Mynheer Peeperkorn (Schluß)

Ein Wasserfall ist immer ein anziehendes Ausflugsziel, und kaum wissen wir es zu rechtfertigen, daß Hans Castorp, der für fallendes Wasser sogar eine besondere Herzensneigung hegte, die malerische Kaskade im Walde des Flüelatals noch niemals besucht hatte. Für die Zeit seines Zusammenlebens mit Joachim mochte er entschuldigt sein durch die strenge Dienstlichkeit seines Vetters, der nicht zum Vergnügen hier gewesen war, und dessen sachlich-zweckhafter Sinn ihren Gesichtskreis auf die nächste Umgebung von Haus „Berghof“ eingeschränkt hatte. Und nach seinem Ausscheiden – nun, auch danach hatte Hans Castorps Verhältnis zur hiesigen Landschaft, wenn man von seinen Skiunternehmungen absehen will, den Charakter einer konservativen Einförmigkeit bewahrt, deren Kontrast zu der Spannweite seiner inneren Erfahrungen und „Regierungs“-obliegenheiten sogar nicht ohne einen gewissen bewußten Reiz für den jungen Mann gewesen war. Immerhin war seine Zustimmung lebhaft, als in seiner engeren Umgebung, diesem kleinen Freundeskreise von sieben Personen (ihn selber eingerechnet), der Plan einer Wagenfahrt nach jener empfohlenen Örtlichkeit erwogen wurde.

Es war Mai geworden, der Wonnemond einfältigen kleinen Liedern des Flachlandes zufolge, – recht frisch und wenig einschmeichelnd von Luftbeschaffenheit hier oben, aber die Schneeschmelze konnte für abgeschlossen gelten. Zwar hatte es in den letzten Tagen mehrfach großflockig geschneit, doch das blieb nicht liegen, es ließ nur etwas Nässe zurück; die lagernden Massen des Winters waren versickert, verraucht, bis auf vereinzelte Reste dahingeschwunden; die grüne Gangbarkeit der Welt bedeutete ein Anerbieten an jede Unternehmungslust.

Ohnehin hatte der gesellige Verkehr der Gruppe während der letzten Wochen gelitten unter dem Übelbefinden ihres Oberhauptes, des großartigen Pieter Peeperkorn, dessen maligne Tropenmitgift weder den Einwirkungen des außerordentlichen Klimas, noch den Antidoten eines so hervorragenden Mediziners, wie des Hofrat Behrens, hatte weichen wollen. Er war viel bettlägerig gewesen, nicht nur an Tagen, da das Quartanfieber in seine schlimmen Rechte trat. Milz und Leber machten ihm zu schaffen, wie der Hofrat die dem Patienten Nahestehenden abseits bedeutete; auch sein Magen sollte sich nicht in klassischer Verfassung befinden, und Behrens unterließ nicht, auf die auch bei einer so mächtigen Natur unter diesen Umständen nicht ganz von der Hand zu weisende Gefahr chronischer Entkräftung hinzudeuten.

Einem abendlichen Essen und Trinken nur hatte Mynheer in diesen Wochen vorgesessen, und auch die gemeinsamen Spaziergänge waren bis auf einen nicht sehr ausgedehnten unterblieben. Übrigens empfand Hans Castorp, unter uns gesagt, diese Lockerung der Cliquengemeinschaft in gewisser Hinsicht als Erleichterung, denn das mit Frau Chauchats Reisebegleiter getrunkene Schmollis schuf ihm Beschwerden; es brachte in seine öffentliche Konversation mit Peeperkorn dieselbe „Gezwungenheit“, dasselbe „Ausweichen“ und gleichsam auf einer Vielliebchenwette beruhende „Vermeiden“, das diesem an seinem Verkehr mit Clawdia aufgefallen war: mit wunderlichen Behelfen umschrieb er die Anredeform, soweit sie sich nicht verschlucken ließ, – aus demselben oder dem umgekehrten Dilemma, das sein Gespräch mit Clawdia in Gegenwart anderer, auch in alleiniger Gegenwart ihres Meisters, beherrschte, und das sich dank der von diesem empfangenen Genugtuung zur formalen Doppelklemme vervollständigt hatte.

Nun war denn also der Plan eines Ausflugs zum Wasserfall an der Tagesordnung, – Peeperkorn selbst hatte das Ziel bestimmt, und er fühlte sich rüstig zu dem Unternehmen. Es war der dritte Tag nach einem Quartananfall; Mynheer ließ wissen, daß er ihn zu nutzen wünsche. Zwar war er zu den ersten Mahlzeiten des Tages nicht im Speisesaal erschienen, sondern hatte sie, wie in letzter Zeit sehr häufig, zusammen mit Madame Chauchat in seinem Salon eingenommen; aber schon beim ersten Frühstück hatte Hans Castorp durch den hinkenden Concierge Order empfangen, sich eine Stunde nach dem Mittagessen zu einer Spazierfahrt bereitzuhalten, ferner, diesen Befehl an die Herren Ferge und Wehsal weiterzugeben, auch Settembrini und Naphta zu benachrichtigen, daß man bei ihnen vorfahren werde, und endlich für die Bestellung zweier Landauer auf drei Uhr Sorge zu tragen.

Um diese Stunde traf man sich vor dem Portal von Haus „Berghof“: Hans Castorp, Ferge und Wehsal erwarteten dort die Herrschaften aus den Fürstenzimmern, indem sie sich damit unterhielten, die Pferde zu tätscheln, die ihnen mit schwarzen, feuchten, plumpen Lippen Zuckerstücke von der flachen Hand nahmen. Die Reisegenossen erschienen mit nur leichter Verspätung auf der Freitreppe. Peeperkorn, dessen Königshaupt schmäler geworden schien, lüftete, dort oben in langem, etwas abgetragenem Ulster an der Seite Clawdias stehend, seinen weichen, runden Hut, und seine Lippen bildeten unhörbar ein allgemeines Begrüßungswort. Dann wechselte er einen Händedruck mit jedem der drei Herren, die dem Paar bis zum Fuße der Stufen entgegenkamen.

„Junger Mann,“ sagte er dabei zu Hans Castorp, indem er ihm die linke Hand auf die Schulter legte, „... wie geht es, mein Sohn?“

„Verbindlichsten Dank! Und andererseits?“ erwiderte der Gefragte ...

Die Sonne schien, es war ein schöner, blanker Tag, aber man hatte doch gut getan, Übergangspaletots anzulegen: im Fahren würde man es zweifellos kühl haben. Auch Madame Chauchat trug einen warmen Gurtmantel aus faserigem, groß kariertem Stoff und sogar ein wenig Pelz um die Schultern. Den Rand ihres Filzhutes hatte sie mit einem unter dem Kinn gebundenen olivenfarbenen Schleier seitlich niedergebogen, was ihr so reizend stand, daß es die Mehrzahl der Anwesenden geradezu schmerzte, – nur Ferge nicht, den einzigen, der nicht verliebt in sie war; und diese seine Unbefangenheit hatte zur Folge, daß ihm bei der vorläufigen Verteilung der Plätze, bis die Externen zur Gesellschaft stoßen würden, der Rücksitz gegenüber Mynheer und Madame im ersten Landauer zufiel, während Hans Castorp, nicht ohne ein spöttisches Lächeln Clawdias aufgefangen zu haben, mit Ferdinand Wehsal das zweite Gefährt bestieg. Die schmächtige Person des malaiischen Kammerdieners nahm teil an dem Ausflug. Mit einem geräumigen Korbe, unter dessen Deckel die Hälse zweier Weinflaschen hervorragten, und den er unter dem Rücksitz des vorderen Landauers verwahrte, war er hinter seiner Herrschaft erschienen, und in dem Augenblick, als er zur Seite des Kutschers die Arme gekreuzt hatte, erhielten die Pferde ihr Zeichen, und mit angezogenen Bremsen setzten die Wagen sich die Wegschleife hinab in Bewegung.

Auch Wehsal hatte Frau Chauchats Lächeln bemerkt, und die verdorbenen Zähne zeigend, äußerte er sich darüber gegen seinen Fahrtgenossen.

„Haben Sie gesehen,“ fragte er, „wie sie sich über Sie lustig machte, weil Sie allein mit mir fahren müssen? Ja, ja, wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Ärgert und ekelt es Sie sehr, so neben mir zu sitzen?“

„Nehmen Sie sich zusammen, Wehsal, und reden Sie nicht so niederträchtig!“ verwies ihn Hans Castorp. „Frauen lächeln bei jeder Gelegenheit, nur um des Lächelns willen; es ist nutzlos, sich jedesmal Gedanken darüber zu machen. Was krümmen Sie sich immer so? Sie haben, wie wir alle, Ihre Vorzüge und Nachteile. Zum Beispiel spielen Sie sehr hübsch aus dem ‚Sommernachtstraum‘, das kann nicht jeder. Sie sollten es nächstens mal wieder tun.“

„Ja, da reden Sie mir nun so von oben herab zu“, erwiderte der elende Mensch, „und wissen gar nicht, wieviel Unverschämtheit in Ihrem Trost liegt, und daß Sie mich dadurch nur noch tiefer erniedrigen. Sie haben gut reden und trösten vom hohen Roß herunter, denn wenn Sie derzeit auch ziemlich lächerlich dastehen, so sind Sie doch einmal daran gewesen und waren im siebenten Himmel, allmächtiger Gott, und haben ihre Arme um Ihren Nacken gefühlt und all das, allmächtiger Gott, es brennt mir im Schlunde und in der Herzgrube, wenn ich dran denke, – und sehen im Vollbewußtsein dessen, was Ihnen zuteil geworden, auf meine bettelhaften Qualen hinab ...“

„Schön ist es nicht, wie Sie sich ausdrücken, Wehsal. Es ist sogar hochgradig abstoßend, das brauche ich Ihnen nicht zu verhehlen, da Sie mir Unverschämtheit vorwerfen, und abstoßend soll es auch wohl sein, Sie legen es geradezu darauf an, sich widrig zu machen und krümmen sich unausgesetzt. Sind Sie denn wirklich so ungeheuer verliebt in sie?“

„Fürchterlich!“ antwortete Wehsal kopfschüttelnd. „Das ist nicht zu sagen, was ich auszustehen habe von meinem Durst und meiner Begierde nach ihr, ich wollte, ich könnte sagen, es wird mein Tod sein, aber man kann damit weder leben noch sterben. Während sie weg war, fing es an, etwas besser zu gehen, sie kam mir allmählich aus dem Sinn. Aber seitdem sie wieder da ist und ich sie täglich vor Augen habe, ist es zuweilen derart, daß ich mich in den Arm beiße und in die Luft greife und mir nicht zu helfen weiß. So etwas sollte es gar nicht geben, aber man kann es nicht wegwünschen, – wen es hat, der kann es nicht wegwünschen, man müßte sein Leben wegwünschen, womit es sich amalgamiert hat, und das kann man eben nicht, – was hätte man davon, zu sterben? Nachher, – mit Vergnügen. In ihren Armen, – herzlich gern. Aber vorher, das ist Unsinn, denn das Leben, das ist das Verlangen, und das Verlangen das Leben, und kann nicht gegen sich selber sein, das ist die gottverfluchte Zwickmühle. Und wenn ich sage ‚gottverflucht‘, so sage ich es auch nur redensartlich und so, als ob ich ein anderer wäre, ich selber kann es nicht meinen. Es gibt so manche Torturen, Castorp, und wer auf einer Tortur ist, der will davon los, will einfach und unbedingt davon los, das ist sein Ziel. Aber von der Tortur der Fleischesbegierde kann man einzig und allein loswollen auf dem Wege und unter der Bedingung, daß sie gestillt wird, – sonst nicht, sonst um keinen Preis! Das ist die Einrichtung, und wen es nicht hat, der hält sich nicht weiter dabei auf, aber wen es hat, der lernt unsern Herrn Jesum Christum kennen, dem gehen die Augen über. Gott im Himmel, was für eine Einrichtung und Angelegenheit ist es doch, daß das Fleisch so nach dem Fleische begehrt, nur, weil es nicht das eigene ist, sondern einer fremden Seele gehört, – wie sonderbar und, recht besehen, wie anspruchslos auch wieder in seiner verschämten Freundlichkeit! Man könnte sagen: Wenn es weiter nichts will, in Gottes Namen, es sei ihm gewährt! Was will ich denn, Castorp? Will ich sie morden? Will ich ihr Blut vergießen? Ich will sie ja nur liebkosen! Castorp, lieber Castorp, entschuldigen Sie, daß ich winsele, aber sie könnte mir in Gottes Namen zu Willen sein! Es ist doch auch was Höheres dabei, Castorp, ich bin doch kein Vieh, in meiner Art bin ich doch auch ein Mensch! Die Fleischesbegierde gehet dahin und dorthin, sie ist nicht gebunden und nicht fixiert, und darum so heißen wir sie viehisch. So sie aber fixiert ist auf eine Menschenperson mit einem Angesicht, alsdann so redet unser Mund von der Liebe. Mich verlangt doch nicht bloß nach ihrem Körperrumpf und nach der Fleischpuppe ihres Leibes, sondern wenn in ihrem Angesicht auch nur ein kleines Etwas anders gestaltet wäre, siehe, so verlangte mich’s möglicherweise nach ihrem ganzen Leibe gar nicht, und daher so zeiget sich’s, daß ich ihre Seele liebe, und daß ich sie mit der Seele liebe. Denn die Liebe zum Angesicht ist Seelenliebe ...“

„Wie ist Ihnen denn, Wehsal? Sie sind ja ganz außer sich und schlagen hier Gott weiß was für Töne an ...“

„Aber das ist es ja eben, das ist ja auch eben wieder das Unglück,“ fuhr der Arme fort, „daß sie eine Seele hat, daß sie ein Mensch ist aus Leib und Seele! Denn ihre Seele will nichts von der meinen wissen und also ihr Leib nichts von meinem, o Jammer und große Not, und um dessentwillen ist mein Verlangen zur Schande verdammt, und mein Leib muß sich winden ewiglich! Warum will sie mit Leib und Seele nichts wissen von mir, Castorp, und warum ist mein Verlangen ihr ein Greuel?! Bin ich denn kein Mann? Ist ein widerwärtiger Mann kein Mann? Ich bin es sogar im höchsten Grade, ich schwöre Ihnen, ich würde alles Dagewesene überbieten, wenn sie mir das Wonnereich ihrer Arme eröffnete, die so schön sind, weil sie zu ihrem Seelenangesicht gehören! Ich würde ihr alle Wollust der Welt antun, Castorp, wenn es sich nur um die Leiber handelte und nicht auch um die Angesichte, wenn ihre verfluchte Seele nicht wäre, die nichts von mir wissen will, und ohne die mich aber auch wieder nach ihrem Leibe gar nicht verlangen täte, – das ist des Teufels beschissene Zwickmühle, in der ich mich winde ewiglich!“

„Wehsal, pst! leise doch! Der Kutscher versteht Sie ja! Er bewegt zwar absichtlich den Kopf nicht, aber ich sehe es doch seinem Rücken an, daß er zuhört.“

„Er versteht und hört zu, da haben Sie’s, Castorp! Da haben Sie wieder die Einrichtung und Angelegenheit in ihrer Eigenart und ihrem Charakter! Wenn ich von Palingenesie spräche oder von ... Hydrostatik, so würde er’s nicht verstehen und hätte nicht eine Ahnung und hörte nicht zu und interessierte sich gar nicht. Denn das ist nicht populär. Aber die höchste und letzte und schauerlich heimlichste Angelegenheit, die Angelegenheit vom Fleische und von der Seele, siehe, die ist zugleich die populärste Angelegenheit, und jeder versteht sie und kann sich lustig machen über den, den es hat, und dem es den Tag zur Lustfolter macht und die Nacht zur Schandhölle! Castorp, lieber Castorp, lassen Sie mich etwas winseln, denn was habe ich für Nächte! Jede Nacht träume ich von ihr, ach, was träume ich nicht alles von ihr, es brennt mir im Schlunde und in der Magengegend, wenn ich dran denke! Und immer endet es damit, daß sie mir Ohrfeigen gibt, mich ins Gesicht schlägt und manchmal auch anspeit, – mit vor Ekel verzerrtem Seelenangesicht speit sie mich an, und dann wache ich auf, mit Schweiß und Schmach und Lust bedeckt ...“

„So, Wehsal, nun wollen wir mal still sein und uns vornehmen, den Mund zu halten, bis wir zum Gewürzkrämer kommen und jemand sich zu uns setzt. Das ist mein Vorschlag und meine Anordnung. Ich will Sie nicht kränken und gebe zu, daß Sie in großen Schwulitäten sind, aber wir hatten zu Haus eine Geschichte von einer Person, die damit bestraft wurde, daß ihr beim Sprechen Schlangen und Kröten aus dem Munde kamen, mit jedem Wort eine Schlange oder Kröte. Es stand nicht im Buch, wie sie sich dem gegenüber verhielt, aber ich habe immer angenommen, daß sie sich wohl aufs Mundhalten verlegt haben wird.“

„Es ist aber ein Menschenbedürfnis,“ sagte Wehsal kläglich, „ein Menschenbedürfnis, lieber Castorp, zu reden und sich das Herz zu erleichtern, wenn man in solchen Schwulitäten sitzt wie ich.“

„Es ist sogar ein Menschenrecht, Wehsal, wenn Sie wollen. Aber es gibt Rechte, meiner Meinung nach, von denen man unter Umständen vernünftigerweise keinen Gebrauch macht.“

Also waren sie still nach Hans Castorps Anordnung, und übrigens hatten die Wagen das weinlaubbewachsene Häuschen des Gewürzkrämers rasch erreicht, wo man denn nicht einen Augenblick zu warten hatte: Naphta und Settembrini waren schon auf der Straße, dieser in seiner schadhaften Pelzjacke, jener dagegen in einem weißlichgelben Frühjahrsüberzieher, der überall gesteppt war und geckenhaft anmutete. Man winkte, man tauschte Grüße, während die Wagen wendeten, und die Herren stiegen ein: Naphta nahm als vierter im vorderen Landauer an Ferges Seite Platz, und Settembrini, in glänzender Laune, von klaren Scherzen sprudelnd, gesellte sich zu Hans Castorp und Wehsal, wobei dieser ihm seinen Sitz im Fond des Wagens überließ, – welchen Herr Settembrini denn in der Haltung des Korsofahrers, mit erlesener Lässigkeit, einzunehmen wußte.

Er pries den Genuß des Fahrens, dies Bewegtwerden des Körpers in behaglichem Ruhestande und bei wechselnder Szenerie; zeigte sich väterlich-verbindlich gegen Hans Castorp und tätschelte sogar dem armen Wehsal die Wange, indem er ihn aufforderte, des eigenen unsympathischen Ich in der Bewunderung der lichten Welt zu vergessen, auf die er mit seiner Rechten im schäbigen Lederhandschuh ausholend deutete.

Sie hatten beste Fahrt. Die Pferde, muntere Blessen alle vier, gedrungen, glatt und satt, schlugen in festem Takt die gute Straße, die noch nicht staubte. Felsentrümmer, in deren Fugen Gras und Blumen sprossen, traten zuweilen an ihren Rand, Telegraphenstangen flohen zurück, Bergwälder stiegen auf, anmutige Kurven, die man anstrebte und zurücklegte, unterhielten die Wegesneugier, und immer dämmerte teilweis noch verschneites Gebirge in sonniger Fernsicht. Das gewohnte Talgebiet war verlassen, die Verrückung der alltäglichen Szene erfrischte das Gemüt. Bald hielt man am Waldesrand: Von hier aus wollte man zu Fuß den Ausflug fortsetzen und das Ziel gewinnen, – ein Ziel, mit dem man schon des längeren, ohne es anfangs gewahr geworden zu sein, in schwachem, aber sich stetig verstärkendem sinnlichen Kontakte stand. Ein fernes Geräusch wurde allen bewußt, sobald die Fahrt eingestellt war, ein leises, zuweilen der Wahrnehmung noch wieder entkommendes Zischen, Schüttern und Brausen, das zu unterscheiden man einander aufforderte, und auf das man gefesselten Fußes horchte.

„Jetzt“, sagte Settembrini, der öfters hier gewesen war, „läßt es sich schüchtern an. Aber an Ort und Stelle ist es brutal um diese Jahreszeit, – machen Sie sich gefaßt, wir werden unser eigen Wort nicht verstehen.“

So gingen sie denn waldeinwärts, auf einem Wege mit feuchter Nadelstreu, voran Pieter Peeperkorn, auf den Arm seiner Begleiterin gestützt, den schwarzen weichen Hut in der Stirn, mit seitwärts nickendem Tritt; mitten hinter ihnen Hans Castorp, ohne Hut, wie alle übrigen Herren, die Hände in den Taschen, mit schrägem Kopfe und leisem Pfeifen um sich blickend; dann Naphta und Settembrini, dann Ferge mit Wehsal, zum Schluß der Malaie allein, den Vesperkorb am Arm. Sie sprachen über den Wald.

Der Wald war nicht wie andere, er bot einen malerisch eigentümlichen, ja exotischen, doch unheimlichen Anblick. Er strotzte von einer Sorte moosiger Flechten, war damit behangen, beladen, ganz und gar darin eingewickelt, in langen, mißfarbenen Bärten baumelte das verfilzte Gewirk der Schmarotzerpflanze von seinen umsponnenen, gepolsterten Zweigen: man sah fast keine Nadeln, man sah lauter Moosgehänge, – eine schwere, bizarre Entstellung, ein verzauberter und krankhafter Anblick. Dem Walde ging es nicht gut, er krankte an dieser geilen Flechte, sie drohte ihn zu ersticken, das war die allgemeine Meinung, während der kleine Zug auf dem Nadelwege vorwärts schritt, im Ohr das Geräusch des Zieles, dem man sich näherte, dies Rumpeln und Zischen, das allmählich zum Getöse wurde und Settembrinis Vorhersage wahr zu machen versprach.

Eine Wegbiegung gab den Blick auf die überbrückte Wald- und Felsenschlucht frei, in der der Wasserfall niederging; und indem man seiner ansichtig wurde, kam auch die Gehörswirkung auf ihren Gipfel, – es war ein Höllenspektakel. Die Wassermassen stürzten senkrecht nur in einer einzigen Kaskade, deren Höhe aber wohl sieben oder acht Meter betrug, und deren Breite ebenfalls beträchtlich war, und schossen dann weiß über Felsen weiter. Sie stürzten mit unsinnigem Lärm, in welchem sich alle möglichen Geräuscharten und Lauthöhen zu mischen schienen, Donnern und Zischen, Gebrüll, Gejohle, Tusch, Krach, Geprassel, Gedröhn und Glockengeläut, – wahrhaftig wollten einem die Sinne davon vergehen. Die Besucher waren dicht herangetreten auf schlüpfrigem Felsengrunde und betrachteten, feucht angeatmet und angesprüht, in Wasserdunst eingehüllt, die Ohren überfüllt und dicht verpolstert vom Lärm, dazu Blicke tauschend und mit verschüchtertem Lächeln die Köpfe schüttelnd, das Schauspiel, diese Dauerkatastrophe aus Schaum und Geschmetter, deren irres und übermäßiges Brausen sie betäubte, ihnen Furcht erregte und Gehörstäuschungen verursachte. Man glaubte hinter sich, über sich, von allen Seiten drohende und warnende Rufe zu hören, Posaunen und rohe Männerstimmen.

Geschart hinter Mynheer Peeperkorn – Frau Chauchat unter den andern fünf Herren – blickten sie mit ihm in den Schwall. Sie sahen nicht sein Gesicht, sahen ihn aber das weiße Flammenhaupt entblößen und die Brust in der Frische dehnen. Sie verständigten sich untereinander durch Blicke und Zeichen, denn wahrscheinlich wären Worte, selbst unmittelbar ins Ohr geschrien, vom Donner des Sturzes übertäubt worden. Ihre Lippen formten Worte des Erstaunens und der Bewunderung, die lautlos blieben. Hans Castorp, Settembrini und Ferge verabredeten sich durch Kopfwinke, die Höhe der Schlucht zu ersteigen, in deren Grunde sie sich befanden, den oberen Steg zu gewinnen und die Wasser von dort zu betrachten. Es war nicht unbequem: Eine steile Zeile von schmalen, ins Gestein gehauenen Stufen führte gleichsam in ein höheres Stockwerk des Waldes empor; sie erkletterten sie hintereinander, betraten die Brücke und winkten von ihrer Mitte aus, über der Rundung des Falles schwebend, auf das Geländer gelehnt, den unteren Freunden. Dann gingen sie vollends hinüber, stiegen mühselig ab an der anderen Seite und kamen jenseits des Wildwassers, über das auch hier unten eine Brücke ging, den Zurückgebliebenen wieder zu Gesichte.

Die Zeichengebung betraf nun die Einnahme der Vespererfrischungen. Sie ging von mehreren Seiten dahin, man solle sich zu diesem Behuf aus der Lärmzone ein wenig verziehen, um mit entlastetem Gehör und nicht taub und stumm die Freimahlzeit zu genießen. Aber man mußte erkennen, daß Peeperkorns Willensmeinung dagegen stand. Er schüttelte das Haupt, stieß wiederholt den Zeigefinger gegen den Grund, und seine zerrissenen Lippen, mit Anstrengung sich auseinanderziehend, bildeten ein „Hier!“ Was war da zu tun? In solchen Regiefragen war er Herr und Befehlshaber. Die Wucht seiner Persönlichkeit hätte den Ausschlag gegeben, selbst wenn er nicht, wie immer, Veranstalter und Meister des Unternehmens gewesen wäre. Dieses Format ist tyrannisch und autokratisch von je und wird es bleiben. Mynheer wollte angesichts des Falles, im Donner vespern, das war sein großmächtiger Eigensinn, und wer nicht leer ausgehen wollte, mußte hier bleiben. Die Mehrzahl war unzufrieden. Herr Settembrini, der die Möglichkeit menschlichen Austausches, eines demokratisch-distinkten Geplauders oder auch Disputes abgeschnitten sah, warf mit jener Gebärde der Verzweiflung und der Resignation die Hand über den Kopf. Der Malaie beeilte sich, die Anordnung seines Gebieters zu vollziehen. Es waren zwei Klappsessel da, die er für Mynheer und Madame an der Felsenwand aufschlug. Dann breitete er zu ihren Füßen auf einem Tuche den Inhalt des Korbes aus: Kaffeegeschirr und Gläser, Thermosflaschen, Gebäck und Wein. Man drängte sich zur Verteilung. Dann saß man auf Geröllsteinen, auf dem Geländer des Steges, die Tasse mit heißem Kaffee in Händen, den Teller mit Kuchen auf den Knien, und vesperte schweigend im Getöse.

Peeperkorn, mit hochgeschlagenem Mantelkragen, den Hut neben sich am Boden, trank Portwein aus einem silbernen Becher mit Monogramm, den er mehrmals leerte. Und plötzlich begann er zu sprechen. Der wunderliche Mann! Es war unmöglich, daß er seine eigene Stimme hörte, geschweige daß die anderen eine Silbe hätten verstehen können von dem, was er verlauten ließ, ohne daß es verlautete. Er aber erhob den Zeigefinger, streckte, den Becher in der Rechten, den linken Arm aus, die flache Hand schräg erhoben, und man sah, wie sein Königsantlitz sich redend bewegte, sein Mund Worte formte, die tonlos blieben, als würden sie in luftleerem Raum gesprochen. Niemand dachte anders, als daß er sein nutzloses Tun, das man mit betretenem Lächeln betrachtete, sogleich wieder einstellen werde, – er aber fuhr fort, sich unter bannenden, Aufmerksamkeit erzwingenden Kulturgebärden seiner Linken in das alles verschlingende Getöse hinein zu äußern, indem er die kleinen, müden und blassen, gewaltsam aufgerissenen Augen unter gespannten Stirnfalten abwechselnd auf einen und den anderen seiner Zuschauer richtete, so daß der eben Angeredete gezwungen war, mit hochgezogenen Brauen ihm zuzunicken und offenen Mundes die hohle Hand an die Ohrmuschel zu legen, als ob das die Heillosigkeit der Sache irgend hätte bessern können. Jetzt stand er sogar auf! Den Becher in der Hand, in seinem zerdrückten, fast fußlangen Reisemantel, dessen Kragen aufgestellt war, barhäuptig, die hohe, idolhaft gefaltete Stirn vom weißen Haar umflammt, stand er am Felsen und regte das Antlitz, vor das er dozierend den lanzenüberragten Ring seiner Finger hielt, die Undeutlichkeit seines tauben Toastes mit dem bannenden Zeichen der Genauigkeit versehend. Man erkannte an seinen Gebärden und las von seinen Lippen einzelne Wörter, die man von ihm zu hören gewohnt war: „Perfekt“ und „Erledigt“, – nichts weiter. Man sah sein Haupt sich schräge neigen, zerrissene Bitternis der Lippen, das Bild des Schmerzensmannes. Dann wieder sah man das üppige Grübchen erblühen, sybaritische Schalkheit, ein tanzendes Gewänderraffen, die heilige Unsittsamkeit des Heidenpriesters. Er hob den Becher, führte ihn im Halbkreis vor den Augen der Gäste hin und trank ihn in zwei, drei Schlucken so bis zum letzten aus, daß der Boden ganz nach oben stand. Dann reichte er ihn mit ausgestrecktem Arme dem Malaien, der das Gefäß, Hand auf der Brust, entgegennahm, und gab das Zeichen zum Aufbruch.

Alle verbeugten sich dankend gegen ihn, indem sie sich anschickten, nach Geheiß zu tun. Wer am Boden kauerte, sprang auf die Füße, wer auf dem Steggeländer saß, ließ sich herab. Der schmächtige Javaner in steifem Hut und Pelzkragen raffte die Reste des Mahls und das Geschirr zusammen. In derselben schmalen Ordnung, wie man gekommen, kehrte man auf dem feuchten Nadelwege, durch den von Flechtenbehang unkenntlich gemachten Wald zur Straße zurück, auf der die Wagen hielten.

Hans Castorp stieg diesmal zum Meister und seiner Begleiterin. An der Seite des guten Ferge, dem alles Höhere völlig ferne lag, saß er dem Paare gegenüber. Es wurde fast nichts gesprochen auf dieser Heimfahrt. Mynheer saß, die flachen Hände auf dem Plaid, das seine Knie zusammen mit denen Clawdias umhüllte, und ließ den Unterkiefer hängen. Settembrini und Naphta stiegen aus und verabschiedeten sich, bevor die Wagen Geleise und Wasserlauf überschritten. Wehsal fuhr allein in der zweiten Kutsche die Wegschleife hinan und vor das Berghofportal, wo man sich trennte. –

War in dieser Nacht Hans Castorps Schlaf durch irgendwelche innere Bereitschaft, von der seine Seele nichts wußte, leicht und flüchtig gehalten worden, so daß die leiseste Abweichung vom gewohnten nächtlichen Frieden des Berghofhauses, eine noch so gedämpfte Unruhe, die kaum merkliche Erschütterung durch ein fernes Laufen, genügte, um ihn hell und wach zu machen und ihn sich in den Kissen aufsetzen zu lassen? Tatsächlich erwachte er längere Zeit bevor es an seine Tür klopfte, was kurz nach zwei Uhr geschah. Er antwortete sofort, unverschlafen, geistesgegenwärtig und energisch. Es war die hohe und ungefestigte Stimme einer im Hause beschäftigten Pflegeschwester, die ihn in Frau Chauchats Auftrag ersuchte, sich sogleich im ersten Stockwerk einzufinden. Mit verstärkter Energie erklärte er seinen Gehorsam, sprang auf, fuhr in die Kleider, strich mit den Fingern das Haar aus der Stirn und ging nicht schnell und nicht langsam hinab, in Ungewißheit mehr über das Wie, als über das Was der Stunde.

Er fand die Tür zum Peeperkornschen Salon offen stehen und ebenso diejenige zum Schlafzimmer des Holländers, wo alle Lichter brannten. Die beiden Ärzte, die Oberin von Mylendonk, Madame Chauchat und der javanische Kammerdiener waren dort anwesend. Dieser, nicht wie sonst gekleidet, sondern in einer Art von Nationaltracht, einer breitgestreiften hemdartigen Jacke mit sehr langen und weiten Ärmeln, einem bunten Rock statt der Hosen und einer kegelförmigen Mütze aus gelbem Tuch auf dem Kopf, angetan ferner mit einem Brustschmuck von Amuletten, stand unbeweglich, die Arme gekreuzt, links zu Häupten des Bettes, in dem Pieter Peeperkorn mit ausgestreckten Händen auf dem Rücken lag. Der Eintretende überblickte bleich die Szene. Frau Chauchat wandte ihm den Rücken zu. Sie saß auf einem niederen Fauteuil am Fußende des Bettes, den Ellbogen auf die Steppdecke gestützt, das Kinn in der Hand, die Finger in die Unterlippe vergraben, und blickte in das Gesicht ihres Reisebegleiters.

„N’Abend, mein Junge“, sagte Behrens, der mit Doktor Krokowski und der Oberin in leisem Gespräch gestanden hatte, und nickte wehmütig, das weiße Schnurrbärtchen geschürzt. Er war im klinischen Kittel, aus dessen Brusttasche das Hörrohr ragte, trug gestickte Morgenschuhe und keinen Kragen. „Nichts zu machen“, setzte er flüsternd hinzu. „Ganze Arbeit. Treten Sie nur ran. Werfen Sie ein Kennerauge auf ihn. Sie werden zugeben, daß der ärztlichen Kunst da gründlich vorgebaut worden ist.“

Hans Castorp näherte sich auf Zehenspitzen dem Bett. Die Augen des Malaien überwachten ihn bei dieser Bewegung, folgten ihm ohne Drehung des Kopfes, so daß sie ihr Weißes zeigten. Er stellte mit einem Seitenblick fest, daß Frau Chauchat sich nicht um ihn kümmerte, und stand in typischer Haltung am Lager, auf einem Beine ruhend, die Hände auf dem Unterleibe zusammengelegt, mit schräg geneigtem Kopf, in ehrerbietig sinnender Betrachtung. Peeperkorn lag unter der rotseidenen Decke in seinem Trikothemd, wie Hans Castorp ihn so oft gesehen. Seine Hände waren schwärzlichblau angelaufen, Teile seines Gesichtes ebenfalls. Das schuf beträchtliche Entstellung, obgleich seine königlichen Züge sonst unverändert waren. Die idolhafte Faltenlineatur der hohen, weiß umloderten Stirn, in vier- oder fünffacher Reihe wagerecht gezogen und dann im rechten Winkel beiderseits die Schläfen hinablaufend, ausgeprägt durch die habituelle Anspannung eines ganzen Lebens, trat auch bei gesenkten Augenlidern, im Ruhestande, stark hervor. Die bitter zerrissenen Lippen waren leicht getrennt. Der Blaulauf deutete auf jähe Stockung, auf eine gewaltsam-schlagflüssige Hemmung der Lebensfunktionen.

Hans Castorp verharrte eine Weile in Andacht, die sich über den Sachbestand unterrichtet; er zögerte seine Haltung zu lösen, in Erwartung einer Anrede durch die „Witwe“. Da keine erfolgte, wünschte er vorläufig nicht zu stören und sah sich nach der Gruppe der übrigen Anwesenden in seinem Rücken um. Der Hofrat winkte mit dem Kopfe in der Richtung des Salons. Hans Castorp folgte ihm dorthin.

„Suicidium?“ fragte er gedämpft und fachlich ...

„Na!“ antwortete Behrens mit wegwerfender Gebärde und fügte hinzu: „Über und über. Im Superlativ. Haben Sie sowas in Galanterieware schon mal gesehen?“ fragte er, indem er aus der Kitteltasche ein unregelmäßig geformtes Etui zog und ihm einen kleinen Gegenstand entnahm, den er dem jungen Mann präsentierte ... „Ich nicht. Aber es ist sehenswert. Man lernt nicht aus. Kapriziös und erfinderisch. Ich hab es ihm aus der Hand genommen. Vorsicht. Wenn Ihnen was auf die Haut tropft, kriegen Sie Brandblasen.“

Hans Castorp drehte das rätselhafte Ding zwischen den Fingern. Es war aus Stahl, Elfenbein, Gold und Kautschuk, sehr wunderlich anzusehen. Es zeigte zwei gebogene, stahlblanke Gabelzinken mit äußerst scharfen Spitzen, einen leicht gewundenen elfenbeinernen und mit Gold eingelegten Mittelteil, in dem die Zinken bis zu einem gewissen Grade und auf eine gewisse elastische Weise, nämlich nach innen, beweglich waren, und endete in einer ballonartigen Erweiterung aus halbstarrem schwarzem Gummi. Die Größe betrug nur ein paar Zoll.

„Was ist das?“ fragte Hans Castorp.

„Das“, antwortete Behrens, „ist eine organisierte Injektionsspritze. Oder, anders herum aufgefaßt, eine mechanische Kopie des Beißzeugs der Brillenschlange. Sie verstehen? – Sie scheinen nicht zu verstehen“, sagte er, da Hans Castorp fortfuhr, benommen auf das bizarre Instrument niederzublicken. „Das sind die Zähne. Sie sind nicht ganz massiv, sie sind von einem Haarrohr, einem ganz feinen Kanal durchzogen, dessen Austritt Sie hier vorn etwas oberhalb der Spitzen ganz deutlich sehen können. Natürlich sind die Röhrchen auch hier an der Zahnwurzel offen, und da kommunizieren sie mit dem Ausführungsgang der Gummidrüse, der in dem elfenbeinernen Mittelteil verläuft. Beim Zubiß federn die Zähne etwas einwärts, das ist deutlich, und üben auf das Reservoir einen Druck, der den Inhalt in die Kanäle preßt, so daß in dem Augenblick, wo die Spitzen ins Fleisch fassen, die Dosis auch schon in die Blutbahn schießt. Es ist ganz einfach, wenn man es so vor Augen hat. Man muß nur darauf kommen. Wahrscheinlich ist es nach seinen persönlichen Angaben hergestellt.“

„Sicher!“ sagte Hans Castorp.

„Die Ladung kann nicht sehr groß gewesen sein“, fuhr der Hofrat fort. „Was sie an Quantität vermissen ließ, muß sie ersetzt haben durch –“

„Dynamik“, ergänzte Hans Castorp.

„Na also. Was es ist, das werden wir schon noch eruieren. Man darf dem Ergebnis mit einiger Neugier entgegensehen, es gibt da zweifellos was zu lernen. Wetten wir, daß der wachhabende Exot da hinten, der sich heute nacht so fein gemacht hat, uns ganz genau Bescheid sagen könnte? Ich nehme an, daß eine Kombination von Tierischem und Pflanzlichem vorliegt, – vom Guten das Beste jedenfalls, denn die Wirkung muß fulminant gewesen sein. Alles spricht dafür, daß es ihm sofort den Atem verschlagen hat, Lähmung des Respirationszentrums, wissen Sie, rapider Erstickungstod, wahrscheinlich ohne Zwang und Qualen.“

„Gott gebe es!“ sagte Hans Castorp fromm, händigte dem Hofrat das unheimliche kleine Werkzeug seufzend wieder ein und kehrte ins Schlafzimmer zurück.

Nur der Malaie und Madame Chauchat waren jetzt dort noch anwesend. Diesmal hob Clawdia den Kopf nach dem jungen Mann, als er sich dem Bett wieder näherte.

„Sie hatten ein Anrecht darauf, daß ich Sie rufen ließ“, sagte sie.

„Es war sehr gütig von Ihnen“, sagte er, „und Sie haben recht. Wir waren Duzfreunde. Ich schäme mich in tiefster Seele, daß ich mich dessen schämte vor den Leuten und Umschweife gebrauchte. – Sie waren bei ihm in seinen letzten Augenblicken?“

„Der Diener benachrichtigte mich, als alles vorüber war“, antwortete sie.

„Er war von solchem Format“, fing Hans Castorp wieder an, „daß er das Versagen des Gefühls vor dem Leben als kosmische Katastrophe und als Gottesschande empfand. Denn er betrachtete sich als Gottes Hochzeitsorgan, müssen Sie wissen. Das war eine königliche Narretei ... Wenn man ergriffen ist, hat man den Mut zu Ausdrücken, die kraß und pietätlos klingen, aber feierlicher sind als konzessionierte Andachtsworte.“

„C’est une abdication“, sagte sie. „Er wußte von unserer Torheit?“

„Es war mir nicht möglich, sie ihm abzustreiten, Clawdia. Er hatte sie erraten aus meiner Weigerung, Sie in seiner Gegenwart auf die Stirn zu küssen. Seine Gegenwart ist eher symbolisch, als real, in diesem Augenblick, aber wollen Sie mir erlauben, es jetzt zu tun?“

Sie rückte kurz den Kopf gegen ihn, die Augen geschlossen, wie mit einem kleinen Winken. Er führte die Lippen an ihre Stirn. Die braunen Tieraugen des Malaien überwachten die Szene seitwärts gerollt, so daß sie ihr Weißes zeigten.

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