Ein Ausspruch des »Schweigers« gesegneten Angedenkens. Die Vorzüge meines Bruders; er ruhe in Frieden. Ein guter Anfang
Man erzählt vom »Schweiger«(14), gesegneten Angedenkens, daß er, als man ihn einmal fragte, warum er nicht, wie die andern Rebben, aus der Thora predige, einfach geschwiegen habe, wie er es bei allen Fragen zu tun pflegte.
Doch zu einer andern Stunde, als er besonders gnädig aufgelegt war und man in ihn mit derselben Frage wieder drang, sagte er mit einem Lächeln:
»Die Welt«, sagte er, »wundert sich über mich, warum ich nicht Thoraweisheit predige. Und ich wundere mich über diejenigen, die das tun können. Wie kann man in der Thora anfangen und aufhören, wo die Thora weder Anfang noch Ende hat und die Unendlichkeit selbst ist?
»In Wirklichkeit ist es aber so: Leute, die keine Ahnung von der Thora haben und predigen, was ihnen gerade in den Sinn kommt, beginnen, wann und wo sie wollen, und endigen, wann und wo sie wollen. Denn die Thora, die sie predigen, ist nicht die Unendlichkeit, nicht die Thora des Herrn der Welt! Es ist ihre eigene, von ihnen erfundene Thora … Doch einer, der die Thora wirklich kennt, predigt nicht, weil er nicht weiß, wo er beginnen und wo er endigen soll!
»Und in weltlichen Dingen ist es auch so. Zum Beispiel bei einem Rechtsstreit, wenn man die Zeugen vernimmt. Ein wahrheitsliebender Mensch, der nicht lügen kann und will, beginnt seine Zeugenaussage mit den sechs Tagen der Schöpfung und kommt niemals zu der Sache selbst; und zum Schluß – schon gar nicht! Doch einer, der frei aus dem Kopfe spricht, legt sich alles hübsch zurecht und spricht wie ein Mensch, der Anfang und Ende weiß … Und seine Aussage fließt dahin wie Baumöl!«
Dieselbe Regel gilt auch für jede Erzählung: der Schreiber, der sich alles aus den Fingern saugt, kann eine Geschichte beginnen, wann und wo er will; sie ist seine eigene Schöpfung, und er kann mit ihr tun, was ihm beliebt! Wenn er will, macht er sie kurz. Doch ich, der ich eine wahre Begebenheit erzählen will, weiß wirklich nicht, womit ich anfangen und womit ich endigen soll! »Es gibt nichts Neues unter der Sonne« – jede Sache hängt von einer früheren Sache ab, und die frühere von einer noch früheren, und diese letztere kann man auch nicht verstehen, wenn man nicht weiß, was noch früher war. Und so gelangt man zu den sechs Tagen der Schöpfung … Doch zu Ehren meines geliebten Bruders Seinwel-Jechïel, er ruhe in Frieden, will ich mit ihm beginnen …
Es ist jedermann bewußt – die ganze Franziskanergasse weiß es –, daß mein Bruder, gesegneten Angedenkens, ein großer Gelehrter und ein wirklich gottesfürchtiger Mann war.
Er war Witwer, und in seinen alten Tagen blieb er ganz allein mit seiner Tochter, der Jungfrau Broche-Leë – es soll zwischen Lebendigen und Toten wohl unterschieden werden! Er lebte in großer Not, und da er keine Kraft mehr zu unterrichten hatte, blieb er schließlich – nicht auf euch gesagt und auf keinen Juden gesagt! – ohne Brot. Und die Jungfrau Broche-Leë wuchs, unberufen, wie auf Hefe … Mit einem Wort – es war ein Jammer!
Was tut Gott? Einige Hausväter, lauter geachtete feine Männer, deren Kinder mein Bruder unterrichtet hatte, tun sich zusammen und übernehmen es, Broche-Leë zu verheiraten und ihrem Vater, er ruhe in Frieden, die Mittel zu geben, damit er ins Heilige Land fahren kann.
Obwohl die Reise nicht zum Abschluß gedieh, da er unterwegs – nicht auf euch gesagt! – an einem Herzschlag starb, so war ihm doch vergönnt, die Stadt Zfas im Heiligen Lande zu sehen, woselbst er seinen Geist aufgab und in einem jüdischen Grabe mit großen Ehren beigesetzt wurde.
Der Rabbiner von Zfas hielt auf seinem Grabe einen feurigen Nachruf und druckte ihn, den Nachruf, in seinem Werke »Kostbare Perlen« ab; und wer in dieses Werk hineinsieht, leckt sich die Finger ab.
Da ich jetzt schon einmal den Anfang habe, werde ich mit der eigentlichen Geschichte beginnen.