstigung einzuflößen. Hans Castorp saß und rieb sich Stirn und Herzgegend mit den flachen Händen. Er fürchtete sich. Ihm war, als könne „das alles“ kein gutes Ende nehmen, als werde eine Katastrophe das Ende sein, eine Empörung der geduldigen Natur, ein Donnerwetter und aufräumender Sturmwind, der den Bann der Welt brechen, das Leben über den „toten Punkt“ hinwegreißen und der „Sauregurkenzeit“ einen schrecklichen Jüngsten Tag bereiten werde. Er hatte Lust zu fliehen, wir sagten es schon, – und ein Glück denn nur, daß die Obrigkeit das vorerwähnte „unverwandte Auge“ auf ihn hatte, daß sie in seinen Mienen zu lesen verstand und auf seine Divertierung mit neuen, fruchtbaren Hypothesen bedacht war!

Korpsstudentischen Tonfalles hatte sie erklärt, den eigentlichen Ursachen der Unsolidität von Hans Castorps Wärmehaushalt auf der Spur zu sein, Ursachen, denen nach ihrer wissenschaftlichen Aussage so unschwer beizukommen sein würde, daß Heilung, legitime Entlassung ins Flachland plötzlich in nahe Aussicht gerückt schienen. Des jungen Mannes Herz schlug hoch, von mannigfachen Empfindungen bestürmt, als er zum Aderlasse den Arm hinstreckte. Blinzelnd und leicht erblassend bewunderte er das herrliche Rubinrot seines Lebenssaftes, der steigend den klaren Behälter füllte. Der Hofrat selbst, assistiert von Doktor Krokowski und einer Barmherzigen Schwester, vollzog die kleine, aber weittragende Operation. Danach verging eine Reihe von Tagen, beherrscht für Hans Castorp von der Frage, wie das Hingegebene, außerhalb seiner, unter den Augen der Wissenschaft sich bewähren werde.

Es habe natürlich noch nichts gedeihen können, sagte der Hofrat am Anfang. Es habe leider noch nichts gedeihen wollen, sagte er später. Aber der Morgen kam, wo er, während des Frühstücks, zu Hans Castorp trat, der zu dieser Zeit am Guten Russentisch seinen Platz hatte, am oberen Ende, dort, wo dereinst sein großer Duzbruder gesessen, und ihm unter redensartlichen Glückwünschen eröffnete, der Kettenkokkus sei nun doch in einer der angelegten Kulturen zweifelsfrei festgestellt. Ein Problem der Wahrscheinlichkeitsrechnung sei es denn nun, ob die Vergiftungserscheinungen auf die jedenfalls bestehende kleine Tuberkulose oder auf die Streptos, die ja auch nur in bescheidenem Maße vorhanden, zurückzuführen seien. Er, Behrens, müsse sich die Sache näher und länger besehen. Noch sei die Kultur nicht ausgewachsen. – Er zeigte sie ihm im „Labor“: ein rotes Blutgelee, worin man graue Pünktchen gewahrte. Das waren die Kokken. (Kokken jedoch hatte jeder Esel, wie auch Tuberkeln, und hätte man nicht die Symptome gehabt, so wäre auf diesen Befund nicht weiter Gewicht zu legen gewesen.)

Außerhalb seiner, unter den Augen der Wissenschaft, fuhr Hans Castorps geronnenes Herzblut fort, sich zu bewähren. Es kam der Morgen, da der Hofrat mit redensartlich bewegten Worten berichtete: Nicht nur auf der einen Kultur, sondern auch auf allen übrigen seien nachträglich noch Kokken gewachsen, und zwar in großen Mengen. Ungewiß, ob es alles Streptos seien; mehr als wahrscheinlich nun aber, daß die Vergiftungserscheinungen daher rührten, – wenn man auch freilich nicht wissen könne, wieviel davon auf Rechnung der zweifellos vorhanden gewesenen und nicht ganz überwundenen Tuberkulose zu setzen sei. Die zu ziehende Schlußfolgerung? Eine Streptovakzinkur! Die Prognose? Außerordentlich günstig – zumal der Versuch jedes Risikos entbehre, auf keinen Fall schaden könne. Denn da das Serum ja aus Hans Castorps eigenem Blute hergestellt werde, so werde mit der Injektion kein Krankheitsstoff in den Körper eingeführt, der nicht schon darin sei. Schlimmstenfalls würde sie nutzlos sein, Null im Effekt – aber ob man denn das, da Patient ja ohnedies bleiben müsse, als einen schlimmen Fall bezeichnen könne!

Nicht doch, so weit wollte Hans Castorp nicht gehen. Er unterwarf sich der Kur, obgleich er sie ridikül und ehrlos fand. Diese Impfungen mit sich selbst wollten ihm als eine abscheulich freudlose Diversion erscheinen, als ein inzestuöser Greuel von Ich zu Ich, frucht- und hoffnungslos in seinem Wesen. So urteilte seine hypochondrische Unbelehrtheit, die nur im Punkte der Unfruchtbarkeit – und in diesem freilich vollkommen – recht behielt. Die Diversion erstreckte sich über Wochen. Sie schien zuweilen zu schaden – was selbstverständlich auf Irrtum beruhen mußte –, zuweilen auch zu nützen, was sich dann aber gleichfalls als Irrtum herausstellte. Das Ergebnis war Null, ohne bei Namen genannt und ausdrücklich verkündigt zu werden. Die Unternehmung verlief im Sande, und Hans Castorp fuhr fort, Patience zu legen – Aug’ in Auge mit dem Dämon, dessen zügelloser Herrschaft für sein Gefühl ein Ende mit Schrecken bevorstand.

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