Mynheer Peeperkorn blieb in Haus Berghof während dieses ganzen Winters – soviel davon noch übrig war – und bis ins Frühjahr hinein, so daß es zuletzt noch zu einem recht denkwürdigen gemeinsamen Ausflug (auch Settembrini und Naphta waren dabei) ins Flüelatal und zum dortigen Wasserfall kam ... Zuletzt noch? Und danach blieb er also nicht länger? – Nein, länger nicht. – Er reiste ab? – Ja und nein. – Ja und nein? Bitte, keine Geheimniskrämerei! Man wird sich zu fassen wissen. Auch Leutnant Ziemßen ist gestorben, von so vielen minder ehrenhaften Tänzern des Todes ganz abgesehen. Der undeutliche Peeperkorn wurde also vom malignen Tropenfieber dahingerafft? – Nein, das wurde er nicht, aber wozu die Ungeduld? Daß nicht alles auf einmal da ist, bleibt als Bedingung des Lebens und der Erzählung zu achten, und man wird sich doch wohl gegen die gottgegebenen Formen menschlicher Erkenntnis nicht auflehnen wollen! Geben wir der Zeit wenigstens soviel Ehre, wie das Wesen unserer Geschichte uns noch erlaubt! Viel ist es ohnehin nicht mehr damit, es geht nachgerade holterdiepolter! oder, wenn das zu lärmend gesagt ist, es geht husch, husch! Ein Weiserchen mißt unsere Zeit, das trippelt, als ob es Sekunden mäße, während es jedesmal, Gott weiß, was, zu bedeuten hat, wenn es kaltblütig und ohne Aufenthalt durch seinen Höhepunkt geht. Schon Jahre, soviel ist sicher, sind wir hier oben, uns schwindelt, das ist ein Lastertraum ohne Opium und Haschisch, der Sittenrichter wird uns verurteilen, – und doch stellen wir der schlimmen Umnebelung absichtlich viel Verstandeshelligkeit und logische Schärfe entgegen! Nicht zufällig, das möge anerkannt werden, haben wir uns Köpfe wie die Herren Naphta und Settembrini zum Umgang erwählt, statt uns etwa gar mit lauter undeutlichen Peeperkorns zu umgeben, – und das führt nun freilich zu einem Vergleich, der in mancher Hinsicht und namentlich im Punkte des Formats zugunsten dieser späten Erscheinung ausschlagen muß, wie er es denn auch in Hans Castorps Gedanken tat, wenn er in seiner Loge lag und sich gestand, daß die beiden überartikulierten Erzieher, die seine arme Seele in die Mitte genommen, neben Pieter Peeperkorn geradezu verzwergten, so daß er geneigt war, sie zu nennen, wie jener in königlich trunkener Neckerei ihn selbst genannt hatte, nämlich „Schwätzerchen“, und es sehr gut und glücklich hieß, daß die hermetische Pädagogik ihn auch mit einer ausgemachten Persönlichkeit noch in Berührung brachte.
Daß diese Persönlichkeit als Clawdia Chauchats Reisebegleiter und also als gewaltige Störung auf den Plan trat, war ein Punkt für sich, durch den sich Hans Castorp in seinen Wertungen nicht beirren ließ. Er ließ sich, wiederholen wir, nicht beirren in seiner aufrichtig achtungsvollen, wenn auch zuweilen etwas kecken Teilnahme für einen Mann von Format, – nur weil dieser gemeinsame Reisekasse führte mit der Frau, von der Hans Castorp sich in der Faschingsnacht einen Bleistift geliehen. Das lag nicht in seiner Art, – wobei wir durchaus damit rechnen, daß mancher oder manche in unserem Zirkel Anstoß nehmen wird an solcher „Temperamentlosigkeit“ und es lieber sehen würde, wenn er Peeperkorn gehaßt und gemieden und innerlich von ihm nur als von einem alten Esel und kaudernden Trunkenbold gesprochen hätte, statt ihn zu besuchen, wenn er vom Wechselfieber gepackt war, an seinem Bette zu sitzen, mit ihm zu plaudern – ein Wort, das natürlich nur auf seine Beiträge zu den Gesprächen paßt, nicht auf die des großartigen Peeperkorn – und mit der Neugier eines Bildungsreisenden das Wesen der Persönlichkeit auf sich wirken zu lassen. Das aber tat er, und wir erzählen es, gleichgültig gegen die Gefahr, daß jemand sich dadurch an Ferdinand Wehsal erinnert finden könnte, der Hans Castorps Paletot getragen hatte. Diese Erinnerung hat nichts zu sagen. Unser Held war kein Wehsal. Elendstiefen waren nicht seine Sache. Er war nur eben kein „Held“, das heißt: er ließ sein Verhältnis zum Männlichen nicht durch die Frau bestimmen. Unserem Grundsatz getreu, ihn weder besser noch schlechter zu machen, als er war, stellen wir fest, daß er es einfach ablehnte – nicht bewußt und ausdrücklich, sondern ganz naiverweise es ablehnte, sich durch romanhafte Einflüsse um die Gerechtigkeit gegen das eigene Geschlecht bringen zu lassen – und um den Sinn für förderliche Bildungserlebnisse in dieser Sphäre. Das mag den Frauen mißfallen – wir glauben zu wissen, daß Frau Chauchat unwillkürlich Ärgernis daran nahm; eine oder die andere spitze Bemerkung, die sie sich entschlüpfen ließ, und die wir noch einrücken werden, ließ darauf schließen –, aber vielleicht war es diese Eigenschaft, die ihn zu einem so tauglichen Streitobjekt der Pädagogik machte.
Pieter Peeperkorn lag viel krank, – daß er es gleich am Tage nach jenem ersten Karten- und Sektabend tat, konnte nicht wundernehmen. Fast alle Teilnehmer an der ausgedehnten und angespannten Geselligkeit waren übel daran, Hans Castorp nicht ausgenommen, der starke Kopfschmerzen hatte, sich aber durch diese Last nicht abhalten ließ, dem Gastgeber von gestern einen Krankenbesuch zu machen: Durch den Malaien, den er auf dem Korridor des ersten Stockwerks traf, ließ er das Anerbieten an Peeperkorn ergehen und wurde willkommen geheißen.
Er betrat das zweibettige Schlafzimmer des Holländers durch einen Salon, der es von demjenigen Frau Chauchats trennte, und fand es vor dem Durchschnittstypus der Berghofgastzimmer ausgezeichnet durch Geräumigkeit und Eleganz der Ausstattung. Es gab da seidene Fauteuils und Tische mit geschweiften Beinen; ein weicher Teppich bedeckte den Boden, und auch die Betten waren nicht vom Schlage gewöhnlicher hygienischer Totenbetten, sie waren sogar prachtvoll: aus poliertem Kirschholz mit Messingbeschlägen und hatten einen kleinen gemeinsamen Himmel – ohne Gardinengehänge –, es war eben nur ein kleiner, schirmend vereinigender Baldachin.
Peeperkorn lag in der einen der beiden Bettstätten, Bücher, Briefe und Zeitungen auf der rotseidenen Steppdecke, und las durch seinen hochragenden Hornzwicker den „Telegraaf“. Kaffeegeschirr stand auf einem Stuhle neben ihm und eine halbgeleerte Rotweinflasche – es war der naiv Spritzige von gestern Abend – neben Medizingläsern auf dem Nachttischchen. Der Holländer trug zu Hans Castorps bescheidenem Befremden kein weißes Hemd, sondern ein wollenes mit langen Ärmeln, das an den Handgelenken geknöpft und ohne Halskragen war, rund ausgeschnitten vielmehr, den breiten Schultern und der mächtigen Brust des alten Mannes glatt anliegend: Die menschliche Großartigkeit seines Hauptes auf dem Kissen ward noch gehoben, dem Bürgerlichen entrückt durch diese Tracht, die seiner Erscheinung ein teils volkstümlich-arbeitermäßiges, teils verewigt-büstenartiges Gepräge verlieh.
„Durchaus, junger Mann“, sagte er, indem er den Hornzwicker am hohen Bügel ergriff und ihn abhob. „Ich bitte sehr, – keineswegs. Im Gegenteil.“ Und Hans Castorp setzte sich zu ihm und verbarg seine teilnehmende Verwunderung – wenn nicht gar wirkliche Bewunderung das Gefühl war, zu dem seine Gerechtigkeit ihn nötigte – hinter freundlich aufgewecktem Geschwätz, dem Peeperkorn mit großartigen Abgerissenheiten und eindringlichstem Gestenspiel sekundierte. Er sah nicht gut aus, gelb, recht leidend und mitgenommen. Gegen Morgen hatte er einen starken Fieberanfall gehabt, dessen Mattigkeitsfolgen sich nun mit den Nachwehen des Rausches verbanden.
„Wir haben es gestern arg –“, sagte er. „Nein, erlauben Sie, – schlimm und arg! Sie sind noch – gut, da hat es nichts weiter – Allein in meinen Jahren und bei meiner gefährdeten – Mein Kind“, wandte er sich mit zarter, aber entschiedener Strenge an die eben vom Salon her eintretende Frau Chauchat, „– alles gut, aber ich wiederhole Ihnen, daß besser hätte achtgegeben, daß man mich hätte hindern müssen –.“ Fast etwas wie aufziehender Königskoller war in seinen Mienen und seiner Stimme bei diesen Worten. Aber man brauchte sich ja nur vorzustellen, was für ein Wetter erst ausgebrochen wäre, wenn man ihn ernstlich im Trinken hätte stören wollen, um die ganze Unbilligkeit und Unvernunft seines Vorwurfs zu ermessen. Dergleichen gehört wohl zur Größe. Seine Reisebegleiterin ging denn auch drüber hin, indem sie Hans Castorp, der sich erhoben hatte, begrüßte, – übrigens ohne ihm die Hand zu reichen, sondern nur mit Lächeln und Winken und der Aufforderung, „doch nur ja“ Platz zu behalten, sich „doch nur ja nicht“ in seinem tête à tête mit Mynheer Peeperkorn stören zu lassen ... Sie machte sich dies und jenes im Zimmer zu schaffen, wies den Kammerdiener an, das Kaffeegeschirr fortzuräumen, verschwand auf eine Weile und kehrte auf leisen Sohlen wieder, um im Stehen sich ein wenig an dem Gespräch zu beteiligen, oder – wenn wir Hans Castorps unbestimmten Eindruck wiedergeben sollen – um es ein wenig zu überwachen. Natürlich! Sie konnte in Verbindung mit einer Persönlichkeit großen Formats wieder nach Haus Berghof zurückkehren; aber wenn derjenige, der hier so lange auf sie gewartet hatte, dann der Persönlichkeit die schuldige Reverenz erwies, von Mann zu Mann, so legte sie Unruhe und selbst Spitzigkeit an den Tag, mit ihrem „doch nur ja“ und „nur ja nicht“. Hans Castorp lächelte darüber, indem er sich über seine Knie beugte, um das Lächeln zu verbergen, und erglühte gleichzeitig innerlich vor Freude.
Er bekam ein Glas Wein eingeschenkt von Peeperkorn, aus der Flasche vom Nachttisch. Unter Umständen, wie den heutigen, meinte der Holländer, sei es das beste, da wieder anzuschließen, wo man nachts zuvor aufgehört habe, und dieser Spritzige tue ja dieselben Dienste wie Sodawasser. Er stieß mit Hans Castorp an, und dieser sah trinkend zu, wie die sommersprossig-nagelspitze Kapitänshand dort drüben, von dem Knopfbunde des wollenen Hemdes am Gelenke umspannt, das Glas emporführte, wie die breiten, zerrissenen Lippen seinen Rand erfaßten und der Wein durch die auf- und niedersteigende Arbeiter- oder Büstengurgel trieb. Sie sprachen dann noch über das Medikament auf dem Nachttisch, diesen braunen Saft, von dem Peeperkorn auf Frau Chauchats Mahnung und aus ihrer Hand einen Löffel voll einnahm, – es war ein Antipyretikum, Chinin im wesentlichen; Peeperkorn gab seinem Gast ein wenig davon zu probieren, um ihn den charaktervollen, bitter-würzigen Geschmack des Präparats erfahren zu lassen, und äußerte dann mehreres zum Lobe des Chinins, das segensreich nicht nur durch seine keimzerstörende Wirkung und seinen heilsamen Einfluß auf das Wärmezentrum sei, sondern auch als Tonikum gewürdigt werden müsse: es vermindere den Eiweißumsatz, fördere den Ernährungszustand, kurz, sei ein echter Labetrank, ein herrliches Stärkungs-, Erweckungs- und Belebungsmittel, – ein Rauschmittel übrigens ebenfalls; man könne sich leicht einen kleinen Spitz oder Zopf daran trinken, sagte er, indem er wie gestern mit Fingern und Kopf großartig scherzte und wieder dem tanzenden Heidenpriester dabei glich.
Ja, ein herrlicher Körper, die Fieberrinde! – es waren übrigens noch keine dreihundert Jahre, daß die Pharmakologie unseres Erdteils Kunde davon gewonnen, und noch kein Jahrhundert, daß die Chemie das Alkaloid, worauf seine Tugenden eigentlich beruhten, das Chinin also, entdeckt hatte – entdeckt und bis zu einem gewissen Grade analysiert; denn daß sie aus seiner Konstitution bis jetzt so recht klug geworden wäre oder imstande sei, es künstlich herzustellen, konnte die Chemie nicht behaupten. Unsere Arzneimittelkunde tat überall gut, sich ihres Wissens nicht lästerlich zu überheben, denn wie mit dem Chinin erging es ihr mit so manchem: Sie wußte dies und das von der Dynamik, den Wirkungen der Stoffe, allein die Frage, worauf denn diese Wirkungen genau genommen zurückzuführen seien, setzte sie oft genug in Verlegenheit. Der junge Mann mochte sich doch in der Giftkunde umsehen, – über die elementaren Eigenschaften, die die Wirkungen der sogenannten Giftstoffe bedingten, würde niemand ihm Auskunft geben. Da waren zum Exempel die Schlangengifte, – über welche nicht mehr bekannt war, als daß diese tierischen Stoffe einfach in die Reihe der Eiweißverbindungen gehörten, aus verschiedenen Eiweißkörpern bestünden, die aber nur in dieser bestimmten – nämlich durchaus unbestimmten – Zusammensetzung ihre fulminanten Wirkungen taten: in den Blutkreislauf gebracht, Effekte zeitigten, über die man sich nur verwundern konnte, da man Eiweiß auf Gift nicht zu reimen gewohnt war. Aber mit der Welt der Stoffe, sagte Peeperkorn, indem er neben seinem blaßäugig vom Kissen aufgerichteten Haupt mit den Stirnarabesken den Exaktheitsring und die Lanzen seiner Finger emporhielt, – mit den Stoffen stehe es so, daß alle Leben und Tod auf einmal bärgen: alle seien Ptisanen und Gifte zugleich, Heilmittelkunde und Toxikologie seien ein und dasselbe, an Giften genese man, und was für des Lebens Träger gelte, töte unter Umständen mit einem einzigen Krampfschlage in Sekundenfrist.
Er sprach sehr eindringlich und ungewöhnlich zusammenhängend von den Ptisanen und Giften, und Hans Castorp hörte ihm mit schrägem Kopfe nickend zu, beschäftigt weniger mit dem Inhalt seiner Reden, der ihm am Herzen zu liegen schien, als mit dem stillen Erkunden seiner Persönlichkeitswirkung, die letzten Endes ebenso unerklärlich war wie die Wirkung der Schlangengifte. Dynamik, sagte Peeperkorn, sei alles in der Welt der Stoffe, – das Weitere sei völlig bedingt. Auch das Chinin sei ein Heilgift, kraftvoll in erster Linie. Vier Gramm davon machten taub, schwindelig, kurzatmig, brächten Sehstörungen hervor wie Atropin, berauschten wie Alkohol, und die Arbeiter in Chininfabriken hätten entzündete Augen und geschwollene Lippen, litten an Hautausschlägen. Und er fing an, von der Cinchona, dem Chinabaum, zu erzählen, von den Urwäldern der Kordilleren, wo er in dreitausend Meter Höhe seine Heimat habe, und von wo seine Rinde als „Jesuitenpulver“ so spät nach Spanien gekommen sei, – den Eingeborenen Südamerikas in ihren Kräften seit langem bekannt; er schilderte die gewaltigen Cinchonaplantagen der niederländischen Regierung auf Java, von wo alljährlich viele Millionen Pfund der rötlich zimtähnlichen Rindenröhren nach Amsterdam und London verschifft würden ... Die Rinden überhaupt, das Rindengewebe der Holzgewächse, von der Epidermis bis zum Cambium, – sie hätten es in sich, sagte Peeperkorn, fast immer besäßen sie außerordentliche dynamische Tugenden, im Guten wie im Bösen, – die Drogenkunde der farbigen Völker sei der unsrigen da weit überlegen. Auf einigen Inseln östlich von Neuguinea bereiteten sich die jungen Leute einen Liebeszauber, indem sie die Rinde eines bestimmten Baumes, der wahrscheinlich ein Giftbaum sei, wie der Antiaris toxicaria von Java, der gleich dem Manzanillabaum durch seine Ausdünstung die Luft rings um sich her vergiften und Mensch und Tier zu Tode betäuben solle, – indem sie also die Rinde dieses Baumes zu Pulver zerrieben, das Pulver mit Kokosnußschnitzeln vermischten, die Mischung in ein Blatt rollten und brieten. Sie spritzten dann den Saft des Gemengsels der Spröden, der es gelte, im Schlaf ins Gesicht, und sie entbrenne für den, der gespritzt habe. Zuweilen sei es die Wurzelrinde, die es in sich habe, wie diejenige einer Schlingpflanze des Malaiischen Archipels, Strychnos Tieuté genannt, aus der die Eingeborenen unter Beigabe von Schlangengift das Upas-Radscha bereiteten, eine Droge, die, in die Blutbahn gebracht, z. B. durch Pfeilschuß, aufs allerschnellste den Tod herbeiführe, ohne daß jemand dem jungen Hans Castorp würde zu sagen wissen, wie das eigentlich geschähe. Nur so viel sei deutlich, daß das Upas in dynamischer Beziehung dem Strychnin nahe stehe ... Und Peeperkorn, im Bette nun vollends aufgerichtet und dann und wann mit leicht zitternder Kapitänshand das Weinglas zu seinen zerrissenen Lippen führend, um große, durstige Züge zu nehmen, erzählte vom Krähenaugenbaum der Koromandelküste, aus dessen orangegelben Beeren, den „Krähenaugen“, das allerdynamischste Alkaloid, Strychnin geheißen, gewonnen werde, – erzählte mit flüsternd herabgesetzter Stimme und hochgezogener Stirnlineatur von dem aschgrauen Geäst, dem auffallend glänzenden Blätterwerk und den gelbgrünen Blüten dieses Baumes, so daß dem jungen Hans Castorp ein zugleich tristes und hysterisch-buntfarbiges Bild von einem Baume vor Augen stand und ihm alles in allem etwas unheimlich zumute wurde.
Auch mischte denn jetzt Frau Chauchat sich ein, indem sie sagte, es sei nicht gut, die Unterhaltung ermüde Peeperkorn, er könne aufs neue Fieber davon haben, und wie ungern immer sie die Entrevue unterbreche, so müsse sie Hans Castorp nun doch bitten, es für diesmal genug sein zu lassen. Das tat er natürlich, aber noch oft, nach einem Quartananfall, saß er in den nächsten Monaten an des königlichen Mannes Bett, während Frau Chauchat, das Gespräch leicht überwachend oder sich auch mit einigen Worten daran beteiligend, hin und wider ging; und auch in Peeperkorns fieberfreien Tagen verbrachte er manche Stunde mit ihm und seiner perlengeschmückten Reisebegleiterin. Denn wenn der Holländer nicht bettlägerig war, versäumte er selten, nach dem Diner eine kleine, wechselnd zusammengesetzte Auswahl der Berghof-Gästeschaft zu Spiel und Wein und allerhand weiteren Labungen um sich zu versammeln, sei es im Konversationszimmer, wie das erstemal, oder im Restaurant, wobei denn Hans Castorp gewohnheitsmäßig seinen Platz zwischen der lässigen Frau und dem großartigen Manne hatte; und selbst im Freien bewegte man sich miteinander, machte Spaziergänge zusammen, an denen etwa die Herren Ferge und Wehsal sich beteiligten und bald auch Settembrini und Naphta, die Widersacher im Geiste, denen zu begegnen man nicht hatte verfehlen können, und die mit Peeperkorn, wie zugleich denn endlich auch mit Clawdia Chauchat bekannt zu machen, Hans Castorp sich geradezu glücklich schätzte, – vollständig unbekümmert darum, ob diese Bekanntschaft und Verbindung den Disputanten willkommen war oder nicht und in dem stillen Vertrauen darauf, daß sie eines pädagogischen Objektes bedurften und lieber einen unwillkommenen Anhang in Kauf nehmen, als darauf verzichten würden, ihre Gegensätze vor ihm auszutragen.
Er täuschte sich denn auch nicht darin, daß die Mitglieder seines buntscheckigen Freundeskreises sich wenigstens daran gewöhnen würden, daß sie sich nicht aneinander gewöhnten: Spannungen, Fremdheiten, sogar stille Feindseligkeit gab es selbstverständlich genug zwischen ihnen, und wir wundern uns selbst, wie es unserem unbedeutenden Helden gelingen mochte, sie um sich zusammenzuhalten, – wir erklären es uns mit einer gewissen verschmitzten Lebensfreundlichkeit seines Wesens, die ihn alles „hörenswert“ finden ließ, und die man Verbindlichkeit selbst in dem Sinne nennen könnte, daß sie nicht nur ihm die ungleichartigsten Personen und Persönlichkeiten, sondern bis zu einem gewissen Grade sogar diese untereinander verband.
Wunderlich hin und her laufende Beziehungen! Es reizt uns, ihre verschlungenen Fäden einen Augenblick allgemein sichtbar zu machen, so, wie Hans Castorp selbst sie auf diesen Spaziergängen verschmitzten und lebensfreundlichen Auges betrachtete. Da war der elende Wehsal, der Frau Chauchats schwelend begehrte und Peeperkorn und Hans Castorp niedrig verehrte, den einen um der herrschenden Gegenwart, den anderen um der Vergangenheit willen. Da war Clawdia Chauchat ihrerseits, die anmutig weich schreitende Kranke und Reisende, die Hörige Peeperkorns, und zwar gewiß aus Überzeugung, gleichwohl aber immer etwas beunruhigt und innerlich spitzig, den Ritter einer fernen Faschingsnacht auf so gutem Fuße mit ihrem Gebieter zu sehen. Erinnerte diese Irritation nicht in etwas an diejenige, die ihr Verhältnis zu Herrn Settembrini bestimmte? Zu diesem Schönredner und Humanisten, den sie nicht leiden konnte und den sie hochmütig und unmenschlich nannte? Zu des jungen Hans Castorp erzieherischem Freunde, den sie gar zu gern darüber zur Rede gestellt hätte, was für Worte es gewesen seien, die er in seinem mediterranen Idiom, wovon sie so wenig eine Silbe verstand wie er von dem ihren, nur mit weniger sicherer Geringschätzung, dem konvenablen jungen Deutschen nachgesandt hatte, diesem hübschen kleinen Bourgeois von guter Familie und mit einer feuchten Stelle, als er damals im Begriffe gewesen war, sich ihr zu nähern? Hans Castorp, verliebt, wie man zu sagen pflegt „über beide Ohren“, doch nicht im vergnügten Sinn dieser Redensart, sondern so, wie man liebt, wenn der Fall verboten und unvernünftig liegt und sich keine friedlichen kleinen Lieder des Flachlandes darauf singen lassen, – arg verliebt also und damit abhängig, unterworfen, leidend und dienend, war doch der Mann, in der Sklaverei sich hinlängliche Verschmitztheit zu bewahren, um ganz gut zu wissen, welchen Wert seine Ergebenheit für die schleichende Kranke mit den bezaubernden Tatarenschlitzen etwa haben und behalten mochte: einen Wert, auf den sie, wie er bei sich in aller leidenden Unterworfenheit hinzufügte, aufmerksam gemacht werden konnte durch das Verhalten Herrn Settembrinis zu ihr, das ihren Argwohn nur zu offen bestätigte, nämlich so ablehnend war, wie humanistische Höflichkeit es nur irgend gestattete. Das Schlimme, oder, in Hans Castorps Augen, eher Vorteilhafte war, daß sie in ihren Beziehungen zu Leo Naphta, auf die sie doch Hoffnungen gesetzt, die rechte Entschädigung auch nicht fand. Zwar stieß sie hier nicht auf jene grundsätzliche Verneinung, die Herr Lodovico ihrem Wesen entgegensetzte, und die Gesprächsbedingungen lagen günstiger: sie unterhielten sich zuweilen gesondert, Clawdia und der scharfe Kleine, über Bücher, über Probleme der politischen Philosophie, in deren radikaler Behandlung sie übereinstimmten; und Hans Castorp nahm treuherzig teil daran. Aber eine gewisse aristokratische Einschränkung des Entgegenkommens, das der Emporkömmling, vorsichtig wie alle Emporkömmlinge, ihr bezeigte, mochte ihr doch bemerklich werden; sein spanischer Terrorismus stimmte im Grunde mit ihrer türenwerfend vagierenden „Mähnschlichkeit“ wenig überein; und hinzu kam als Letztes und Feinstes eine leichte, schwer greifbare Gehässigkeit, die sie mit weiblichem Spürsinn von seiten beider Widersacher, Settembrinis und Naphtas, sich mußte entgegenwehen fühlen (so gut, wie ihr Faschingsritter selber sie wehen fühlte), und die ihren Grund in den Beziehungen beider zu ihm, Hans Castorp, hatte: die Mißstimmung des Erziehers gegen die Frau als störendes und ablenkendes Element, diese stille und ursprüngliche Gegnerschaft, die sie vereinigte, weil ihre pädagogisch verdichtete Zwietracht sich darin aufhob.
Spielte nicht etwas von dieser Feindseligkeit auch in das Verhalten der beiden Dialektiker zu Pieter Peeperkorn hinein? Hans Castorp glaubte es zu bemerken, vielleicht weil er es boshafterweise erwartet hatte und im ganzen nicht wenig begierig gewesen war, den königlichen Stammler mit seinen beiden „Regierungsräten“, wie er sie bei sich manchmal witzweise nannte, zusammenzubringen und den Effekt zu studieren. Mynheer wirkte im Freien nicht ganz so großartig wie in geschlossenem Raum. Der weiche Filzhut, den er tief in die Stirn gerückt trug, und der sein weißes Flammenhaar, seine mächtige Stirnlineatur bedeckte, verkleinerte seine Züge, ließ sie gleichsam zusammenschrumpfen und setzte selbst seine gerötete Nase in ihrer Majestät herab. Auch war sein Gehen weniger gut als sein Stehen: Er hatte die Gewohnheit, bei jedem seiner kurzen Schritte den ganzen schweren Körper und sogar auch den Kopf etwas seitwärts fallen zu lassen nach der Seite des Fußes, den er eben vorwärts setzte, was eher gutmütig-greisenhaft als königlich anmutete; ging auch meist nicht zu voller Größe aufgerichtet, wie er stand, sondern etwas zusammengesunken. Aber auch so noch überragte er Herrn Lodovico sowohl wie nun gar den kleinen Naphta um Haupteslänge, – und das war es nicht allein, weshalb seine Gegenwart so sehr, vollkommen so sehr, wie Hans Castorp es einbildungsweise vorweggenommen, auf die Existenz der beiden Politiker drückte.
Das war ein Druck, eine Herabminderung und Beeinträchtigung durch den Vergleich, – fühlbar dem durchtriebenen Beobachter, fühlbar aber ohne Zweifel auch den Beteiligten, sowohl den schmächtig Überartikulierten wie dem großartig Stammelnden. Peeperkorn behandelte Naphta und Settembrini überaus höflich und aufmerksam, mit einem Respekt, den Hans Castorp ironisch genannt haben würde, wenn ihn nicht volle Einsicht in die Unvereinbarkeit dieses Begriffes mit dem des großen Formats daran gehindert hätte. Könige kennen keine Ironie, – nicht einmal im Sinn eines geraden und klassischen Mittels der Redekunst, geschweige in einem verwickelteren Sinn. Und so war es denn eher eine zugleich feine und großartige Spötterei zu nennen, was, unter leicht übertriebenem Ernst verborgen oder offen zutage liegend, des Holländers Benehmen gegen Hansens Freunde kennzeichnete. „Ja – ja – ja –!“ konnte er wohl sagen, indem er mit dem Finger nach ihrer Seite drohte, den Kopf mit scherzhaft lächelnden zerrissenen Lippen abgewandt. „Das ist – Das sind –. Meine Herrschaften, ich lenke Ihre Aufmerksamkeit – – Cerebrum, cerebral, verstehen Sie! Nein – nein, perfekt, außerordentlich, das ist, da zeigt sich denn doch – –.“ Sie rächten sich, indem sie Blicke tauschten, die nach der Begegnung verzweifelt himmelwärts wanderten, und in die sie auch Hans Castorp hineinzuziehen trachteten, was er aber ablehnte.
Es kam vor, daß Herr Settembrini den Schüler direkt zur Rede stellte und so seine pädagogische Unruhe bekundete.
„Aber, in Gottes Namen, Ingenieur, das ist ja ein dummer alter Mann! Was finden Sie an ihm? Kann er Sie fördern? Mir steht der Verstand still! Alles wäre klar – ohne eben lobenswert zu sein –, wenn Sie ihn in den Kauf nähmen, wenn Sie in seiner Gesellschaft nur die seiner gegenwärtigen Geliebten suchten. Aber es ist unmöglich, nicht zu sehen, daß Sie sich beinahe mehr um ihn kümmern, als um sie. Ich beschwöre Sie, kommen Sie meinem Verständnis zu Hilfe ...“
Hans Castorp lachte. „Durchaus!“ sagte er. „Perfekt! Es ist nun einmal – Erlauben Sie mir – Gut!“ Und er suchte auch Peeperkorns Kulturgebärden zu kopieren. „Ja, ja“, lachte er weiter, „Sie finden das dumm, Herr Settembrini, und jedenfalls ist es undeutlich, was in Ihren Augen wohl schlimmer ist, als dumm. Ach, Dummheit. Es gibt so viele verschiedene Arten von Dummheit, und die Gescheitheit ist nicht die beste davon ... Hallo! Da habe ich was geprägt, glaube ich, ein Wort, ein mot. Wie gefällt es Ihnen?“
„Sehr gut. Ich sehe erwartungsvoll Ihrer ersten Aphorismensammlung entgegen. Vielleicht ist es noch Zeit, Sie zu bitten, daß Sie darin gewissen Betrachtungen Rechnung tragen, die wir gelegentlich über das menschenfeindliche Wesen des Paradoxons angestellt haben.“
„Soll geschehen, Herr Settembrini. Soll absolut geschehen. Nein, Sie sehen mich gar nicht auf der Jagd nach Paradoxen mit meinem mot. Es war mir nur darum zu tun, auf die großen Schwierigkeiten hinzuweisen, die die Bestimmung von ‚Dummheit‘ und ‚Gescheitheit‘ ... bereitet. Also: bereitet, nicht wahr? Das ist so schwer auseinander zu halten, das geht so sehr ineinander über ... Ich weiß wohl, Sie hassen das mystische guazzabuglio und sind für den Wert, das Urteil, das Werturteil, und da gebe ich Ihnen ganz recht. Aber das mit der ‚Dummheit‘ und der ‚Gescheitheit‘, das ist zuweilen ein komplettes Mysterium, und es muß doch erlaubt sein, sich um Mysterien zu kümmern, vorausgesetzt, daß das ehrliche Bestreben vorhanden ist, ihnen nach Möglichkeit auf den Grund zu kommen. Ich frage Sie folgendes. Ich frage Sie: Können Sie leugnen, daß er uns alle in die Tasche steckt? Ich drücke es derb aus, und doch können Sie es, soviel ich sehe, nicht leugnen. Er steckt uns in die Tasche, und irgendwoher kommt ihm das Recht zu, sich über uns lustig zu machen. Woher? Wieso? Inwiefern? Natürlich nicht vermöge seiner Gescheitheit. Ich gebe zu, daß von Gescheitheit kaum die Rede sein kann. Er ist ja vielmehr ein Mann der Undeutlichkeit und des Gefühls, das Gefühl ist geradezu seine Puschel, – verzeihen Sie den umgangssprachlichen Ausdruck! Ich sage also: Nicht vor Gescheitheit steckt er uns in die Tasche, das heißt nicht aus geistigen Gründen, – Sie würden sich das verbitten, und wirklich, es scheidet aus. Aber doch auch nicht aus körperlichen! Doch nicht seiner Kapitänsschultern wegen, in Hinsicht auf rohe Brachialgewalt und weil er jeden von uns mit der Faust niederstrecken könnte, – er denkt gar nicht daran, daß er das könnte, und wenn er mal daran denkt, so genügen ein paar zivilisierte Worte, um ihn zu beschwichtigen ... Also auch nicht aus körperlichen. Und doch spielt ganz ohne Zweifel das Körperliche eine Rolle dabei, – nicht im brachialen Sinne, sondern in einem andern, im mystischen, – sobald das Körperliche eine Rolle spielt, wird die Sache mystisch –; und das Körperliche geht ins Geistige über, und umgekehrt, und sind nicht zu unterscheiden, und Dummheit und Gescheitheit sind nicht zu unterscheiden, aber die Wirkung ist da, das Dynamische, und wir werden in die Tasche gesteckt. Und dafür ist uns nur ein Wort an die Hand gegeben, und das heißt ‚Persönlichkeit‘. Man braucht es wohl auch vernünftigerweise, so, wie wir alle Persönlichkeiten sind, – moralische und juristische und was noch für Persönlichkeiten. Aber nicht so ist es hier gemeint. Sondern als ein Mysterium, das über Dummheit und Gescheitheit hinausliegt, und um das man sich doch muß kümmern dürfen, – teils um ihm nach Möglichkeit auf den Grund zu kommen und teils, soweit das nicht möglich ist, um sich daran zu erbauen. Und wenn Sie für Werte sind, so ist die Persönlichkeit am Ende doch auch ein positiver Wert, sollte ich denken, – positiver als Dummheit und Gescheitheit, im höchsten Grade positiv, absolut positiv, wie das Leben, kurzum: ein Lebenswert und ganz danach angetan, sich angelegentlich darum zu kümmern. Das meinte ich Ihnen erwidern zu sollen auf das, was Sie von Dummheit sagten.“
Neuerdings verwirrte und verhaspelte Hans Castorp sich nicht mehr bei solchen Expektorationen und blieb nicht stecken. Er sprach seinen Part zu Ende, ließ die Stimme sinken, machte Punktum und ging seines Weges wie ein Mann, obgleich er noch immer rot dabei wurde und eigentlich etwas Furcht hatte vor dem kritischen Schweigen, das seinem Verstummen folgen würde, damit er Zeit habe, sich zu schämen. Herr Settembrini ließ es walten, dieses Schweigen, und sagte dann:
„Sie leugnen, sich auf der Jagd nach Paradoxen zu befinden. Unterdessen wissen Sie genau, daß ich Sie ebenso ungern auf der Jagd nach Mysterien sehe. Indem Sie aus der Persönlichkeit ein Geheimnis machen, laufen Sie Gefahr, der Götzenanbetung zu verfallen. Sie venerieren eine Maske. Sie sehen Mystik, wo es sich um Mystifikation handelt, um eine jener betrügerischen Hohlformen, mit denen der Dämon des Körperlich-Physiognomischen uns manchmal zu foppen liebt. Sie haben nie in Schauspielerkreisen verkehrt? Sie kennen nicht diese Mimenköpfe, in denen sich die Züge Julius Cäsars, Goethes und Beethovens vereinigen, und deren glückliche Besitzer, sobald sie den Mund auftun, sich als die erbärmlichsten Tröpfe unter der Sonne erweisen?“
„Gut, ein Naturspiel“, sagte Hans Castorp. „Aber doch nicht nur ein Naturspiel, nicht nur Fopperei. Denn da diese Leute Schauspieler sind, müssen sie ja Talent haben, und das Talent ist selbst über Dummheit und Gescheitheit hinaus, es ist selbst ein Lebenswert. Mynheer Peeperkorn hat auch Talent, sagen Sie, was Sie wollen, und damit steckt er uns in die Tasche. Setzen Sie in eine Ecke eines Zimmers Herrn Naphta und lassen Sie ihn einen Vortrag über Gregor den Großen und den Gottesstaat halten, höchst hörenswert, – und in der andern Ecke steht Peeperkorn mit seinem sonderbaren Mund und seinen hochgezogenen Stirnfalten und sagt nichts als ‚Durchaus! Erlauben Sie mir – Erledigt!‘ – Sie werden sehen, die Leute werden sich um Peeperkorn versammeln, alle um ihn, und Naphta wird ganz allein dasitzen mit seiner Gescheitheit und seinem Gottesstaat, obgleich er sich dermaßen deutlich ausdrückt, daß es einem durch Mark und Pfennig geht, wie Behrens zu sagen pflegt ...“
„Schämen Sie sich der Erfolgsanbetung!“ mahnte ihn Herr Settembrini. „Mundus vult decipi. Ich verlange nicht, daß man sich um Herrn Naphta schart. Er ist ein arger Quertreiber. Aber ich bin geneigt, auf seine Seite zu treten angesichts der imaginären Szene, die Sie mit tadelnswertem Beifall ausmalen. Verachten Sie nur das Distinkte, Präzise und Logische, das human zusammenhängende Wort! Verachten Sie es zu Ehren irgendeines Hokuspokus von Andeutung und Gefühlsscharlatanerie, – und der Teufel hat Sie schon unbedingt ...“
„Aber ich versichere Sie, er kann oft ganz zusammenhängend sprechen, wenn er warm wird“, sagte Hans Castorp. „Er hat mir gelegentlich von dynamischen Drogen und asiatischen Giftbäumen erzählt, so interessant, daß es fast unheimlich war – das Interessante ist immer etwas unheimlich – und interessant war es wieder nicht so sehr an und für sich, als eigentlich nur im Zusammenhang mit seiner Persönlichkeitswirkung: die machte es zugleich unheimlich und interessant ...“
„Natürlich, Ihre Schwäche für das Asiatische ist bekannt. In der Tat, mit solchen Wundern kann ich nicht aufwarten“, erwiderte Herr Settembrini mit soviel Bitterkeit, daß Hans Castorp eilig erklärte, die Vorzüge seiner Unterhaltung und Belehrung lägen selbstverständlich nach einer ganz anderen Seite hin, und es komme niemandem in den Sinn, Vergleiche anzustellen, durch die beiden Teilen Unrecht geschehen würde. Doch der Italiener überhörte und verschmähte die Höflichkeit. Er fuhr fort:
„Auf jeden Fall müssen Sie erlauben, daß man Ihre Sachlichkeit und Gemütsruhe bewundert, Ingenieur. Sie streift ein wenig das Groteske, das werden Sie einräumen. Wie schließlich alles steht und liegt ... Dieser Ölgötze hat Ihnen Ihre Beatrice weggenommen, – ich nenne die Dinge bei ihrem Namen. Und Sie? Es ist beispiellos.“
„Temperamentsunterschiede, Herr Settembrini. Unterschiede in Hinsicht auf Hitze und Ritterlichkeit des Geblütes. Natürlich, Sie als Mann des Südens, Sie würden wohl Gift und Dolch zu Rate ziehen oder jedenfalls die Sache gesellschaftlich-leidenschaftlich gestalten, kurz hahnenmäßig. Das wäre gewiß sehr männlich, gesellschaftlich-männlich und galant. Mit mir aber ist es was anderes. Ich bin gar nicht männlich auf die Art, daß ich im Manne nur das nebenbuhlende Mitmännchen erblicke, – ich bin es vielleicht überhaupt nicht, aber bestimmt nicht auf diese Art, die ich unwillkürlich ‚gesellschaftlich‘ nenne, ich weiß nicht, warum. Ich frage mich in meiner tranigen Brust, ob ich ihm denn was vorzuwerfen habe. Hat er mir wissentlich etwas angetan? Aber Beleidigungen müssen mit Absicht geschehen, sonst sind sie keine. Und was das ‚antun‘ betrifft, da müßte ich mich schon an sie halten, und dazu habe ich auch wieder kein Recht, – überhaupt nicht und in Hinsicht auf Peeperkorn noch ganz besonders nicht. Denn er ist erstens eine Persönlichkeit, was schon allein etwas für Frauen ist, und zweitens ist er kein Zivilist, wie ich, sondern eine Art von Militär, wie mein armer Vetter, das heißt: er hat einen point d’honneur, eine Ehrenpuschel, und das ist das Gefühl, das Leben ... Ich schwatze da Unsinn, aber ich will lieber ein bißchen faseln und dabei etwas Schwieriges halbwegs ausdrücken, als immer nur tadellose Hergebrachtheiten von mir geben, – das ist doch vielleicht auch so etwas wie ein militärischer Zug in meinem Charakterbilde, wenn ich so sagen darf ...“
„Sagen Sie immerhin so“, nickte Herr Settembrini. „Unbedingt wäre das ein Zug, den man loben dürfte. Der Mut der Erkenntnis und des Ausdrucks, das ist die Literatur, es ist die Humanität ...“
So kamen sie leidlich voneinander bei solcher Gelegenheit; Herr Settembrini gab dem Gespräch versöhnlichen Abschluß, wozu er auch gute Gründe hatte. Seine Position dabei war keineswegs so unverletzlich, daß es ratsam für ihn gewesen wäre, die Strenge sehr weit zu treiben; ein Gespräch, das von Eifersucht handelte, war etwas schlüpfriger Boden für ihn; an einem bestimmten Punkte hätte er eigentlich antworten müssen, daß, in Anbetracht seiner pädagogischen Ader, sein Verhältnis zum Männlichen auch nicht durchaus gesellschaftlich-hahnenmäßiger Art sei, weshalb der großmächtige Peeperkorn seine Kreise ebenso störe, wie Naphta und Frau Chauchat es täten; und zum Schluß durfte er nicht hoffen, seinem Schüler eine Persönlichkeitswirkung und natürliche Überlegenheit auszureden, der er selbst sich so wenig, wie sein Partner in zerebralen Angelegenheiten, zu entziehen vermochte.
Am besten erging es ihnen, wenn geistige Lüfte wehen, wenn sie disputieren – die Aufmerksamkeit der Spazierenden an eine ihrer zugleich eleganten und leidenschaftlichen, ihrer akademischen und dabei in einem Tonfall, als handele es sich um brennendste Tages- und Lebensfragen, geführten Debatten fesseln konnten, deren Kosten sie fast allein bestritten, und für deren Dauer das anwesende „Format“ gewissermaßen neutralisiert war, da es sie nur mit stirnfaltigem Erstaunen und undeutlich-spöttischen Abgerissenheiten begleiten konnte. Allein selbst unter diesen Umständen übte es seinen Druck, beschattete das Gespräch, so daß es an Glanz zu verlieren schien, entweste es auf irgendeine Weise, setzte ihm, allen fühlbar, wenn auch seinerseits sicherlich unbewußt, oder Gott weiß in welchem Grade bewußt, etwas entgegen, was keiner der beiden Sachen zugute kam und wodurch der Zwist in seiner entscheidenden Wichtigkeit verblaßte, ja ihm – wir nehmen Anstand, es zu sagen – der Stempel des Müßigen aufgedrückt wurde. Oder, anders versucht: die witzige Fehde auf Leben und Tod nahm heimlich, auf unterirdische und unbestimmte Weise, beständig Bezug auf das ihr zur Seite wandelnde Format und entnervte sich an diesem Magnetismus. Anders war dieser geheimnisvolle und für die Disputanten sehr ärgerliche Vorgang nicht zu kennzeichnen. Man kann nur sagen, daß es, wenn kein Pieter Peeperkorn gewesen wäre, zur Parteinahme weit strenger verpflichtet hätte, wie beispielsweise Leo Naphta das erz- und grundrevolutionäre Wesen der Kirche gegen die Lehrmeinung Herrn Settembrinis verteidigte, welcher in dieser geschichtlichen Macht einzig die Schutzherrin finsterer Beharrung und Erhaltung erblicken und alle zur Umwälzung und Erneuerung bereite Lebens- und Zukunftsfreundlichkeit an die entgegengesetzten, einer ruhmreichen Epoche der Wiedergeburt antiker Bildung entstammenden Prinzipien der Aufhellung, der Wissenschaft und des Fortschritts gebunden wissen wollte und auf diesem Bekenntnis mit schönstem Wurf des Wortes und der Gebärde bestand. Da machte denn Naphta, kalt und scharf, sich anheischig, zu zeigen – und zeigte es auch fast bis zu blendender Unwidersprechlichkeit –, daß die Kirche als Verkörperung der religiös-asketischen Idee, im Innersten weit entfernt, Parteigängerin und Stütze dessen zu sein, was bestehen wolle, der weltlichen Bildung also, der staatlichen Rechtsordnungen, – vielmehr von jeher den radikalsten, den Umsturz mit Stumpf und Stiel auf ihre Fahne geschrieben habe; daß schlechthin alles, was sich bewahrenswert dünke und von den Matten, den Feigen, den Konservativen, den Bürgern zu bewahren versucht werde: Staat und Familie, weltliche Kunst und Wissenschaft – sich immer nur in bewußtem oder unbewußtem Widerspruch zur religiösen Idee gehalten habe, zur Kirche, deren eingeborene Tendenz und unverbrüchliches Ziel die Auflösung aller bestehenden weltlichen Ordnungen und die Neugestaltung der Gesellschaft nach dem Vorbilde des idealen, des kommunistischen Gottesstaates sei.
Das Wort hatte danach Herr Settembrini, und beim Himmel! er wußte etwas damit anzufangen. Eine solche Verwechslung des luziferischen Revolutionsgedankens mit der Generalrevolte aller schlechten Instinkte, sagte er, sei beklagenswert. Die Neuerungsliebe der Kirche habe durch die Jahrhunderte darin bestanden, den lebenzeugenden Gedanken zu inquirieren, zu erdrosseln, im Rauch ihrer Scheiterhaufen zu ersticken, und heute lasse sie sich durch ihre Emissäre für umwälzungsfroh erklären, mit der Begründung, ihr Ziel sei es, Freiheit, Bildung und Demokratie durch Pöbeldiktatur und Barbarei zu ersetzen. Eh, in der Tat, eine schauerliche Art widerspruchsvoller Konsequenz, konsequenten Widerspruches ...
An dergleichen Widerspruch und Folgerichtigkeit, entgegnete Naphta, lasse sein Gegner es nicht fehlen. Demokrat seiner eigenen Schätzung nach, äußere er sich wenig volks- und gleichheitsfreundlich, lege vielmehr eine sträfliche aristokratische Hochnäsigkeit zutage, indem er das zu stellvertretender Diktatur berufene Weltproletariat als Pöbel bezeichne. Aber als Demokrat, in Wahrheit, verhalte er sich offenbar zur Kirche, die allerdings, man müsse es auf stolze Art einräumen, die vornehmste Macht der Menschheitsgeschichte darstelle, – vornehm im letzten und höchsten Verstande, in dem des Geistes. Denn der asketische Geist, – wenn es erlaubt sei, in Pleonasmen zu reden – der Geist der Weltverneinung und Weltvernichtung sei die Vornehmheit selbst, das aristokratische Prinzip in Reinkultur; er könne niemals volkstümlich sein, und zu allen Zeiten sei die Kirche im Grunde unpopulär gewesen. Ein wenig literarische Bemühung um die Kultur des Mittelalters werde Herrn Settembrini dieser Tatsache ansichtig machen, – der derben Abneigung, die das Volk – und zwar das Volk im weitesten Sinne – dem kirchlichen Wesen entgegengebracht habe, gewisser Mönchsgestalten zum Beispiel, die, Erfindungen volkstümlicher Dichterphantasie, dem asketischen Gedanken auf bereits recht lutherische Weise Wein, Weib und Gesang entgegengestellt hätten. Alle Instinkte weltlichen Heldentums, aller Kriegergeist, dazu die höfische Dichtung habe sich in mehr oder minder offener Gegenstellung zur religiösen Idee und damit zur Hierarchie befunden. Denn das alles sei „Welt“ und Pöbeltum gewesen im Vergleich mit dem durch die Kirche dargestellten Adel des Geistes.
Herr Settembrini dankte für die Gedächtnisstärkung. Die Figur des Mönches Ilsan aus dem „Rosengarten“ behalte viel Erquickliches gegenüber dem hier gepriesenen Grabesaristokratismus, und wenn er, Redner, kein Freund des deutschen Reformators sei, auf den eine Anspielung geschehen, so finde man ihn doch glühend bereit, alles, was an demokratischem Individualismus seiner Lehre zugrunde liege, gegen jederlei geistlich-feudale Herrschaftsgelüste über die Persönlichkeit in Schutz zu nehmen.
„Ei!“ rief Naphta nun auf einmal. Man wolle der Kirche wohl gar einen Mangel an Demokratismus, an Sinn für den Wert der menschlichen Persönlichkeit unterstellen? Und die humane Vorurteilslosigkeit des kanonischen Rechtes, welches, während das römische die Rechtsfähigkeit vom Besitz des Bürgerrechtes abhängig gemacht, das germanische sie an Volkszugehörigkeit und persönliche Freiheit gebunden habe, einzig kirchliche Gemeinschaft und Rechtgläubigkeit verlangt, sich aller staatlichen und gesellschaftlichen Rücksichten entschlagen und die Testier- und Sukzessionsfähigkeit von Sklaven, Kriegsgefangenen, Unfreien behauptet habe?!
Diese Behauptung, bemerkte Settembrini bissig, sei wohl nicht ohne Seitenblick auf die „kanonische Portion“ aufrecht erhalten worden, die bei jedem Testament habe abfallen müssen. Im übrigen sprach er von „Pfaffendemagogie“, nannte es die Leutseligkeit unbedingter Machtbegier, die Unterwelt in Bewegung zu setzen, wenn die Götter begreiflicherweise nichts von einem wissen wollten, und meinte, es sei der Kirche offenbar auf die Quantität der Seelen mehr angekommen, als auf ihre Qualität, was auf tiefe geistige Unvornehmheit schließen lasse.
Unvornehm gesonnen – die Kirche? Herr Settembrini wurde auf den unerbittlichen Aristokratismus aufmerksam gemacht, welcher der Idee von der Erblichkeit der Schande zugrunde gelegen habe: der Übertragung schwerer Schuld auf die – demokratisch gesprochen – doch unschuldigen Nachkommen; die lebenslange Makelhaftigkeit und Rechtlosigkeit natürlicher Kinder zum Beispiel. Aber er bat, davon stille zu sein, – erstens, weil sein humanes Gefühl sich dagegen empöre, und zweitens, weil er die Winkelzüge satt habe und in den Kunstgriffen der gegnerischen Apologetik den durchaus infamen und teuflischen Kultus des Nichts wiedererkenne, der Geist genannt sein wolle, und der die eingestandene Unpopularität des asketischen Prinzips als etwas so Legitimes, so Heiliges empfinden lasse.
Hier kam nun Naphta denn doch um die Erlaubnis ein, hell herauslachen zu dürfen. Man spreche vom Nihilismus der Kirche! Vom Nihilismus des am meisten realistischen Herrschaftssystems der Weltgeschichte! Nie habe Herrn Settembrini also ein Hauch berührt von der humanen Ironie, mit der sie der Welt, dem Fleische beständig Zugeständnisse gewähre, in kluger Nachgiebigkeit die letzten Folgerungen des Prinzips verhülle und den Geist als regelnden Einfluß walten lasse, ohne der Natur allzu streng zu begegnen? Auch von dem priesterlich feinen Begriff der Indulgenz habe er folglich nie gehört, unter den sogar ein Sakrament, nämlich das der Ehe, falle, welches gar kein positives Gut, gleich den anderen Sakramenten, sondern nur ein Schutz gegen die Sünde sei, verliehen einzig zur Einschränkung der sinnlichen Begierde und der Unmäßigkeit, so daß das asketische Prinzip, das Keuschheitsideal sich darin behaupte, ohne daß dem Fleische mit unpolitischer Schärfe entgegengetreten werde?
Wie konnte Herr Settembrini da umhin, sich zu verwahren gegen einen so abscheulichen Begriff des „Politischen“, gegen die Gebärde dünkelhafter Nachsicht und Klugheit, die der Geist – das, was sich hier Geist nenne – sich anmaße gegen sein vermeintlich schuldhaftes und „politisch“ zu behandelndes Gegenteil, welches in Wahrheit seiner giftigen Indulgenz durchaus nicht bedürfe; gegen die verfluchte Zweiheitlichkeit einer Weltdeutung, die das Universum verteufele, nämlich sowohl das Leben, als auch zugleich sein erdünkeltes Gegenteil, den Geist: denn wenn jenes böse sei, müsse auch dieser, als reine Verneinung, es sein! Und er brach eine Lanze für die Unschuld der Wollust, – wobei Hans Castorp an sein Humanistenstübchen im Dache mit dem Stehpult, den Strohstühlen und der Wasserflasche denken mußte, – während Naphta, behauptend, nie könne Wollust ohne Schuld sein, und die Natur habe angesichts des Geistigen gefälligst ein schlechtes Gewissen zu haben, die kirchliche Politik und Indulgenz des Geistes als „Liebe“ bestimmte, um den Nihilismus des asketischen Prinzips zu widerlegen, – wobei Hans Castorp fand, daß das Wort „Liebe“ dem scharfen, mageren kleinen Naphta recht sonderbar zu Gesichte stehe ...
So ging das weiter, wir kennen das Spiel, Hans Castorp kannte es. Wir haben mit ihm einen Augenblick hingehört, um zu beobachten, wie, beispielsweise, ein solcher peripatetischer Waffengang sich im Schatten der nebenherwandelnden Persönlichkeit ausnahm, und auf welche Weise etwa diese Gegenwart ihn insgeheim um den Nerv brachte: nämlich so, daß ein heimlicher Zwang zur Bezugnahme auf sie den hin und her springenden Funken tötete und eine Erinnerung an jenes Gefühl matter Leblosigkeit sich aufdrängte, das uns überkommt, wenn eine elektrische Leitung sich als kontaktlos erweist. Gut! so war es. Da war kein Knistern zwischen den Widersprüchen mehr, kein Sprung des Blitzes, kein Strom, – die Gegenwart, neutralisiert durch den Geist, wie dieser meinen wollte, neutralisierte vielmehr den Geist; Hans Castorp ward es mit Staunen und Neugier gewahr.
Revolution und Erhaltung, – man blickte auf Peeperkorn, man sah ihn daherstapfen, nicht besonders großartig zu Fuß, mit seinem seitwärts nickenden Tritt und den Hut in der Stirn; sah seine breiten, unregelmäßig zerrissenen Lippen und hörte ihn sagen, indem er scherzhaft mit dem Kopf auf die Disputanten deutete: „Ja – ja – ja! Cerebrum, cerebral, verstehen Sie! Das ist – Da zeigt sich denn doch –“: und siehe, der Steckkontakt war mausetot! Sie versuchten es zum andern, griffen zu stärkeren Beschwörungen, kamen auf das „aristokratische Problem“, auf Popularität und Vornehmheit. Kein Funke. Magnetisch nahm das Gespräch persönlichen Bezug; Hans Castorp sah Clawdias Reisebegleiter unter der rotseidenen Steppdecke im Bette liegen, im kragenlosen Trikothemd, halb alter Arbeitsmann, halb Königsbüste, – und mit mattem Zucken erstarb der Nerv des Streites. Stärkere Spannungen! Verneinung hie und Kult des Nichts – hie ewiges Ja und liebende Neigung des Geistes zum Leben! Wo blieben Nerv, Blitz und Strom, wenn man auf Mynheer blickte, – was unvermeidlich und kraft geheimer Anziehung geschah? Kurzum, sie blieben aus, und das war, mit Hansens Wort, nicht weniger noch mehr als ein Mysterium. Für seine Aphorismensammlung mochte er sich notieren, daß man ein Mysterium mit allereinfachsten Worten ausspricht – oder es unausgesprochen läßt. Um dieses allenfalls auszusprechen, durfte man einzig sagen, aber dies geradezu, daß Pieter Peeperkorn mit seiner hochfaltigen Königsmaske und seinem bitter zerrissenen Munde jeweils beides war, daß beides auf ihn zu passen und in ihm sich aufzuheben schien, wenn man ihn ansah: dies und jenes, das eine und das andre. Ja, dieser dumme alte Mann, dies herrscherliche Zero! Er lähmte den Nerv der Widersprüche nicht durch Verwirrung und Quertreiberei, wie Naphta; er war nicht zweideutig, wie dieser, er war es auf ganz entgegengesetzte, auf positive Art, – dies torkelnde Mysterium, das offenkundig nicht über Dummheit und Gescheitheit allein, das über soviel andre Oppositionen noch hinaus war, die Settembrini und Naphta beschworen, um zu erzieherischem Behufe Hochspannung zu erzeugen. Die Persönlichkeit, so schien es, war nicht erzieherisch, – und dennoch, welche Chance war sie für einen Bildungsreisenden! Wie seltsam, diese Zweideutigkeit von einem König zu betrachten, als die Streiter auf Ehe und Sünde kamen, auf das Sakrament der Nachsicht, auf Schuld und Unschuld der Wollust! Er neigte das Haupt zur Schulter und Brust, die wehen Lippen taten sich voneinander, schlaff-klagend klaffte der Mund, die Nüstern spannten und verbreiterten sich wie in Schmerzen, die Falten der Stirne stiegen und weiteten die Augen zu blassem Leidensblick, – ein Bild der Bitternis. Und siehe, im selben Nu erblühte die Martermiene zur Üppigkeit! Die schräge Neigung des Hauptes deutete sich um in Schalkheit, die Lippen, noch offen, lächelten unsittsam, das sybaritische Grübchen, bekannt von früheren Gelegenheiten, erschien in einer Wange, – der tanzende Heidenpriester war da, und während er mit dem Kopfe scherzhaft in jene cerebrale Richtung deutete, hörte man ihn sagen: „Ei, ja, ja ja – perfekt. Das ist – Das sind – Da zeigt sich nun – Das Sakrament der Wollust, verstehen Sie – –“
Dennoch, wie wir sagten, am besten waren Hans Castorps herabgesetzte Freunde und Lehrer immer noch daran, wenn sie zanken konnten. Sie waren in ihrem Elemente alsdann, während das Format es nicht war, und immerhin mochte man verschieden urteilen über die Rolle, die er dabei spielte. Ganz zweifellos dagegen gestaltete die Lage sich zu ihrem Nachteil, wenn es nicht länger um Witz und Wort und Spiritus, sondern um Sachen, um Irden-Praktisches, kurz, um Fragen und Dinge ging, in denen Herrschernaturen sich eigentlich bewähren: dann wars um sie geschehen, sie traten in den Schatten, wurden unscheinbar, und Peeperkorn ergriff das Zepter, bestimmte, entschied, beorderte, bestellte und befahl ... Was wunder, daß er nach diesem Zustand trachtete und aus der Logomachie in ihn hinüberstrebte? Er litt, solange sie herrschte, oder doch, wenn sie lange herrschte; doch nicht aus Eitelkeit litt er unter ihr, – Hans Castorp war dessen versichert. Die Eitelkeit hat kein Format, und Größe ist nicht eitel. Nein, Peeperkorns Verlangen nach Dinglichkeit entsprang aus anderen Gründen: aus „Angst“, ganz grob und plump gesagt, aus jenem Pflichteifer und Ehrenraptus, dessen Hans Castorp gegen Herrn Settembrini versuchsweise erwähnt und den er als einen gewissermaßen militärischen Zug hatte ansprechen wollen.
„Meine Herren –“, sagte der Holländer, indem er die Kapitänshand mit den Nagellanzen beschwörend und gebietend erhob. „– Gut, meine Herren, perfekt, vortrefflich! Die Askese – die Indulgenz – die Sinnenlust – Ich möchte das – Durchaus! Höchst wichtig! Höchst strittig! Allein erlauben Sie mir – Ich fürchte, wir machen uns eines schweren – Wir entziehen uns, meine Herrschaften, wir entziehen uns in unverantwortlicher Weise den heiligsten –“ Er atmete tief. „Diese Luft, meine Herrschaften, die charaktervolle Föhnluft dieses Tages, mit ihrem zart entnervenden, ahnungs- und erinnerungsvollen Einschlag von Frühlingsaroma, – wir sollten sie nicht einatmen, um sie in Form von – Ich bitte dringend: wir sollten das nicht. Das ist eine Beleidigung. Nur ihr selbst sollten wir unsere volle und ganze – oh, unsere höchste und geistesgegenwärtigste – Erledigt, meine Herrschaften! Und nur als reine Lobpreisung ihrer Eigenschaften sollten wir sie wieder aus unserer Brust – – Ich unterbreche mich, meine Herrschaften! Ich unterbreche mich zu Ehren dieses –“ Er war stehengeblieben, zurückgebeugt, mit dem Hut die Augen beschattend, und alle folgten seinem Beispiel. „Ich lenke“, sagte er, „Ihre Aufmerksamkeit in die Höhe, in große Höhe, auf jenen schwarzen, kreisenden Punkt dort oben, unter dem außerordentlich blauen, ins Schwärzliche spielenden – Das ist ein Raubvogel, ein großer Raubvogel. Das ist, wenn mich nicht alles – Meine Herren und Sie, mein Kind, das ist ein Adler. Auf ihn lenke ich mit aller Entschiedenheit – Sehen Sie! Das ist kein Bussard und kein Geier, – wären Sie so übersichtig, wie ich es mit zunehmenden – Ja, mein Kind, gewiß, mit zunehmenden. Mein Haar ist bleich, gewiß. So würden Sie so deutlich, wie ich, an der stumpfen Rundung der Schwingen – Ein Adler, meine Herrschaften. Ein Steinadler. Er kreist gerade über uns im Blauen, schwebt ohne Flügelschlag in großartiger Höhe zu unseren – und späht gewiß aus seinen mächtigen, weitsichtigen Augen unter den vortretenden Brauenknochen – Der Adler, meine Herrschaften, Jupiters Vogel, der König seines Geschlechtes, der Leu der Lüfte! Er hat Federhosen und einen Schnabel von Eisen, nur vorne plötzlich eisern gekrümmt, und Fänge von ungeheurer Kraft, einwärts geschlagene Krallen, die vorderen von der langen rückwärtigen eisern umgriffen. Sehen Sie, so!“ Und er versuchte, mit seiner langgenagelten Kapitänshand die Adlerklaue darzustellen. „Gevatter, was kreist und spähst du!“ wendete er sich wieder nach oben. „Stoß nieder! Schlag ihm mit dem Eisenschnabel auf den Kopf und in die Augen, reiß ihm den Bauch auf, dem Wesen, das dir Gott – – Perfekt! Erledigt! Deine Fänge müssen in Eingeweide verstrickt sein und dein Schnabel triefen von Blut –“
Er war begeistert, und um die Teilnahme der Spaziergänger für Naphtas und Settembrinis Antinomien war es getan. Auch wirkte die Erscheinung des Adlers noch wortlos nach in den Beschlüssen und Unternehmungen, die unter Mynheers Leitung darauf folgten: Es gab Einkehr, es gab ein Essen und Trinken, ganz außer der Zeit, jedoch mit einem Appetit, der durch das stille Gedenken an den Adler befeuert ward; ein Schmausen und Zechen, wie Mynheer es so oft auch außerhalb des Berghofs ins Werk setzte, wo es sich eben traf, in „Platz“ und „Dorf“, in einem Wirtshaus zu Glaris oder Klosters, wohin man ausflugsweise mit dem Züglein gefahren war: Klassische Gaben genoß man unter seiner Herrscherleitung: Rahmkaffee mit ländlich Gebackenem oder saftigen Käse auf duftiger Alpenbutter, die auch zu heißen, gerösteten Kastanien wundervoll mundete, dazu Veltliner Roten, soviel das Herz begehrte; und Peeperkorn begleitete das Stegreifmahl mit großen Abgerissenheiten oder forderte Anton Karlowitsch Ferge zu reden auf, diesen gutmütigen Dulder, dem alles Höhere völlig fremd war, der aber sehr dinghaft von der Fabrikation russischer Gummischuhe zu erzählen wußte: Mit Schwefel und andren Stoffen versetze man die Gummimasse, und die fertigen, lackierten Schuhe würden in einer Hitze von über hundert Grad „vulkanisiert“. Auch vom Polarkreis sprach er, denn selbst bis dorthin hatten seine Dienstreisen ihn mehrfach geführt: von der Mitternachtssonne und vom ewigen Winter am Nordkap. Da sei, sagte er aus seiner knotigen Kehle und unter seinem überhängenden Schnurrbart hervor, der Dampfer ganz winzig erschienen gegen den ungeheuren Felsen und die stahlgraue Fläche des Meeres. Und gelbe Lichtflächen hätten sich am Himmel ausgebreitet, das sei das Nordlicht gewesen. Und alles sei ihm, Anton Karlowitsch, gespenstisch vorgekommen, die ganze Szenerie und er sich selber mit.
Soweit Herr Ferge, der einzige in der kleinen Gesellschaft, der außer allen hin und wieder laufenden Beziehungen stand. Was aber diese betraf, so gibt es zwei kurze Unterredungen aufzuzeichnen, zwei wunderliche Konversationen unter vier Augen, geführt zu jener Zeit von unserem unheldischen Helden mit Clawdia Chauchat und ihrem Reisebegleiter: mit jedem einzeln, die eine in der Halle, um eine Abendstunde, während die „Störung“ droben im Fieber lag, die andre eines Nachmittags an Mynheers Lager ...
Es herrschte Halbdunkel in der Halle an jenem Abend. Die regelmäßige Geselligkeit war matt und flüchtig gewesen, und früh hatte die Gästeschaft sich zum Spätliegedienst in die Balkonlogen verzogen, soweit sie nicht auf kurwidrigen Wegen wandelte, in die Welt hinab, zu Tanz und Spiel. Nur eine Lampe brannte irgendwo an der Decke des ausgestorbenen Raumes, und auch die anstoßenden Gesellschaftsräume waren kaum erhellt. Doch wußte Hans Castorp, daß Frau Chauchat, die das Diner ohne ihren Gebieter eingenommen hatte, noch nicht ins erste Stockwerk zurückgekehrt war, sondern allein im Schreib- und Lesezimmer verweilte, und darum hatte auch er gezögert, hinaufzugehen. Er saß in dem hinteren, durch eine flache Stufe erhöhten und durch ein paar weiße Bögen mit holzbekleideten Pfeilern vom Hauptraum abgegliederten Teil der Halle, saß am Kachelkamin, in solchem Schaukelstuhl wie der, worin Marusja sich damals gewiegt, als Joachim sein allereinziges Gespräch mit ihr gepflogen, und rauchte eine Zigarette, wie es um diese Stunde hier allenfalls statthaft war.
Sie kam, er hörte ihre Schritte, ihr Kleid hinter sich, sie war neben ihm, fächelte mit einem Brief, den sie an einer Ecke hielt, in der Luft hin und her und sagte mit ihrer Pribislavstimme:
„Der Concierge ist fort. Geben Sie schon ein timbre poste!“
Sie trug leichte dunkle Seide diesen Abend, ein Kleid mit rundem Halsausschnitt und lockeren Ärmeln, die unten als geknöpfte Manschetten knapp um die Handgelenke lagen. Er sah das mit Vorliebe. Sie hatte sich mit der Perlenreihe geschmückt, die bleich in der Dämmerung schimmerte. Er blickte hinauf in ihr Kirgisengesicht. Er wiederholte:
„Timbre? Ich habe keins.“
„Wie, keins? Tant pis pour vous. Nicht in Bereitschaft, einer Dame gefällig zu sein?“ Sie warf die Lippen auf und zuckte die Achseln. „Das enttäuscht mich. Präzis und zuverlässig solltet Ihr doch sein. Ich habe mir eingebildet, Sie hätten in einem Fache Ihres Portefeuilles kleine zusammengelegte Bögen von allen Sorten, nach der Wertstaffel geordnet.“
„Nein, wozu?“ sagte er. „Ich schreibe nie Briefe. An wen wohl? Höchst selten mal eine Karte, die gleich frankiert ist. An wen sollte ich wohl Briefe schreiben? Ich habe niemanden. Ich habe gar keine Fühlung mehr mit dem Flachland, die ist mir abhanden gekommen. Wir haben ein Lied in unserem Volksliederbuch, worin es heißt: ‚Ich bin der Welt abhanden gekommen‘. So steht es mit mir.“
„Nun, dann geben Sie schon wenigstens eine Papyros, verlorener Mensch!“ sagte sie, indem sie sich ihm gegenüber neben den Kamin auf die mit einem leinenen Kissen belegte Bank setzte, ein Bein über das andere legte und die Hand ausstreckte. „Es scheint, damit sind Sie versehen.“ Und sie nahm nachlässig und ohne zu danken aus seiner silbernen Dose die Zigarette, die er ihr entgegenschob, und bediente sich an dem Taschenfeuerzeug, das er vor ihrem vorgebeugten Gesichte spielen ließ. In diesem trägen „Geben Sie schon!“, diesem Nehmen ohne Dank lag Üppigkeit der verwöhnten Frau, überdies aber der Sinn menschlicher, oder besser gesagt: „mähnschlicher“ Gemeinsamkeit und Besitzgenossenschaft, einer wilden und weichen Selbstverständlichkeit des Gebens und Nehmens. Er kritisierte es bei sich in verliebtem Sinn. Dann sagte er:
„Ja, damit immer. Damit bin ich allerdings immer versehen. Das muß man haben. Wie käme man ohne das wohl aus? Nicht wahr, man nennt das eine Leidenschaft, wenn einer so fragt. Ich bin, offen gestanden, gar kein leidenschaftlicher Mensch, aber ich habe Leidenschaften, phlegmatische Leidenschaften.“
„Es beruhigt mich außerordentlich“, sagte sie, den eingeatmeten Rauch heraussprechend, „zu hören, daß Sie kein leidenschaftlicher Mensch sind. Übrigens, wie denn auch wohl? Sie müßten aus der Art geschlagen sein. Leidenschaft, das ist: um des Lebens willen leben. Aber es ist bekannt, daß ihr um des Erlebnisses willen lebt. Leidenschaft, das ist Selbstvergessenheit. Aber euch ist es um Selbstbereicherung zu tun. C’est ça. Sie haben keine Ahnung, daß das abscheulicher Egoismus ist, und daß ihr damit eines Tages als Feinde der Menschheit dastehen werdet?“
„Hallo, hallo! Gleich Feinde der Menschheit? – Was sagst du da, Clawdia, so allgemein? Was hast du Bestimmtes und Persönliches im Sinn, daß du sagst, uns sei es nicht um das Leben, sondern um Bereicherung zu tun? Ihr Frauen moralisiert doch nicht so ins Blaue hinein. Ach, die Moral, weißt du. Die ist ein Streitfall für Naphta und Settembrini. Die fällt ins Gebiet der großen Konfusion. Ob einer um seiner selbst willen lebt oder um des Lebens willen, das weiß er doch selber nicht, und niemand kann es genau und sicher wissen. Ich meine, die Grenze ist fließend. Da gibt es egoistische Hingabe und hingebenden Egoismus ... Ich glaube, es ist im ganzen, wie es in der Liebe ist. Natürlich ist es wohl unmoralisch, daß ich nicht recht darauf achten kann, was du mir sagst über Moral, sondern in erster Linie froh bin, daß wir zusammensitzen, wie nur einmal bisher und keinmal noch, seit du zurück bist. Und daß ich dir sagen kann, wie beispiellos gut dich diese engen Manschetten um deine Handgelenke kleiden und diese dünne Seide weit um deine Arme herum, – um deine Arme, die ich kenne ...“
„Ich gehe.“
„Geh, bitte, nicht! Ich werde die Umstände berücksichtigen und die Persönlichkeiten.“
„Worauf man denn doch wenigstens wird rechnen dürfen bei einem Menschen ohne Leidenschaft.“
„Ja, siehst du! Du spottest und schiltst mich aus, wenn ich ... Und du willst gehen, wenn ich ...“
„Man ist gebeten, weniger lückenhaft zu sprechen, wenn man verstanden zu werden wünscht.“
„Und ich soll also gar nicht, auch kein bißchen teilhaben an deiner Übung im Erraten von Lückenhaftigkeiten? Das ist ungerecht, – würde ich sagen, wenn ich nicht einsähe, daß es hier nicht um Gerechtigkeit geht ...“
„Ah, nein. Gerechtigkeit ist eine phlegmatische Leidenschaft. Im Gegensatz zur Eifersucht, mit der phlegmatische Leute sich unbedingt lächerlich machen würden.“
„Siehst du? Lächerlich. Gönne mir also mein Phlegma! Ich wiederhole: Wie käme ich ohne das wohl aus? Wie hätte ich ohne das zum Beispiel das Warten aushalten sollen?“
„Bitte?“
„Das Warten auf dich.“
„Voyons, mon ami. Ich will mich weiter nicht aufhalten über die Form, in der Sie mit närrischer Hartnäckigkeit zu mir reden. Sie werden dessen schon müde werden, und schließlich bin ich nicht zimperlich, keine entrüstete Bürgersfrau ...“
„Nein, denn du bist krank. Die Krankheit gibt dir Freiheit. Sie macht dich – halt, jetzt fällt mir ein Wort ein, das ich noch nie gebraucht habe! Sie macht dich genial!“
„Wir wollen über Genie ein andermal reden. Nicht das wollte ich sagen. Ich verlange eines. Sie werden nicht fingieren, daß ich mit Ihrem Warten – wenn Sie gewartet haben – irgend etwas zu schaffen hätte, daß ich Sie dazu ermutigt, es Ihnen auch nur erlaubt hätte. Sie werden mir sofort ausdrücklich bestätigen, daß das Gegenteil der Fall ist ...“
„Gern, Clawdia, gewiß. Du hast mich zum Warten nicht aufgefordert, ich habe aus freien Stücken gewartet. Ich verstehe vollkommen, daß du Gewicht darauf legst ...“
„Sogar Ihre Zugeständnisse haben etwas Impertinentes. Überhaupt sind Sie ein impertinenter Mensch, Gott weiß, wieso. Nicht nur im Verkehr mit mir, sondern auch sonst. Selbst Ihre Bewunderung, Ihre Unterordnung hat etwas Impertinentes. Glauben Sie nicht, daß ich das nicht sehe! Ich sollte überhaupt nicht mit Ihnen sprechen deswegen und auch darum nicht, weil Sie von Warten zu reden wagen. Es ist unverantwortlich, daß Sie noch hier sind. Längst sollten Sie wieder bei Ihrer Arbeit sein, sur le chantier, oder wo es war ...“
„Jetzt sprichst du ungenial und ganz konventionell, Clawdia. Das ist ja nur eine Redensart. Wie Settembrini kannst du es nicht meinen und wie denn sonst. Es ist nur so hingesagt, ich kann es nicht ernst nehmen. Ich werde nicht wilde Abreise halten, wie mein armer Vetter, der, wie du vorhersagtest, gestorben ist, als er versuchte, im Flachlande Dienst zu tun, und der es wohl selber wußte, daß er sterben werde, aber lieber sterben wollte, als hier weiter Kurdienst machen. Gut, dafür war er Soldat. Aber ich bin keiner, ich bin Zivilist, für mich wäre es Fahnenflucht, zu tun, wie er, und partout, trotz Radamanths Verbot, im Flachlande so ganz direkt dem Nutzen und dem Fortschritt dienen zu wollen. Das wäre die größte Undankbarkeit und Untreue gegen die Krankheit und das Genie und gegen meine Liebe zu dir, wovon ich alte Narben und neue Wunden trage, und gegen deine Arme, die ich kenne, – wenn ich auch zugebe, daß es nur im Traume war, in einem genialen Traum, daß ich sie kennen lernte, so daß dir selbstverständlich keinerlei Konsequenzen und Verpflichtungen und Einschränkungen deiner Freiheit daraus erwachsen ...“
Sie lachte, die Zigarette im Munde, daß ihre tatarischen Augen sich zusammenzogen, und ließ, gegen die Boiserie zurückgelehnt, die Hände neben sich auf die Bank gestützt und ein Bein über das andre geschlagen, den Fuß im schwarzen Lackschuh wippen.
„Quelle générosité! Oh là, là, vraiment, genau so habe ich mir einen homme de génie schon immer vorgestellt, mein armer Kleiner!“
„Laß das gut sein, Clawdia. Ich bin natürlich von Hause aus kein homme de génie, so wenig wie ich ein Mann von Format bin, du lieber Gott, nein. Aber dann bin ich durch Zufall – nenne es Zufall – so hoch heraufgetrieben worden in diese genialen Gegenden ... Mit einem Worte, du weißt wohl nicht, daß es etwas wie die alchimistisch-hermetische Pädagogik gibt, Transsubstantiation, und zwar zum Höheren, Steigerung also, wenn du mich recht verstehen willst. Aber natürlich, ein Stoff, der dazu taugen soll, durch äußere Einwirkungen zum Höheren hinaufgetrieben und -gezwängt zu werden, der muß es wohl im voraus ein bißchen in sich haben. Und was ich in mir hatte, das war, ich weiß es genau, daß ich von langer Hand her mit der Krankheit und dem Tode auf vertrautem Fuße stand und mir schon als Knabe unvernünftigerweise einen Bleistift von dir lieh, wie hier in der Faschingsnacht. Aber die unvernünftige Liebe ist genial, denn der Tod, weißt du, ist das geniale Prinzip, die res bina, der lapis philosophorum, und er ist auch das pädagogische Prinzip, denn die Liebe zu ihm führt zur Liebe des Lebens und des Menschen. So ist es, in meiner Balkonloge ist es mir aufgegangen, und ich bin entzückt, daß ich es dir sagen kann. Zum Leben gibt es zwei Wege: Der eine ist der gewöhnliche, direkte und brave. Der andere ist schlimm, er führt über den Tod, und das ist der geniale Weg!“
„Du bist ein närrischer Philosoph“, sagte sie. „Ich will nicht behaupten, daß ich alles verstehe in deinen krausen deutschen Gedanken, aber es klingt mähnschlich, was du sagst, und du bist zweifellos ein guter Junge. Übrigens hast du dich tatsächlich en philosophe benommen, man muß es dir lassen ...“
„Zu sehr en philosophe für deinen Geschmack, Clawdia, nicht?“
„Laß die Impertinenzen! Das wird langweilig. Daß du gewartet hast, war dumm und unerlaubt. Aber du bist mir nicht böse, weil du umsonst gewartet hast?“
„Nun, es war etwas hart, Clawdia, auch für einen Menschen von phlegmatischen Leidenschaften, – hart für mich und hart von dir, daß du mit ihm zusammen kamst, denn natürlich wußtest du durch Behrens, daß ich hier war und auf dich wartete. Aber ich sagte dir ja, daß ich sie nur als eine Traumnacht auffasse, die unsrige, und daß ich dir deine Freiheit zugestehe. Schließlich habe ich ja nicht umsonst gewartet, denn du bist wieder da, wir sitzen beieinander wie damals, ich höre die wunderbare Schärfe deiner Stimme, von langer Hand vertraut meinem Ohr, und unter dieser weiten Seide sind deine Arme, die ich kenne, – wenn freilich oben auch dein Reisebegleiter im Fieber liegt, der große Peeperkorn, der dir diese Perlen geschenkt hat ...“
„Und mit dem Sie um Ihrer Bereicherung willen so gute Freundschaft halten.“
„Nimms mir nicht übel, Clawdia! Auch Settembrini hat mich deswegen gescholten, aber das ist doch nur ein gesellschaftliches Vorurteil. Der Mann ist ein Gewinn, – in Gottes Namen, er ist ja eine Persönlichkeit! Daß er in Jahren ist, – nun ja. Ich würde es trotzdem ganz begreifen, wenn du als Frau ihn ungeheuer liebtest. Du liebst ihn also sehr?“
„Dein Philosophentum in Ehren, deutsches Hänschen“, sagte sie, indem sie ihm über das Haar strich, „aber ich würde es nicht für mähnschlich halten, dir von meiner Liebe zu ihm zu sprechen!“
„Ach, Clawdia, warum nicht. Ich glaube, die Menschlichkeit fängt an, wo ungeniale Leute glauben, daß sie aufhört. Laß uns doch ruhig von ihm reden! Du liebst ihn leidenschaftlich?“
Sie beugte sich vor, um die ausgerauchte Zigarette seitlich in den Kamin zu werfen und saß dann mit verschränkten Armen.
„Er liebt mich“, sagte sie, „und seine Liebe macht mich stolz und dankbar und ihm ergeben. Du wirst das verstehen, oder du bist der Freundschaft nicht würdig, die er dir widmet ... Sein Gefühl zwang mich, ihm zu folgen und ihm zu dienen. Wie denn wohl sonst? Urteile selbst! Ist es denn mähnschenmöglich, sich über sein Gefühl hinwegzusetzen?“
„Unmöglich!“ bestätigte Hans Castorp. „Nein, das war selbstverständlich ganz ausgeschlossen. Wie sollte eine Frau es wohl fertigbringen, sich über sein Gefühl hinwegzusetzen, über seine Angst um das Gefühl, ihn sozusagen in Gethsemane im Stich zu lassen ...“
„Du bist nicht dumm“, sagte sie, und ihre Schrägaugen blickten starr versonnen. „Du hast Verstand. Angst um das Gefühl ...“
„Es ist nicht viel Verstand nötig, um zu sehen, daß du ihm folgen mußtest, obgleich – oder vielmehr weil – seine Liebe viel Beängstigendes haben muß.“
„C’est exact ... Beängstigend. Man hat viel Sorge mit ihm, du weißt, viele Schwierigkeiten ...“ Sie hatte seine Hand genommen und spielte unbewußt mit ihren Gelenken, blickte aber plötzlich mit zusammengezogenen Brauen auf und fragte:
„Halt! Ist es nicht gemein, daß wir über ihn sprechen, wie wir da tun?“
„Gewiß nicht, Clawdia. Nein, weit entfernt. Es ist gewiß nicht mehr als menschlich! Du liebst das Wort, du dehnst es so schwärmerisch, ich habe es immer mit Interesse aus deinem Munde gehört. Mein Vetter Joachim mochte es nicht, aus soldatischen Gründen. Er meinte, es bedeute allgemeine Schlappheit und Schlottrigkeit, und so genommen, als uferloses guazzabuglio von Duldsamkeit, habe ich auch meine Bedenken dagegen, das gebe ich zu. Aber wenn es den Sinn von Freiheit und Genialität und Güte hat, dann ist es eben doch eine große Sache damit, und wir können es ruhig anführen zugunsten unseres Gesprächs über Peeperkorn und die Sorgen und Schwierigkeiten, die er dir macht. Sie resultieren natürlich aus seiner Ehrenpuschel, aus seiner Angst vor dem Versagen des Gefühls, die ihn die klassischen Hilfs- und Labungsmittel so lieben läßt, – wir können in aller Ehrfurcht davon sprechen, denn es hat alles Format bei ihm, großartiges Königsformat, und wir erniedrigen weder ihn noch uns, wenn wir es menschlich zur Sprache bringen.“
„Es handelt sich nicht um uns“, sagte sie und hatte die Arme wieder verschränkt. „Man wäre keine Frau, wenn man nicht um eines Mannes willen, eines Mannes von Format, wie du sagst, für den man ein Gegenstand des Gefühls und der Angst um das Gefühl ist, auch Erniedrigungen in den Kauf nehmen wollte.“
„Unbedingt, Clawdia. Sehr wohl gesprochen. Auch die Erniedrigung hat dann Format, und die Frau kann von der Höhe ihrer Erniedrigung herab zu denen, die kein Königsformat haben, so geringschätzig sprechen, wie du vorhin zu mir in betreff der timbres poste, in dem Ton, worin du sagtest: ‚Präzis und zuverlässig solltet ihr doch wenigstens sein!‘“
„Du bist empfindlich? Laß das. Wir wollen die Empfindlichkeit zum Teufel schicken, – bist du einverstanden? Auch ich bin zuweilen empfindlich gewesen, ich will es zugeben, da wir heute abend so beieinander sitzen. Ich habe mich geärgert an deinem Phlegma, und daß du dich auf so guten Fuß mit ihm stelltest um deines egoistischen Erlebnisses willen. Dennoch hat es mich gefreut, und ich war dir dankbar, daß du ihm Ehrfurcht erwiesest ... Es war viel Loyalität in deinem Betragen, und wenn auch etwas Impertinenz mit unterlief, so mußte ich sie dir am Ende zugute halten.“
„Das war sehr gütig von dir.“
Sie sah ihn an. „Es scheint, du bist unverbesserlich. Ich werde dir sagen: Du bist ein verschlagener Junge. Ich weiß nicht, ob du Geist hast; aber unbedingt besitzest du Verschlagenheit. Gut übrigens, es läßt sich damit leben. Es läßt sich Freundschaft damit halten. Wollen wir Freundschaft halten, ein Bündnis schließen für ihn, wie man sonst gegen jemanden ein Bündnis schließt! Gibst du mir darauf die Hand? Mir ist oft bange ... Ich fürchte mich manchmal vor dem Alleinsein mit ihm, dem innerlichen Alleinsein, tu sais ... Er ist beängstigend ... Ich fürchte zuweilen, es möchte nicht gut ausgehen mit ihm ... Es graut mir zuweilen ... Ich wüßte gern einen guten Menschen an meiner Seite ... Enfin, wenn du es hören willst, ich bin vielleicht deshalb mit ihm hierhergekommen ...“
Sie saßen Knie an Knie, er in dem vorwärts gewiegten Stuhl, sie auf der Bank. Sie hatte seine Hand gedrückt bei ihren letzten vor seinem Gesicht gesprochenen Worten. Er sagte:
„Zu mir? O, das ist schön. O, Clawdia, das ist ganz außerordentlich. Du bist mit ihm zu mir gekommen? Und du willst sagen, mein Warten sei dumm und unerlaubt und ganz umsonst gewesen? Das wäre im höchsten Grade linkisch, wenn ich das Anerbieten deiner Freundschaft nicht zu schätzen wüßte, der Freundschaft mit dir für ihn ...“
Da küßte sie ihn auf den Mund. Es war so ein russischer Kuß, von der Art derer, die in diesem weiten, seelenvollen Lande getauscht werden an hohen christlichen Festen, im Sinne der Liebesbesiegelung. Da aber ein notorisch „verschlagener“ junger Mann und eine ebenfalls noch junge, reizend schleichende Frau ihn tauschten, so fühlen wir uns, während wir davon erzählen, unwillkürlich von ferne an Doktor Krokowskis kunstreiche, wenn auch nicht einwandfreie Art erinnert, von der Liebe in einem leise schwankenden Sinn zu sprechen, so daß niemand recht sicher gewesen war, ob es Frommes oder Leidenschaftlich-Fleischliches damit auf sich hatte. Machen wir es wie er, oder machten Hans Castorp und Clawdia Chauchat es so bei ihrem russischen Kuß? Aber was würde man sagen, wenn wir uns schlechthin weigerten, dieser Frage auf den Grund zu gehen? Unserer Meinung nach ist es zwar analytisch, aber – um Hans Castorps Redewendung zu wiederholen – „im höchsten Grade linkisch“ und geradezu lebensunfreundlich, in Dingen der Liebe zwischen Frommem und Leidenschaftlichem „reinlich“ zu unterscheiden. Was heißt da reinlich! Was schwankender Sinn und Zweideutigkeit! Wir machen uns unverhohlen lustig darüber. Ist es nicht groß und gut, daß die Sprache nur ein Wort hat für alles, vom Frömmsten bis zum Fleischlich-Begierigsten, was man darunter verstehen kann? Das ist vollkommene Eindeutigkeit in der Zweideutigkeit, denn Liebe kann nicht unkörperlich sein in der äußersten Frömmigkeit und nicht unfromm in der äußersten Fleischlichkeit, sie ist immer sie selbst, als verschlagene Lebensfreundlichkeit wie als höchste Passion, sie ist die Sympathie mit dem Organischen, das rührend wollüstige Umfangen des zur Verwesung Bestimmten, – Charitas ist gewiß noch in der bewunderungsvollsten oder wütendsten Leidenschaft. Schwankender Sinn? Aber man lasse in Gottes Namen den Sinn der Liebe doch schwanken! Daß er schwankt, ist Leben und Menschlichkeit, und es würde einen durchaus trostlosen Mangel an Verschlagenheit bedeuten, sich um sein Schwanken Sorge zu machen.
Während also die Lippen Hans Castorps und Frau Chauchats sich im russischen Kusse finden, verdunkeln wir unser kleines Theater zum Szenenwechsel. Denn nun handelt es sich um die zweite der beiden Unterredungen, deren Mitteilung wir zusicherten, und nach Wiederherstellung der Beleuchtung, der trüben Beleuchtung eines zur Neige gehenden Frühlingstages, zur Zeit der Schneeschmelze, erblicken wir unseren Helden in schon gewohnter Lebenslage am Bette des großen Peeperkorn, in ehrerbietig-freundschaftlichem Gespräch mit ihm. Nach dem 4-Uhr-Tee im Speisesaal, zu dem Frau Chauchat, wie schon zu den drei vorhergehenden Mahlzeiten, allein erschienen war, um unmittelbar danach einen shopping-Gang nach „Platz“ hinunter anzutreten, hatte Hans Castorp sich zu einer seiner üblichen Krankenvisiten bei dem Holländer melden lassen, teils, um ihm Aufmerksamkeit zu bezeigen und ihn ein wenig zu unterhalten, teils, um sich seinerseits an seiner Persönlichkeitswirkung zu erbauen, – kurzum, aus lebensvoll schwankenden Motiven. Peeperkorn legte den „Telegraaf“ beiseite, warf den Hornzwicker darauf, nachdem er ihn sich am Bügel von der Nase gehoben, und reichte dem Besucher die Kapitänshand, während seine breiten, zerrissenen Lippen sich mit wundem Ausdruck undeutlich regten. Rotwein und Kaffee waren ihm wie gewöhnlich zur Hand: das Kaffeegeschirr stand auf dem Stuhle am Bett, braun benetzt vom Gebrauch, – Mynheer hatte seinen Nachmittagstrank genommen, stark und heiß, mit Zucker und Rahm, wie gewöhnlich, und er schwitzte davon. Sein weiß umflammtes Königsgesicht war gerötet, und kleine Tropfen standen ihm auf Stirn und Oberlippe.
„Ich schwitze etwas“, sagte er. „Willkommen, junger Mann. Im Gegenteil. Nehmen Sie Platz! Das ist ein Zeichen von Schwäche, wenn einem nach Einnahme eines warmen Getränkes sogleich – Wollen Sie mir – Ganz recht. Das Taschentuch. Ich danke sehr.“ Übrigens verlor sich die Röte bald und machte der gelblichen Blässe Platz, die nach einem malignen Anfall des großartigen Mannes Gesicht zu bedecken pflegte. Das Quartanfieber war stark gewesen diesen Vormittag, in allen drei Stadien, dem kalten, dem glühenden und dem feuchten, und Peeperkorns kleine, blasse Augen blickten matt unter der idolhaften Stirnlineatur. Er sagte:
„Es ist – durchaus, junger Mann. Ich möchte durchaus das Wort ‚anerkennenswert‘ – Absolut. Es ist sehr freundlich von Ihnen, einen kranken alten Mann –“
„Zu besuchen?“ fragte Hans Castorp ... „Nicht doch, Mynheer Peeperkorn. Ich bin es, der sehr dankbar zu sein hat, daß ich ein bißchen hier sitzen darf, ich habe ja unvergleichlich viel mehr davon, als Sie, ich komme aus rein egoistischen Gründen. Und was ist denn das für eine irreführende Bezeichnung für Ihre Person, – ‚ein kranker alter Mann‘. Kein Mensch würde darauf kommen, daß Sie das sein sollen. Es gibt ja ein völlig falsches Bild.“
„Gut, gut“, erwiderte Mynheer und schloß für einige Sekunden die Augen, das majestätische Haupt mit erhobenem Kinn ins Kissen zurückgelehnt, die langgenagelten Finger auf der breiten Königsbrust gefaltet, die sich unter dem Trikothemd abzeichnete. „Es ist gut, junger Mann, oder vielmehr, Sie meinen es gut, ich bin überzeugt davon. Es war angenehm gestern nachmittag – jawohl, noch gestern nachmittag – an jenem gastlichen Ort – ich habe seinen Namen vergessen –, wo wir die vortreffliche Salamiwurst mit Rühreiern und diesen gesunden Landwein –“
„Großartig war es!“ bestätigte Hans Castorp. „Wir haben es uns alle ganz unerlaubt schmecken lassen, – der Küchenchef hier vom Berghof wäre mit Recht beleidigt gewesen, wenn er’s gesehen hätte, – kurzum, wir waren ohne Ausnahme intensiv bei der Sache! Das war Salami von echtem Schrot und Korn, Herr Settembrini war ganz gerührt davon, er aß sie sozusagen mit feuchten Augen. Er ist ja ein Patriot, wie Sie wissen werden, ein demokratischer Patriot. Er hat seine Bürgerpike am Altar der Menschheit geweiht, damit die Salami in Zukunft an der Brennergrenze verzollt werde.“
„Das ist unwesentlich“, erklärte Peeperkorn. „Er ist ein ritterlicher und heiter gesprächiger Mann, ein Kavalier, obgleich es ihm offenbar nicht vergönnt ist, häufig seine Kleidung zu wechseln.“
„Überhaupt nicht!“ sagte Hans Castorp. „Überhaupt nicht vergönnt! Ich kenne ihn nun schon lange Zeit und bin sehr befreundet mit ihm, das heißt, er hat sich meiner aufs dankenswerteste angenommen, weil er nämlich fand, ich wäre ein ‚Sorgenkind des Lebens‘ – das ist so eine Redewendung zwischen uns, der Ausdruck ist nicht ohne weiteres verständlich – und sich die Mühe gibt, berichtigend auf mich einzuwirken. Aber nie habe ich ihn anders gesehen, weder im Sommer noch im Winter, als in den gewürfelten Hosen und dem faserigen Doppelreiher, er trägt die alten Sachen übrigens mit hervorragendem Anstand, durchaus kavaliermäßig, da stimme ich Ihnen entschieden zu. Es ist ein Triumph über die Ärmlichkeit, wie er sie trägt, und mir ist diese Ärmlichkeit sogar lieber als die Eleganz des kleinen Naphta, bei der einem nie recht geheuer ist, sie ist sozusagen des Teufels, und die Mittel dazu bezieht er hintenherum, – ich habe einigen Einblick in die Verhältnisse.“
„Ein ritterlicher und heiterer Mann,“ wiederholte Peeperkorn, ohne auf die Bemerkung über Naphta einzugehen, „wenn auch – erlauben Sie mir diese Einschränkung – wenn auch nicht ohne Vorurteile. Madame, meine Reisebegleiterin, schätzt ihn nicht sonderlich, wie Sie vielleicht bemerkt haben werden; sie äußert sich ohne Sympathie über ihn, zweifellos weil sie derartige Vorurteile aus seinem Verhalten gegen sie – Kein Wort, junger Mann. Ich bin weit entfernt, Herrn Settembrini und Ihren freundschaftlichen Empfindungen für ihn – Erledigt! Ich denke nicht daran, zu behaupten, daß er es je im Punkte jener Artigkeit, die ein Kavalier einer Dame – Perfekt, lieber Freund, durchaus einwandfrei! Allein es ist da doch eine Grenze, eine Zurückhaltung, eine gewisse Re–ku–sa–tion, die Madames Stimmung gegen ihn menschlich in hohem Grade –“
„Begreiflich macht. Verständlich macht. In hohem Grade rechtfertigt. Verzeihen Sie, Mynheer Peeperkorn, daß ich eigenmächtig Ihren Satz beende. Ich kann es riskieren in dem Bewußtsein völligen Einverständnisses mit Ihnen. Besonders wenn man in Anschlag bringt, wie sehr die Frauen – Sie mögen lächeln, daß ich in meinem zarten Alter so allgemein von den Frauen spreche – wie sehr sie in ihrem Verhalten zum Manne abhängig sind von dem Verhalten des Mannes zu ihnen, – so gibt es da nichts zu verwundern. Die Frauen, so möchte ich mich ausdrücken, sind reaktive Geschöpfe, ohne selbständige Initiative, lässig im Sinne von passiv ... Lassen Sie mich das, bitte, wenn auch mühsam, etwas weiter auszuführen versuchen. Die Frau, soweit ich feststellen konnte, betrachtet sich in Liebesangelegenheiten primär durchaus als Objekt, sie läßt es an sich herankommen, sie wählt nicht frei, sie wird zum wählenden Subjekt der Liebe erst auf Grund der Wahl des Mannes, und auch dann noch, erlauben Sie mir, das hinzuzufügen, ist ihre Wahlfreiheit – vorausgesetzt nur eben, daß es sich nicht um eine gar zu betrübte Seele von Mann handelt, aber selbst das kann nicht als strenge Bedingung gelten – ist also ihre Wahlfreiheit sehr beeinträchtigt und bestochen durch die Tatsache, daß sie gewählt wurde. Lieber Gott, es werden Abgeschmacktheiten sein, was ich da äußere, aber wenn man jung ist, so ist einem natürlich alles neu, neu und erstaunlich. Sie fragen eine Frau: ‚Liebst du ihn denn?‘ ‚Er liebt mich so sehr!‘ antwortet sie Ihnen mit Augenaufschlag oder auch -niederschlag. Nun stellen Sie sich eine solche Antwort im Munde von unsereinem vor – verzeihen Sie die Zusammenziehung! Vielleicht gibt es Männer, die so antworten müßten, aber sie sind doch ausgesprochen ridikül, Pantoffelhelden der Liebe, um mich epigrammatisch auszudrücken. Ich möchte wissen, von welcher Selbsteinschätzung diese weibliche Antwort eigentlich zeugt. Findet die Frau, daß sie dem Manne grenzenlose Ergebenheit schuldet, der ein so niederes Wesen wie sie mit seiner Liebeswahl begnadet, oder erblickt sie in der Liebe des Mannes zu ihrer Person ein untrügliches Zeichen seiner Vorzüglichkeit. Das habe ich mich in stillen Stunden schon beiläufig hier und da einmal gefragt.“
„Urdinge, klassische Tatsachen, Sie rühren, junger Mann, mit Ihrem gewandten kleinen Wort an heilige Gegebenheiten“, erwiderte Peeperkorn. „Den Mann berauscht seine Begierde, das Weib verlangt und gewärtigt, von seiner Begierde berauscht zu werden. Daher unsere Verpflichtung zum Gefühl. Daher die entsetzliche Schande der Gefühllosigkeit, der Ohnmacht, das Weib zur Begierde zu wecken. Trinken Sie ein Glas Rotwein mit mir? Ich trinke. Mich dürstet. Die Feuchtigkeitsabgabe dieses Tages war erheblich.“
„Ich danke recht sehr, Mynheer Peeperkorn. Es ist zwar nicht meine Stunde, aber einen Schluck auf Ihr Wohl zu trinken bin ich immer bereit.“
„So nehmen Sie das Weinglas. Es ist nur eins zur Stelle. Ich greife aushilfsweise zum Wasserbecher. Ich denke, man tritt diesem kleinen Sauser nicht zu nahe, indem man ihn aus schlichtem Gefäße –“ Er schenkte ein, unter Beihilfe seines Gastes, mit leicht zitternder Kapitänshand, und goß durstig den Rotwein aus dem fußlosen Glase durch seine Büstengurgel, genau, als ob es klares Wasser wäre.
„Das labt“, sagte er. „Sie trinken nicht mehr? Dann erlauben Sie, daß ich mir noch einmal –“ Er verschüttete etwas Wein beim abermaligen Einschenken. Das Einschlaglaken seiner Decke war dunkelrot befleckt. „Ich wiederhole“, sagte er mit erhobener Fingerlanze, während in seiner anderen Hand das Weinglas zitterte, „ich wiederhole: daher unsere Verpflichtung, unsere religiöse Verpflichtung zum Gefühl. Unser Gefühl, verstehen Sie, ist die Manneskraft, die das Leben weckt. Das Leben schlummert. Es will geweckt sein zur trunkenen Hochzeit mit dem göttlichen Gefühl. Denn das Gefühl, junger Mann, ist göttlich. Der Mensch ist göttlich, sofern er fühlt. Er ist das Gefühl Gottes. Gott schuf ihn, um durch ihn zu fühlen. Der Mensch ist nichts als das Organ, durch das Gott seine Hochzeit mit dem erweckten und berauschten Leben vollzieht. Versagt er im Gefühl, so bricht Gottesschande herein, es ist die Niederlage von Gottes Manneskraft, eine kosmische Katastrophe, ein unausdenkbares Entsetzen –“ Er trank.
„Erlauben Sie, daß ich Ihnen das Glas abnehme, Mynheer Peeperkorn“, sagte Hans Castorp. „Ich folge Ihrem Gedankengang zu meiner größten Belehrung. Sie entwickeln da eine theologische Theorie, mit der Sie dem Menschen eine höchst ehrenvolle, wenn auch vielleicht etwas einseitige religiöse Funktion zuschreiben. Es liegt, wenn ich mir das zu bemerken erlauben darf, eine gewisse Rigorosität in Ihrer Anschauungsweise, die ihr Beklemmendes hat, – verzeihen Sie! Alle religiöse Strenge ist natürlich beklemmend für Leute bescheideneren Formates. Ich denke nicht daran, Sie korrigieren zu wollen, sondern ich möchte nur einlenkend auf Ihre Äußerung über gewisse ‚Vorurteile‘ zurückkommen, die nach Ihrer Beobachtung Herr Settembrini Madame, Ihrer Reisebegleiterin, entgegenbringt. Ich kenne Herrn Settembrini lange, sehr lange, seit Jahr und Tag, seit Jahren und Tagen. Und ich kann Sie versichern, daß seine Vorurteile, soweit sie überhaupt bestehen, auf keinen Fall kleinlichen und spießbürgerlichen Charakters sind, – lächerlich, so etwas zu denken. Es kann sich da einzig und allein um Vorurteile von größerem Stil und also unpersönlicher Art handeln, um allgemein pädagogische Prinzipien, bei deren Geltendmachung Herr Settembrini offen gestanden mich in meiner Eigenschaft als ‚Sorgenkind des Lebens‘ – Aber das führt zu weit. Es ist eine überaus weitläufige Angelegenheit, die ich unmöglich in zwei Worten –“
„Und Sie lieben Madame?“ fragte Mynheer plötzlich und wandte dem Besucher sein Königsantlitz mit dem weh zerrissenen Munde und den kleinen blassen Augen unter dem Stirnarabeskenwerk zu ... Hans Castorp erschrak. Er stammelte:
„Ob ich ... Das heißt ... Ich verehre Frau Chauchat selbstverständlich schon in ihrer Eigenschaft als –“
„Ich bitte!“ sprach Peeperkorn, indem er mit zurückdämmender Kulturgebärde die Hand ausstreckte. „Lassen Sie mich,“ fuhr er fort, nachdem er auf diese Weise Platz geschaffen für das, was er zu sagen hatte, „lassen Sie mich wiederholen, daß ich weit von dem Vorwurf entfernt bin, dieser italienische Herr habe sich je eines wirklichen Verstoßes gegen die Gebote der Ritterlichkeit – Ich erhebe gegen niemanden diesen Vorwurf, gegen niemanden. Allein mir fällt auf – Im gegenwärtigen Augenblick etwa erfreue ich mich – Gut, junger Mann. Durchaus gut und schön. Ich erfreue mich, daran ist kein Zweifel; es gereicht mir zur wirklichen Annehmlichkeit. Gleichwohl sage ich mir – Ich sage mir kurz und gut: Ihre Bekanntschaft mit Madame ist älter, als die unsrige. Sie haben schon ihren vorigen Aufenthalt an diesem Orte mit ihr geteilt. Außerdem ist sie eine Frau von reizvollsten Eigenschaften, und ich bin nur ein kranker alter Mann. Wie kommt es – Sie ist, da ich unpäßlich bin, heute nachmittag, um Einkäufe zu machen, allein und ohne Begleitung hinab in den Kurort – Kein Unglück! Bei weitem nicht! Nur wäre es zweifellos – Soll ich es dem Einfluß der – wie sagten Sie – der pädagogischen Prinzipien Signor Settembrinis zuschreiben, daß Sie dem ritterlichen Antriebe – Ich bitte, mich aufs Wort zu verstehen ...“
„Aufs Wort, Mynheer Peeperkorn. O nein. Aber ganz und gar nicht. Ich handle absolut selbständig. Im Gegenteil hat mich Herr Settembrini sogar gelegentlich – – Ich sehe da zu meinem Bedauern Weinflecke auf Ihrem Laken, Mynheer Peeperkorn. Sollte man nicht – Wir pflegten Salz darauf zu schütten, solange sie frisch waren –“
„Das ist unwesentlich“, sprach Peeperkorn, indem er seinen Gast im Auge behielt.
Hans Castorp verfärbte sich.
„Die Dinge“, sagte er mit falschem Lächeln, „liegen hier doch etwas anders als gewöhnlich. Der Ortsgeist, möchte ich es ausdrücken, ist nicht der konventionelle. Das Vorrecht hat der Kranke, ob Mann oder Frau. Die Vorschriften der Ritterlichkeit treten dagegen zurück. Sie sind vorübergehend unpäßlich, Mynheer Peeperkorn, – eine akute Unpäßlichkeit, eine Unpäßlichkeit von Aktualität. Ihre Reisebegleiterin ist vergleichsweise gesund. Da glaube ich ganz im Sinne von Madame zu handeln, wenn ich sie in ihrer Abwesenheit ein bißchen bei Ihnen vertrete – soweit hier von Vertretung die Rede sein kann, ha, ha: – statt umgekehrt Sie bei ihr zu vertreten und ihr meine Begleitung in den Ort hinunter anzubieten. Wie käme ich auch wohl dazu, Ihrer Reisebegleiterin meine Ritterdienste aufzudrängen? Dazu habe ich gar keinen Rechtstitel und kein Mandat. Ich darf sagen, daß ich viel Sinn für positive Rechtsverhältnisse habe. Kurzum, meine Situation, finde ich, ist korrekt, sie entspricht der allgemeinen Sachlage, sie entspricht namentlich meinen aufrichtigen Empfindungen für Ihre Person, Mynheer Peeperkorn, und somit glaube ich auf Ihre Frage – denn Sie richteten wohl eine Frage an mich – eine befriedigende Antwort erteilt zu haben.“
„Eine sehr angenehme“, erwiderte Peeperkorn. „Ich lausche mit unwillkürlichem Vergnügen auf Ihr behendes kleines Wort, junger Mann. Es springt über Stock und Stein und rundet die Dinge zur Annehmlichkeit. Allein befriedigend, – nein. Ihre Antwort befriedigt mich nicht ganz, – verzeihen Sie, wenn ich Ihnen damit eine Enttäuschung bereite. ‚Rigoros‘, lieber Freund, Sie brauchten dies Wort vorhin in Hinsicht auf gewisse von mir geäußerte Anschauungen. Aber auch in Ihren Äußerungen liegt eine gewisse Rigorosität, eine Strenge und Gezwungenheit, die mir mit Ihrer Natur nicht übereinzustimmen scheint, obgleich sie mir aus Ihrem Verhalten in gewisser Beziehung bekannt ist. Ich erkenne sie wieder. Es ist die nämliche Gezwungenheit, die Sie bei unseren gemeinsamen Unternehmungen, unseren Spaziergängen gegen Madame – gegen sonst niemanden – an den Tag legen, und für die Sie mir eine Erklärung – das ist eine Schuld, eine Schuldigkeit, junger Mann. Ich irre mich nicht. Die Beobachtung hat sich mir zu oft bestätigt, und es ist unwahrscheinlich, daß sie sich nicht auch anderen aufgedrängt haben sollte, mit dem Unterschiede, daß diese anderen sich möglicherweise, ja wahrscheinlich im Besitz der Erklärung des Phänomens befinden.“
Mynheer sprach in ungewöhnlich präzisem und geschlossenem Stil heute nachmittag, trotz seiner Erschöpfung durch den malignen Anfall. Es fehlte fast jede Abgerissenheit. Im Bette halb sitzend, die mächtigen Schultern, das großartige Haupt gegen den Besucher gewandt, hielt er den einen Arm über der Bettdecke ausgestreckt, und seine sommersprossige Kapitänshand, aufrecht stehend am Ende des Wollärmels, bildete den von den Fingerlanzen überragten Exaktheitsring, während sein Mund die Worte so scharf und genau, ja plastisch bildete, wie Herr Settembrini es nur hätte wünschen können, mit gerolltem Kehl-r in Wörtern wie „wahrscheinlich“ und „aufgedrängt“.
„Sie lächeln,“ fuhr er fort, „Sie drehen blinzelnd den Kopf hin und her, Sie scheinen sich eines ergebnislosen Nachdenkens zu befleißigen. Gleichwohl ist gar kein Zweifel, daß Sie wissen, was ich meine, und um was es sich handelt. Ich behaupte nicht, daß Sie nicht zuweilen das Wort an Madame richteten oder ihr die Antwort schuldig blieben, wenn die Unterhaltung das Umgekehrte mit sich bringt. Aber ich wiederhole, es geschieht mit einer bestimmten Gezwungenheit, genauer: einem Ausweichen, einem Vermeiden, und zwar, wenn man näher zusieht, dem Vermeiden einer Form. Man hat, soweit Sie in Frage kommen, den Eindruck, als handelte es sich um eine Wette, als hätten Sie ein Vielliebchen mit Madame gegessen und dürften sich laut Abmachung nicht der Anredeform gegen sie bedienen. Sie vermeiden es folgerecht und ohne Ausnahme, sie anzureden. Sie sagen nicht ‚Sie‘ zu ihr.“
„Aber Mynheer Peeperkorn ... Was denn für ein Vielliebchen ...“
„Ich darf Sie auf den Umstand hinweisen, dessen Sie selbst nicht unkund sein werden, daß Sie soeben blaß geworden sind bis in die Lippen hinein.“
Hans Castorp blickte nicht auf. Gebeugt und angelegentlich beschäftigte er sich mit den roten Flecken auf dem Laken. „Dahin mußte es kommen!“ dachte er. „Darauf wollte es hinaus. Ich habe, glaube ich, selber das meine getan, damit es darauf hinausliefe. Ich habe es in gewissem Grade darauf angelegt, wie mir in diesem Augenblick bewußt wird. Bin ich wahrhaftig so blaß geworden? Es kann wohl sein, denn nun geht es auf Biegen und Brechen. Man weiß nicht, was geschieht. Kann ich noch lügen? Es ginge wohl, doch will ichs gar nicht. Ich bleibe vorderhand bei diesen Blutflecken, Rotweinflecken hier im Laken.“
Auch über ihm schwieg man. Die Stille dauerte wohl zwei oder drei Minuten lang, – sie gab zu bemerken, welche Ausdehnung diese winzigen Einheiten unter solchen Umständen gewinnen können.
Pieter Peeperkorn war es, der das Gespräch wieder eröffnete.
„Es war an jenem Abend, der mir den Vorzug Ihrer Bekanntschaft gebracht hatte“, begann er in singendem Ton und ließ am Schlusse die Stimme sinken, als sei das der erste Satz einer längeren Erzählung. „Wir hatten ein kleines Fest gefeiert, Speise und Trank genossen, und in gehobener Stimmung, in menschlich gelöster und kühner Verfassung suchten wir zu vorgerückter Stunde Arm in Arm unser Nachtlager auf. Da geschah es, hier vor meiner Tür, beim Abschiede, daß mir die Eingebung kam, die Aufforderung an Sie zu richten, Sie möchten mit den Lippen die Stirn der Frau berühren, die Sie mir als einen guten Freund von früherem Aufenthalte her vorgestellt hatte, und es ihr anheimzugeben, diese feierlich-heitere Handlung zum Zeichen der erhöhten Stunde vor meinen Augen zu erwidern. Sie verwarfen rundweg meine Anregung, verwarfen sie mit der Begründung, Sie empfänden es als unsinnig, mit meiner Reisebegleiterin Stirnküsse zu tauschen. Sie werden nicht bestreiten, daß das eine Erläuterung war, die selbst der Erklärung bedurft hätte, einer Erklärung, die Sie mir bis zur Stunde schuldig geblieben sind. Sind Sie gewillt, diese Schuld jetzt abzutragen?“
„So, das hat er also auch gemerkt“, dachte Hans Castorp und wandte sich noch näher den Weinflecken zu, indem er mit der gekrümmten Spitze des Mittelfingers an einem davon kratzte. „Im Grunde wollte ich wohl damals, daß er es merkte und es sich merkte, sonst hätte ichs nicht gesagt. Aber was nun? Mir schlägt das Herz nicht wenig. Wird es einen Königskoller vom ersten Range geben? Vielleicht täte ich gut, mich nach seiner Faust umzusehen, die möglicherweise schon über mir schwebt? Eine hoch-eigentümliche und äußerst brenzlige Lage, in der ich mich da befinde!“
Plötzlich fühlte er sein Handgelenk, das rechte, von der Hand Peeperkorns umfaßt.
„Jetzt faßt er mich am Handgelenk!“ dachte er. „Na, lächerlich, was sitze ich da wie ein begossener Pudel! Habe ich mich schuldhaft vergangen gegen ihn? Keine Spur. Zuerst hat der Mann in Daghestan sich zu beklagen. Und dann dieser und jener. Und dann ich. Und er hat sich meines Wissens überhaupt noch nicht zu beklagen. Was schlägt mir also das Herz? Es ist hohe Zeit, daß ich mich aufrichte und ihm frank, wenn auch ehrerbietig in das großmächtige Antlitz blicke!“
So tat er. Das großmächtige Antlitz war gelb, die Augen blickten blaß unter angezogener Stirnlineatur, der Ausdruck der zerrissenen Lippen war bitter. Sie lasen einer in des anderen Augen, der große alte und der unbedeutende junge Mann, indem der eine fortfuhr, den anderen am Handgelenk zu halten. Endlich sprach Peeperkorn leise:
„Sie waren Clawdias Geliebter bei ihrem vorigen Aufenthalt.“
Hans Castorp ließ noch einmal den Kopf sinken, richtete ihn aber gleich wieder auf und sagte nach einem tiefen Atemzug:
„Mynheer Peeperkorn! Es widersteht mir im höchsten Grade, Sie zu belügen, und ich suche nach einer Möglichkeit, das zu vermeiden. Es ist nicht leicht. Ich prahle, wenn ich Ihre Feststellung bestätige, und ich lüge, wenn ich sie leugne. Das ist so zu verstehen. Ich habe lange Zeit, sehr lange Zeit mit Clawdia – verzeihen Sie – mit Ihrer gegenwärtigen Reisebegleiterin zusammen in diesem Hause gelebt, ohne sie gesellschaftlich zu kennen. Das Gesellschaftliche schied aus in unseren Beziehungen oder in meinen Beziehungen zu ihr, von denen ich sagen will, daß ihr Ursprung im Dunklen liegt. Ich habe Clawdia in meinen Gedanken nie anders als Du genannt und auch in Wirklichkeit nie anders. Denn der Abend, an dem ich gewisse pädagogische Fesseln, von denen schon kurz die Rede war, abstreifte und mich ihr näherte – unter einem Vorwand, der mir von früher her nahe lag –, war ein maskierter Abend, ein Faschingsabend, ein unverantwortlicher Abend, ein Abend des Du, in dessen Verlauf das Du auf traumhafte und unverantwortliche Weise vollen Sinn gewann. Er war aber zugleich der Vorabend von Clawdias Abreise.“
„Vollen Sinn“, wiederholte Peeperkorn. „Sie haben das sehr artig –“ Er ließ Hans Castorp los und begann, sich mit den Flächen seiner langnägeligen Kapitänshände beide Gesichtshälften zu massieren, Augenhöhlen, Wangen und Kinn. Dann faltete er die Hände auf dem weinbesudelten Laken und legte den Kopf auf die Seite, die linke Seite, gegen den Gast hin, so daß es einem Abwenden des Gesichtes gleichkam.
„Ich habe Ihnen so richtig wie möglich geantwortet, Mynheer Peeperkorn,“ sagte Hans Castorp, „und mich gewissenhaft bemüht, weder zuviel noch zuwenig zu sagen. Es kam mir vor allem darauf an, Sie bemerken zu lassen, daß es gewissermaßen freisteht, jenen Abend des vollen Du und des Abschieds mitzählen zu lassen oder nicht, – daß er ein aus aller Ordnung und beinahe aus dem Kalender fallender Abend war, ein hors d’œuvre, sozusagen, ein Extraabend, ein Schaltabend, der neunundzwanzigste Februar, – und daß es also nur eine halbe Lüge gewesen wäre, wenn ich Ihre Feststellung geleugnet hätte.“
Peeperkorn antwortete nicht.
„Ich habe es vorgezogen,“ fing Hans Castorp nach einer Pause wieder an, „Ihnen die Wahrheit zu sagen auf die Gefahr hin, dadurch Ihres Wohlwollens verlustig zu gehen, was, ganz offen gestanden, ein empfindlicher Verlust für mich wäre, ich kann wohl sagen: ein Schlag, ein wirklicher Schlag, den man wohl in Vergleich stellen könnte mit dem Schlag, den es für mich bedeutete, als Frau Chauchat nicht allein, sondern als Ihre Reisebegleiterin hier wieder eintraf. Ich habe es auf diese Gefahr ankommen lassen, weil es längst mein Wunsch gewesen ist, daß Klarheit zwischen uns – zwischen Ihnen, dem ich so außerordentlich verehrungsvolle Empfindungen entgegenbringe, und mir herrschen möge, – das schien mir schöner und menschlicher – Sie wissen, wie Clawdia das Wort ausspricht mit ihrer zauberhaft belegten Stimme, so reizend gedehnt –, als Verschwiegenheit und Verstellung, und insofern ist mir ein Stein vom Herzen gefallen, als Sie vorhin Ihre Feststellung machten.“
Keine Antwort.
„Noch eins, Mynheer Peeperkorn“, fuhr Hans Castorp fort. „Noch eins ließ mich wünschen, Ihnen reinen Wein einschenken zu dürfen, nämlich die persönliche Erfahrung, wie irritierend die Unsicherheit, das Angewiesensein auf halbe Vermutungen in dieser Richtung wirken kann. Sie wissen nun, wer es war, mit dem Clawdia, bevor das gegenwärtige positive Rechtsverhältnis sich herstellte, das nicht zu respektieren natürlich ausgemachter Wahnsinn wäre, einen – einen neunundzwanzigsten Februar erlebt, verbracht, begangen – also begangen hat. Ich habe für mein Teil diese Klarheit nie gewinnen können, obgleich ich mir klar darüber war, daß jeder, der in die Lage kommt, darüber nachzudenken, mit solchen Vorgängen, ich meine eigentlich Vorgängern, rechnen muß, und obgleich ich ferner wußte, daß Hofrat Behrens, der, wie Sie vielleicht wissen, in Öl dilettiert, im Laufe vieler Sitzungen ein hervorragendes Porträt von ihr angefertigt hatte, von einer Anschaulichkeit in der Wiedergabe der Haut, die unter uns gesagt zu starkem Stutzen Anlaß gibt. Das hat mir viel Qual und Kopfzerbrechen verursacht und tut es noch heute.“
„Sie lieben sie noch?“ fragte Peeperkorn, ohne seine Stellung zu verändern, das heißt: mit abgewandtem Gesicht ... Das große Zimmer sank mehr und mehr in Dämmerung.
„Entschuldigen Sie, Mynheer Peeperkorn,“ antwortete Hans Castorp, „aber meine Empfindungen für Sie, Empfindungen größter Hochachtung und Bewunderung, würden es mir nicht als schicklich erscheinen lassen, Ihnen von meinen Empfindungen für Ihre Reisebegleiterin zu sprechen.“
„Und teilt sie“, fragte Peeperkorn mit stiller Stimme, „diese Empfindungen auch heute noch?“
„Ich sage nicht,“ versetzte Hans Castorp, „ich sage nicht, daß sie sie jemals geteilt hat. Das ist wenig glaubwürdig. Wir haben diesen Gegenstand vorhin theoretisch berührt, als wir von der reaktiven Natur der Frauen sprachen. An mir ist natürlich nicht viel zu lieben. Was habe denn ich für ein Format, – urteilen Sie selbst! Wenn es da zu einem – einem neunundzwanzigsten Februar kommen konnte, so ist das einzig und allein der weiblichen Bestechlichkeit durch die primäre Wahl des Mannes zuzuschreiben, – wozu ich bemerken möchte, daß ich mir renommistisch und geschmacklos vorkomme, indem ich mich einen ‚Mann‘ nenne, aber Clawdia ist jedenfalls eine Frau.“
„Sie folgte dem Gefühl“, murmelte Peeperkorn mit zerrissenen Lippen.
„Wie sie es in Ihrem Falle weit gehorsamer tat“, sagte Hans Castorp, „und wie sie es aller Wahrscheinlichkeit nach schon manches liebe Mal getan hat, – darüber muß jeder sich klar sein, der in die Lage kommt –“
„Halt!“ sprach Peeperkorn, immer noch abgewandt, aber mit einer Gebärde der flachen Hand gegen seinen Unterredner. „Sollte es nicht gemein sein, daß wir so über sie sprechen?“
„Doch nicht, Mynheer Peeperkorn. Nein, da glaube ich Sie völlig beruhigen zu können. Es ist ja von menschlichen Dingen die Rede, – das Wort „menschlich“ im Sinne der Freiheit und der Genialität genommen, – verzeihen Sie den möglicherweise etwas geschraubten Ausdruck, aber der Bedarfsfall brachte mich kürzlich dazu, ihn mir anzueignen.“
„Gut, fahren Sie fort!“ befahl Peeperkorn leise.
Auch Hans Castorp sprach leise, auf der Kante seines Stuhles am Bette sitzend, gegen den königlichen alten Mann geneigt, die Hände zwischen den Knien.
„Denn sie ist ja eine geniale Existenz,“ sagte er, „und der Mann hinter dem Kaukasus – Sie wissen doch wohl, daß sie einen Mann hinter dem Kaukasus hat – bewilligt ihr ihre Freiheit und Genialität, sei es aus Stumpfheit, sei es aus Intelligenz, ich kenne den Burschen nicht. Jedenfalls tut er wohl daran, sie ihr zu bewilligen, denn es ist die Krankheit, die sie ihr verleiht, das geniale Prinzip der Krankheit, dem sie untersteht, und jeder, der in die Lage kommt, wird gut tun, seinem Beispiel zu folgen und sich nicht zu beklagen, weder rückwärts noch vorwärts ...“
„Sie beklagen sich nicht?“ fragte Peeperkorn und wandte ihm das Antlitz zu ... Es schien fahl in der Dämmerung; die Augen blickten bleich und matt unter der idolhaften Stirnlineatur, der große, zerrissene Mund stand halb geöffnet wie bei einer tragischen Maske.
„Ich dachte nicht,“ antwortete Hans Castorp bescheiden, „daß es sich um mich handle. Meine Worte bezwecken, daß Sie sich nicht beklagen, Mynheer Peeperkorn, und mir nicht um früherer Vorkommnisse willen Ihr Wohlwollen entziehen. Darauf kommt es mir an in dieser Stunde.“
„Dessen ungeachtet“, sagte Peeperkorn, „muß es ein großer Schmerz gewesen sein, den ich Ihnen unwissentlich zugefügt habe.“
„Wenn das eine Frage ist“, versetzte Hans Castorp, „und wenn ich sie bejahe, so soll das vor allen Dingen nicht heißen, daß ich den enormen Vorzug Ihrer Bekanntschaft nicht zu schätzen wüßte, denn dieser Vorzug ist ja mit der Enttäuschung, von der Sie sprechen, untrennbar verbunden.“
„Ich danke, junger Mann, ich danke. Ich schätze die Artigkeit Ihres kleinen Wortes. Allein von unserer Bekanntschaft abgesehen –“
„Es ist schwer, davon abzusehen,“ sagte Hans Castorp, „und es empfiehlt sich für mich auch gar nicht, davon abzusehen, um Ihre Frage in aller Anspruchslosigkeit zu bejahen. Denn daß es eine Persönlichkeit Ihres Formates war, in deren Begleitung Clawdia zurückkehrte, konnte das Ungemach, das für mich darin lag, daß sie überhaupt in Begleitung eines anderen Mannes zurückkehrte, natürlich nur verstärken und verwickelter gestalten. Es hat mir bedeutend zu schaffen gemacht und tut es heute noch, das leugne ich nicht, und ich habe mich absichtlich nach Kräften an die positive Seite der Sache gehalten, das heißt: an meine aufrichtigen Verehrungsgefühle für Sie, Mynheer Peeperkorn, worin übrigens nebenbei eine kleine Bosheit gegen Ihre Reisebegleiterin lag; denn die Frauen sehen es gar nicht besonders gern, wenn ihre Liebhaber zusammenhalten.“
„In der Tat –“, sagte Peeperkorn und verbarg ein Lächeln, indem er mit der hohlen Hand über Mund und Kinn strich, als bestünde Gefahr, daß Frau Chauchat ihn lächeln sähe. Auch Hans Castorp lächelte diskret, und dann nickten sie beide im Einverständnis vor sich hin.
„Diese kleine Rache“, fuhr Hans Castorp fort, „war mir am Ende zu gönnen, denn so weit ich in Frage komme, habe ich wirklich einigen Grund, mich zu beklagen, – nicht über Clawdia und nicht über Sie, Mynheer Peeperkorn, aber mich allgemein zu beklagen, meines Lebens und Schicksals wegen, und da ich die Ehre Ihres Vertrauens genieße und dies eine so durch und durch eigentümliche Dämmerstunde ist, so will ich mich wenigstens andeutungsweise darüber zu äußern versuchen.“
„Ich bitte darum“, sagte Peeperkorn höflich, worauf Hans Castorp fortfuhr:
„Ich bin seit langer Zeit hier oben, Mynheer Peeperkorn, seit Jahren und Tagen, – genau weiß ich es nicht, wie lange, aber es sind Lebensjahre, darum sprach ich von ‚Leben‘, und auch auf das ‚Schicksal‘ werde ich im rechten Augenblick noch zurückkommen. Mein Vetter, den ich etwas zu besuchen dachte, ein Militär, der es redlich und brav im Sinne hatte, aber das half ihm nichts, ist mir hier weggestorben, und ich bin immer noch da. Ich war nicht Militär, ich hatte einen Zivilberuf, wie Sie vielleicht gehört haben, einen handfesten und vernünftigen Beruf, der angeblich sogar in völkerverbindender Richtung wirkt, aber ich war ihm nie sonderlich verbunden, das gebe ich zu, und zwar aus Gründen, von denen ich nur sagen will, daß sie im Dunklen liegen: Sie liegen da zusammen mit den Ursprüngen meiner Empfindungen für Ihre Reisebegleiterin – ich nenne sie ausdrücklich so, um zu bekunden, daß es mir nicht einfällt, an der positiven Rechtslage rütteln zu wollen – meiner Empfindungen für Clawdia Chauchat und meines Duzverhältnisses zu ihr, das ich nie verleugnet habe, seit ihre Augen mir zuerst begegneten und es mir antaten, – es mir in unvernünftigem Sinne antaten, verstehen Sie. Ihr zuliebe und Herrn Settembrini zum Trotz habe ich mich dem Prinzip der Unvernunft, dem genialen Prinzip der Krankheit unterstellt, dem ich freilich wohl von langer Hand und jeher schon unterstand, und bin hier oben geblieben, – ich weiß nicht mehr genau, wie lange, ich habe alles vergessen und mit allem gebrochen, mit meinen Verwandten und meinem flachländischen Beruf und allen meinen Aussichten. Und als Clawdia abreiste, habe ich auf sie gewartet, immer hier oben gewartet, so daß ich nun dem Flachland völlig abhanden gekommen und in seinen Augen so gut wie tot bin. Das hatte ich im Sinn, als ich von ‚Schicksal‘ sprach und mir anzudeuten erlaubte, daß es mir allenfalls zustände, mich über die gegenwärtige Rechtslage zu beklagen. Ich habe einmal eine Geschichte gelesen, – nein, ich habe sie im Theater gesehen, wie ein gutmütiger Junge – er war übrigens Militär, wie mein Vetter, – es mit einer reizenden Zigeunerin zu tun bekommt, – sie war reizend, mit einer Blume hinter dem Ohr, ein wildes, fatales Frauenzimmer, und sie tat es ihm dermaßen an, daß er vollständig entgleiste, ihr alles opferte, fahnenflüchtig wurde, mit ihr zu den Schmugglern ging und sich in jeder Richtung entehrte. Als er soweit war, hatte sie genug von ihm und kam mit einem Matador daher, einer zwingenden Persönlichkeit mit prachtvollem Bariton. Es endete damit, daß der kleine Soldat, kreideweiß im Gesicht und in offenem Hemd, sie vor dem Zirkus mit seinem Messer erstach, worauf sie es übrigens geradezu angelegt hatte. Es ist eine ziemlich beziehungslose Geschichte, auf die ich da komme. Aber schließlich, warum fällt sie mir ein?“
Mynheer Peeperkorn hatte bei Nennung des „Messers“ seine Sitzlage im Bette etwas verändert, war kurz beiseite gerückt, indem er rasch das Gesicht seinem Gaste zugewandt und ihm forschend ins Auge geblickt hatte. Jetzt richtete er sich besser auf, stützte sich auf den Ellbogen und sprach:
„Junger Mann, ich habe gehört, und ich bin nun im Bilde. Erlauben Sie mir auf Grund Ihrer Mitteilungen eine loyale Erklärung! Wäre mein Haar nicht bleich und wäre ich nicht mit malignem Fieber geschlagen, so sähen Sie mich bereit, Ihnen von Mann zu Mann, die Waffe in der Hand, Genugtuung zu geben für die Unbill, die ich Ihnen unwissentlich angetan, und zugleich für diejenige, die meine Reisebegleiterin Ihnen zugefügt, und für die ich ebenfalls aufzukommen habe. Perfekt, mein Herr, – Sie sähen mich bereit. Wie aber die Dinge liegen, so erlauben Sie mir, einen anderen Vorschlag dafür einzusetzen. Es ist der folgende. Ich erinnere mich eines gehobenen Augenblicks, gleich zu Anfang unserer Bekanntschaft, – ich erinnere mich daran, obgleich ich damals dem Weine stark zugesprochen hatte –, eines Augenblicks also, da ich, angenehm berührt von Ihrem Naturell, im Begriffe stand, Ihnen das brüderliche Du anzubieten, mich aber dann der Einsicht nicht entzog, daß es ein etwas übereilter Schritt gewesen wäre. Gut, ich beziehe mich heute auf diesen Augenblick, ich komme auf ihn zurück, ich erkläre den damals beschlossenen Aufschub für abgelaufen. Junger Mann, wir sind Brüder, ich erkläre uns dafür. Sie sprachen von einem Du vollen Sinnes, – auch das unsrige wird vollen Sinn haben, den Sinn der Brüderlichkeit im Gefühl. Die Genugtuung, die Ihnen mit der Waffe zu geben, Alter und Unpäßlichkeit mich hindern, ich biete sie Ihnen in dieser Form, ich biete sie Ihnen in Form eines Bruderbundes, wie man ihn sonst wohl gegen Dritte, gegen die Welt, gegen jemanden schließt, und den wir im Gefühl für jemanden schließen wollen. Nehmen Sie Ihr Weinglas, junger Mann, während ich wieder zu meinem Wasserglas greife, durch das diesem Sauserchen weiter kein Unrecht geschieht –“
Und mit leicht zitternder Kapitänshand füllte er die Gläser, wobei Hans Castorp ihm in ehrerbietiger Bestürzung behilflich war.
„Nehmen Sie!“ wiederholte Peeperkorn. „Kreuzen Sie den Arm mit mir! Und trinken Sie auf diese Weise! Trinken Sie aus! – Perfekt, junger Mann. Erledigt. Hier meine Hand. Bist du zufrieden?“
„Das ist natürlich gar kein Ausdruck, Mynheer Peeperkorn“, sagte Hans Castorp, dem es etwas schwer gefallen war, das volle Glas in einem Zuge auszutrinken, und trocknete seine Knie mit dem Taschentuch, da Wein darauf hinabgeflossen war. „Ich bin hoch beglückt, will ich lieber sagen, und kann es noch gar nicht fassen, wie mir das so auf einmal zuteil geworden, – es ist mir, offen gestanden, wie im Traum. Das ist eine gewaltige Ehre für mich, – ich weiß nicht, wie ich sie verdient haben soll, höchstens auf passive Weise, auf andere gewiß nicht, und man darf sich nicht wundern, wenn es mich anfangs abenteuerlich anmutet, die neue Anrede über die Lippen zu bringen, wenn ich darüber stolpere, – zumal in Clawdias Gegenwart, die vielleicht nach Frauenart nicht ganz einverstanden sein wird mit diesem Arrangement ...“
„Laß das meine Sache sein“, erwiderte Peeperkorn, „und das andere Sache der Übung und Gewohnheit! Und nun geh, junger Mann! Verlasse mich, mein Sohn! Es ist dunkel, der Abend ist völlig hereingebrochen, unsere Geliebte kann jeden Augenblick zurückkehren, und eine Begegnung zwischen euch wäre eben jetzt vielleicht nicht das Schicklichste.“
„Lebe wohl, Mynheer Peeperkorn!“ sagte Hans Castorp und stand auf. „Sie sehen, ich überwinde meine berechtigte Scheu und übe mich schon in der tollkühnen Anrede. Richtig, es ist ja finster geworden! Ich könnte mir vorstellen, daß plötzlich Herr Settembrini hereinkäme und das Licht andrehte, damit Vernunft und Gesellschaftlichkeit Platz griffen, – er hat nun einmal die Schwäche. Auf morgen! Ich gehe dermaßen vergnügt und stolz von hier fort, wie ich es mir nicht im entferntesten hätte träumen lassen. Recht gute Besserung! Es kommen nun mindestens drei fieberfreie Tage für dich, an denen Sie allen Anforderungen gewachsen sein werden. Das freut mich, als ob ich Du wäre. Gute Nacht!“