Vorrede. Ich entschuldige mich und bekenne meine Ansicht, daß es in der Welt keinen Unglauben gibt
Meine Herren! Ich, Jojchenen der Melamed, will euch eine Geschichte erzählen. Und die Geschichte, die ich euch erzählen will, ist wie ein Rädchen in einem Rade: eine Geschichte in einer anderen Geschichte.
Beide Geschichten habe ich nicht erfunden oder, wie man sagt, aus den Fingern gesogen. Ich bin, gottlob, kein Schreiber. Ich erzähle sie euch ganz einfach, ohne Salz und Schmalz; Wortgeklingel lieb ich nicht … Wer die Wahrheit sagt, braucht keine Kunstgriffe, der spricht einfach seine Muttersprache.
Eine Vorrede muß ich euch aber doch geben: diese Geschichten, die ich erzählen will, werden euch möglicherweise zeigen, daß ihr, meine Herren, in vielen Dingen zu weit gegangen seid und euch zu sehr auf eure Sinne verlassen habt; daß es in der Welt Dinge gibt, von welchen weder euch noch euren größten Weisen je geträumt hat … Darum bitte ich euch, mir das nicht übelzunehmen.
Wenn ihr wollt, könnt ihr glauben, und wenn nicht, so nicht.
Ich will mich auch gleich vor meinen Freunden rechtfertigen: es wird meine Freunde vielleicht verdrießen, daß ich sozusagen aus der Schule plaudere, und dazu noch heutzutage, wo es so viel Unglauben gibt … und daß dadurch ein Ärgernis entstehen kann. Gott bewahre! Ich will ihnen sagen, daß es überhaupt keinen Unglauben auf der Welt gibt: das mit dem Unglauben ist eine erfundene Sache!
Denn die ganze Welt ist nichts als Glauben!
Könnte es denn auch anders sein?
Die Welt ist unendlich groß, hat wirklich keine Grenzen! Und unser Verstand ist so klein, so winzig, daß wir einem Menschen gleichen, der in einer finsteren Nacht, mit einem Pfenniglicht in der Hand, das kaum vier Schritt weit leuchtet, durch eine öde, finstere Wüste geht!
Ich bleibe bei meiner Meinung: ohne Glauben kann man überhaupt nicht auskommen! Die Vernunft allein reicht nicht aus. Wo kommt dann das Märchen vom Unglauben her? Nun, diese nichtsnutzigen Schreiber, die für das einfache Volk, für Köchinnen und Dienstmädchen Bücher verfassen, die Geschichten von Mördern und Räubern, von Falschmünzern und Wechselfälschern ausdenken, nur um die Leute zu erschrecken und ihr Blut in Wallung zu bringen, – diese selben Schreiber haben auch den Unglauben und den Irrglauben erfunden! Und zwar mit demselben Zweck: um das gemeine Volk – die Dienstmädchen, Schuster- und Schneiderlehrlinge – zu erschrecken …
Doch in Wahrheit: ohne Glaube kein Wille; einfach jüdisch gesprochen heißt das, daß ein Mensch, der nichts glaubt, auch nichts will und zu nichts Lust hat!
Ein solcher Mensch ist nichts mehr als ein Lehmklumpen, ein Stück Holz! Und wenn du Menschen siehst, welche Gelüste haben oder ihre Gelüste zugunsten andrer, größerer oder erhabenerer überwinden. Menschen, welche essen und trinken, Familienglück genießen, im Schweiße ihres Angesichts arbeiten und den Kopf voller Geschäfte haben, so wisse, daß diese Menschen glauben! Daß sie zumindest an ihr eigen Leben glauben!…
Denn zweifeln kann man ja schließlich auch daran! Wenn man will, so sagt man: Das Leben ist nichts! Und dagegen läßt sich schon wirklich nichts machen.
Doch die Regel ist: alle glauben. Nur glaubt der eine, daß der Leviathan vor dem Schor-ha-Bor(11) verzehrt werden wird; und der andre sagt: nein, umgekehrt, der Schor-ha-Bor kommt zuerst, und dann der Leviathan als Zuspeise. Und ein »aufgeklärter« junger Mann, der weder an den Leviathan noch an den Schor-ha-Bor glaubt, der glaubt an den Äther! Und was ist dieser Äther? Da erklärte mir ein solcher junger Mann: der Äther ist etwas, was weder Körper noch körperliche Kraft, weder Seele noch überhaupt etwas Geistiges ist; er nimmt keinen Raum ein und hat kein Gewicht … Mit einem Worte: er ist ein »Ja« und ein »Nein« zugleich!
Frage ich ihn, ob er den Äther gesehen hat? Nein! Aber er glaubt an ihn! Kurz und gut: alle glauben.
Was ist dann der Unterschied? Nun, jeder glaubt an seinen Rebben, jeder hat seinen Glauben, sozusagen seinen kleinen Götzen.
Alle blicken fremden Leuten auf den Mund. Alle küssen; doch der eine küßt den Vorhang vor dem Thoraschreine, wenn er auch nicht weiß, was im Schreine ist; der andre das kabbalistische Buch »Megillo Tmirin«, wenn es vom Tische herunterfällt; ich habe sogar mit meinen eigenen Augen gesehen, wie einer von ihren Leuten die »Geheimnisse von Paris« küßte. Und ich habe aus sicherer Quelle gehört, daß diese »Geheimnisse« die schauerliche Geschichte von einem gewissen Charbojno darstellen – doch nicht von unserem Charbojno, seligen Angedenkens, aus dem Buche Esther(12), sondern von einem Pariser Holzhacker, der barfuß auf Glasscherben herumging – und noch ähnliche Lügen, die ein Pariser Lügner erfunden und ein Wilnaer »Aufgeklärter« in die heilige Sprache übersetzt hat.
Meine Herren! Ich habe gottlob viel vom Leben und von der Welt gesehen; ich war Melamed in Dörfern und in kleinen Städten und auch in großen Städten. Seit sieben Jahren bin ich, Gott sei Dank, Melamed in Warschau, und ich komme, gottlob, unter Menschen, und ich kenne Menschen! Ich kenne Misnagdim(13), die beim chassidischen Gebet »Wajizmach purkonej« aus der Haut fahren, und ich kenne Chassidim, die einen, der zu einem andern Rebben fährt, für einen Ketzer – daß Gott davor behüte! – halten.
Ich kenne auch »Aufgeklärte«, sogar sehr viele; bedeutende und unbedeutende, solche, die wirklich was wissen, und gewöhnliche Schreiberseelen; ich kenne sogar viele, sehr viele Abtrünnige. Das alles kenne ich. Doch einen Menschen, der nicht glaubt, habe ich noch nie gesehen!
Ich wage sogar die Behauptung aufzustellen, daß es in der ganzen Gesellschaft der »Aufgeklärten« keinen einzigen gibt, der seinen eigenen Zuschnitt, sein eigenes System, seinen eigenen Weg hätte. Ich sah unter ihnen keinen einzigen, der seine eigene Ansicht über die Dinge hätte; mit Ausnahme von vielleicht zwei oder drei ganz großen Karpfenköpfen … Und die ganze übrige Gesellschaft, wie ihr sie seht, ist nicht ein ausgeblasenes Ei wert! Auch sie sind Chassidim, nur von einer andern Richtung! Sie glauben eben an ihren Rebben! Und sie hängen an ihrem größten Mann der Zeit, genau so, wie wir an dem unsrigen!
Und ich kann einen heiligen Eid schwören, daß keiner von ihnen ein eigenes Lehrgebäude hat, nicht einmal für eine Stunde! Nichts als Glaube an den Großen der Zeit. Und sie sprechen ihm alles nach, ohne einen Unterschied zu machen zwischen dem, was er mit Überlegung, bei klarem Verstande und im Ernst gelehrt, und dem, was er so nebenhin, oder im Zorne, oder gar nur, um zu widersprechen, gesagt hat.
Ganz wie bei unsern Gesinnungsgenossen! Es ist nicht der geringste Unterschied!
Und wenn einer von dieser Gesellschaft zu mir kommt und sagt, daß er an nichts glaubt, so ist es einfach dumm: ich werde ihn doch nicht dadurch beschämen, daß ich ihm meine Ansicht sage. Für mich selbst weiß ich aber, daß er entweder Spaß macht oder einfach prahlt; und gerade ein solcher fürchtet sich, nachts allein auszugehen! Und vielleicht muß er überhaupt so sprechen, weil es sein Geschäft verlangt. Was tut der Mensch nicht wegen seines Geschäfts!… Und er kann ja auch ein ganz dummer Mensch sein, der nicht einmal weiß, was er nicht weiß und was man glauben muß!
Und wenn so, warum sollen wir uns dessen schämen, was wir glauben?! Worin sind denn unsere Gesinnungsgenossen ärger als alle die »Aufgeklärten«, die nichts andres tun, als Ammenmärchen und Wunder zum größern Ruhme ihrer Großen erzählen? Weil unsere Geschichten nicht erfunden sind? Weil wir die Leute nicht mit Schauergeschichten von Räubern und Mördern, Falschmünzern und Wechselfälschern erschrecken? Muß man denn unbedingt nur über solche Dinge schreiben, die glatt erfunden sind?
Und ich will ja keine Geschichte von jenseit des Meeres oder aus uralten Zeiten erzählen, sondern eine wahre Begebenheit, die sich hier in Warschau und zudem vor ganz kurzer Zeit ereignet hat!
Und vielleicht kommt jemand und sagt: Es ist nicht wahr! Die Sache ist erlogen!… Gut, soll er nur kommen, soll er sich unterstehen! Ich bin, Gott sei Dank, ein einfacher Melamed und kein Schreiber, Gott behüte! Und Lügen ist weder mein Handwerk noch mein Geschäft!
Kurz und gut – meine Geschichte ist wahr. Und wenn jemand kommt und ihr eine andere Deutung gibt? Gut, so werden wir ihn anhören.
Bis hierher geht die Vorrede, und nun beginnt die Geschichte selbst.