Meine Herren! Mit der Schätzung der ägyptischen Kultur ist es seltsam gegangen. Im ganzen Kulturgebiet des Mittelmeeres stand ägyptische Weisheit seit der Zeit der Hellenen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts im höchsten Ansehen, während ihre Kunst als seltsam und barbarisch gering geschätzt wurde. Die geheimnisvolle Weisheit der Priester, die vielen Inschriften in der wunderbaren Bilderschrift der Hieroglyphen — vielleicht ein griechisches Wort, das Einmeisselung in den heiligen Stätten bedeutet —, die unentzifferbaren Papyrosrollen, der einzig dastehende Totenkult, alles das trug dazu bei, den Gedanken an tief verborgene geheimnisvolle Weisheit zu erwecken. Welchen Eindruck Ägypten auf die Hellenen gemacht, erfahren wir aus Herodot, der ersten und der besten alten Quelle. Er, der Ägypten etwa um die Mitte des 5. Jahrhunderts bereiste, schreibt: Wie der Himmel bei ihnen von sonderlicher Art, wie ihr Strom eine andere Natur hat, als die übrigen Flüsse, so sind auch fast alle Sitten und Gebräuche der Ägypter entgegengesetzt der Weise der anderen Menschen. Bei ihnen sitzen die Weiber auf dem Markt und handeln, die Männer bleiben zu Hause. Lasten tragen die Männer auf dem Kopf, die Frauen auf den Schultern. Ihre Notdurft verrichten sie in den Häusern, die Speisen aber nehmen sie auf der Strasse zu sich und sagen dazu: Im Verborgenen müsse man tun, was unziemlich sei, aber notwendig, öffentlich aber, was nicht unziemlich sei etc.
In jeder Hieroglyphe sah man ein Bild oder Symbol irgend eines tiefen Gedankens und suchte sie wie einen Rebus zu erraten. So las der bekannte viel wissende Jesuit Athanasius Kircher, der von 1601–1680 lebte und die Laterna magica u. a. erfunden hat, die sieben Zeichen:
welche in Wahrheit autkrtr heissen und den Titel αυτοκρατως, Selbstherrscher, bezeichnen, der den Titel Imperator des römischen Kaisers wiedergibt, in folgender Weise: Osiris (Symbol = a) ist Urheber der Fruchtbarkeit und aller Vegetation, (Symbol = u). Seine Zeugungskraft (Symbol = tk) zieht aus dem Himmel (Symbol = r) der heilige Mophta (Symbol = tr[*]) in sein Reich, und in einem andren Falle las Kircher die 17 Buchstaben kasrs Tmitins sbsts d. h. Kaiser Domitianus Sebastos so: Der wohltätige Vorsteher der Zeugung der im Himmel vierfach mächtige übergibt durch den wohltätigen Mophta die luftige Feuchtigkeit an den Amon, der in der Unterwelt mächtig ist und durch seine Statue und geeignete Zeremonien veranlasst wird, seine Macht auszuüben. Kircher hat übrigens um die Kenntnis des Koptischen wirkliche Verdienste. Er hat zuerst das Koptische als die altägyptische Volkssprache bezeichnet (lingua aegyptiaca restituta 1645). Während Kircher metaphysische und theosophische Spekulationen in die Hieroglyphen hineinlas, fand der Abbé Pluche meteorologische Beobachtungen in ihnen und ein Anonymus sogar Davidische Psalmen.
[*] Der Löwe ist ein spätes Zeichen, das eigentlich dazu dient, r und l, die in alter Zeit das gleiche Zeichen haben, zu unterscheiden.
Meine Herren! Sie können sich denken, dass durch solche Spielereien die ganze Beschäftigung mit Hieroglyphen in Verruf kam und wir blieben für die wirkliche Kunde von Ägypten auf die griechischen Quellen, insbesondere auf Herodot, Eusebios, Horapollo, Plutarch, Diodor und die jüdischen Erzählungen in der Bibel angewiesen. Das wurde mit einem Schlage anders, als Napoleon im Jahre 1798 seinen Zug nach Ägypten unternahm, um von da aus die Engländer in Indien zu bedrohen. Grossartig wie der Plan und der Mann nahm er einen ganzen Stab hervorragender Gelehrten unter Vorsitz von Fourier mit, die mit der Erforschung des Landes beauftragt wurden, für welche Napoleon durch des Mathematikers Karsten Niebuhrs Reise in Arabien (voyage en Arabie) 1761–67 angeregt worden war. Sie haben ihre Aufgabe glänzend gelöst und ihr grosses Material in der description de l'Egypte, dem Fundament der Ägyptologie, niedergelegt. Statt der wenigen nach Rom und Byzanz verschleppten Inschriften lag jetzt eine Fülle von Texten vor und die Entzifferung wäre, wenn auch langsam, gelungen, wie die der Keilschriften Assyriens gelungen ist, auch ohne den glücklichen Zufall des Fundes von Rosette.
»Im August 1799, als die Lage des französischen Heeres schon recht misslich war, fand man beim Ausheben von Schanzen im Port St. Julien (Raschêd), 7,5 km N. W. von Rosette in der Nähe der westlichen Nilmündung eine schwarze Granittafel, deren Vorderseite mit drei Inschriften bedeckt war. Die oberste in Hieroglyphen, die mittlere in der ägyptischen Volksschrift zur Zeit der Ptolemäer, dem Demotischen, und die unterste in griechischer Schrift und Sprache. Im griechischen Text stand: Man solle dieses Dekret der Priester von Memphis zu Ehren des Königs (Ptolemäus Epiphanes, 196) in heiliger Schrift, in Volksschrift und in griechischer schreiben. Es war also kein Zweifel, dass die beiden ägyptischen Texte des Steines von Rosette die Übersetzung des Griechischen enthielten. In dem Dekret war mehrfach von König Ptolemäus die Rede, es war unwahrscheinlich, dass für diesen fremden Namen die Hieroglyphen als Symbolik dienen sollten. Die Vermutung lag nahe, dass die Hieroglyphen eine Lautschrift seien.«
Sie wurde 1816 von dem grossen englischen Physiker Thomas Young ausgesprochen, welcher an der durch die Kapitulation von Alexandria 1801 nach England gesandten Tafel i, n, p, t, f entzifferte und unabhängig von ihm kam der junge französische Gelehrte Jean François Champollion-le Jeune auf den gleichen Gedanken. Champollion muss als der eigentliche Entzifferer der Hieroglyphen angesehen werden. Wer sich genau für ihn und seine Taten interessiert, findet alles denkbare Material in dem höchst fesselnden Werke von H. Hartleben: Champollion, sein Leben und sein Werk 1906, in dem mit der ganzen liebevollen Sorgfalt, deren nur eine Frau fähig ist, und mit glänzendem Erfolg in vieljähriger unermüdlicher Arbeit alle überhaupt beschaffbaren Urkunden verwertet sind. Dass Young und Champollion Vorläufer hatten, ist selbstverständlich, so erwiesen sich z. B. die Angaben des Kirchenvaters Clemens Alexandrinus über das altägyptische Schriftsystem bedeutend zuverlässiger als die des Herodot und Diodor. Ganz bedeutend muss der Däne Georg Zoëga hervorgehoben werden, der sich von 1783 an mit Hieroglyphik beschäftigte. Zoëga, geschulter Philologe, — er war der Lieblingsschüler des berühmten Göttinger Philologen Ch. G. Heyne —, hat den Lautcharakter der Hieroglyphen erkannt. Er hat vermutet, dass der Ring: Symbol, die alphabetisch geschriebenen Namen des Königs und der Königin umschlösse und was die Hauptsache war, er hat die ägyptische Kunst richtig beurteilt. Winckelmann hatte die ägyptische Kunst als völlig stabil hingestellt. Demgegenüber zeigte Zoëga, dass es in ihr Entwicklung, Blüte und Verfall gibt, kurz Bewegung. Heute wissen wir, dass das alte Reich eine Zeit der Entwicklung durchmachte von kühner, aber technisch unvollkommener Nachahmung der Natur aufsteigend bis zu Meisterwerken wie: »der Dorfschulze, der Schreiber«, und der gewaltigen Sphinx', das Abbild der vollen Majestät des Königs (siehe Abbild.). Auf diese Zeit folgte ein Beharren und ein Stabilwerden im mittleren Reich, ein Verfall in der Hyksosperiode, bis dann im neuen Reiche die neue grossartige Kunstepoche herbeigeführt wurde dadurch, dass die aus dem Verkehr mit Syrien und Babylonien gewonnenen neuen Motive der Eigenart des ägyptischen Volkes gemäss entwickelt wurden. In dem Werke von H. Hartleben finden Sie, meine Herren, wie Champollion von frühester Jugend an die Entzifferung des ägyptischen Geheimnisses als sein Lebensziel erkannte und wie unentwegt er diesem Ziel trotz Krankheit und Not nachgestrebt. Von besonderem Einfluss ist das Interesse, das Fourier, der Verfasser der Théorie de la Chaleur, dem genialen Knaben entgegenbrachte, der 12jährig im Herbst 1802 dem Präfekten von Grenoble durch den älteren Bruder, den ebenfalls bedeutenden Gelehrten Jacques vorgestellt wurde. Aber wir sehen aus dem Buche auch, wie gross die Arbeit, wie mannigfaltig die Schwankungen und Irrtümer waren, bis es 1822 Champollion gelang, die grundlegenden Sätze auszusprechen:
1. Die drei altägyptischen Schriftformen, Hieroglyphen, Hieratisch, Demotisch, stellen im Grunde dasselbe einheitliche System dar.
2. Das System besteht aus einem Gemisch von etwa 19 teils »figurativer«, teils »symbolischer« Zeichen.
Champollion ging wie Young vom Stein von Rosette aus. Dort kam an der Stelle, wo der griechische Text von Ptolemäus spricht, derselbe Ring vor, den man von den Bildern der Tempel neben dem Haupt des durch die Doppelkrone bezeichneten Königs her kannte und in diesem Ring Symbol finden sich die Zeichen:
Champollion hatte bemerkt, dass auf einem Obelisken aus Philä, der wichtigen Grenzstadt in Unterägypten, neben demselben Königsring ein anderer stand, der 5 von den Zeichen des ersten Ringes enthielt. Aus der griechischen Inschrift an der Basis des Obelisken liess sich entnehmen, dass es der Name Kleopatra sei und er musste es sein, denn von den drei in der Königsfamilie üblichen Frauennamen: Arsinoe, Berenike, Kleopatra enthält nur der letzte 5 Buchstaben, die auch in Ptolemäus vorkommen. So wurden die Zeichen für die Laute a, e, l, m, o, p, r, s, t gefunden und bald fand Champollion Bestätigungen, die ihn weiter führten, so an dem Königsnamen Aleksentros, id est Alexander. Dazu kam dann bald als der schlagendste Beweis, dass, wenn man nach dieser Deutung Worte las, die phonetisch geschrieben, hinter denen aber, was sehr häufig ist, ein Deutungszeichen stand, wie z. B.
Symbol Eh und: Symbol
erp, man auf wohl bekannte koptische Worte ehe der Ochse und erp, der Wein stiess.
Diese Determinative oder Deutungszeichen waren unentbehrlich und wurden immer zahlreicher. Dieselben beiden Zeichen Symbol konnten noch bedeuten: Weinen, dann war ein tränendes Auge dahinter Symbol; Feld, dann war ein Markstein dahinter, wenn es Strick bedeutete Symbol. Wenn es Loben, Preisen, Rufen, kurz einen Ausruf bedeutete, ein sitzender Mann, wenn es Bedrohen, Bedrängen bedeutet, ein bewaffneter Arm: Symbol, der überall vorkommt, wo Energie ihren Ausdruck findet. Es sind diese Determinative Überreste der ältesten Zeit, wo die Hieroglyphen wirklich Bilderschrift war, wie es die chinesische Schrift noch heute ist. — Ich nehme als Beispiel die Hieroglyphe Symbol per das Haus, der rohe Grundriss eines Hauses, wie es noch heute der ägyptische Bauer bewohnt. Aber das Zeichen für Haus der ältesten Zeit wurde im Laufe der Zeit zum Zeichen der Silbe per. Dies kann dann sehr verschiedenes bedeuten: Symbol hinausgehen, Symbol hineingehen.
Als Champollion 1832 schon 10 Jahre nach seiner Entdeckung starb, war es ihm gelungen, das ganze Schriftsystem der Hieroglyphen zu entziffern. Dieser eine Mann hatte in einem Jahrzehnt das grosse Rätsel gelöst und ein ganzes Volk wieder in die Weltgeschichte eingeführt.
Nach den Hieroglyphen wurde die hieratische Schrift entziffert, die Priesterschrift, in der die meisten Papyri geschrieben sind, und die aus Zusammenziehung der Hieroglyphen, sogenannten Ligaturen, entstanden, sich zu jener verhält, wie unsere Schreibschrift zur Druckschrift und nach dieser von Brugsch das Demotische. Es konnte eine ägyptische Grammatik geschrieben werden, ägyptische Literatur gelesen werden und eine glänzende Bestätigung erhielten die Arbeiten der Ägyptologen als Lepsius, der 1842 die berühmte, so erfolgreiche, sogenannte preussische Expedition geleitet hatte und die Gräber des alten Reiches aufgedeckt hatte, 1867 auf dem Trümmerfelde der alten Stadt Tanis eine andere Trilingue fand, von sehr bedeutender Länge und ganz vollkommen erhalten: Das Dekret von Canopus, das sich auf eine Kalenderverbesserung bezog.
Aber als nun die ägyptische Literatur entziffert war, machte sich zunächst eine grosse Enttäuschung geltend. An Stelle der erwarteten tiefsinnigen Weisheit fand man eine wirre Mythologie, aus der nur die schon durch Plutarch, de Iside, bekannten Gestalten des Osiris, der Isis, des Seth oder Typhon, und des Horus oder besser Hor deutlicher sich abhoben. Man lese Erman S. 365 ff. Daneben Haarspaltereien, wie etwa die rabbinischen Untersuchungen über die Jakobsleiter, Zaubersprüche und eine tolle Dämonologie. Die Papyri entpuppten sich meist als Schülerhefte oder als Briefe, die zum Unterricht geschrieben waren und etwas mehr Inhalt boten eigentlich nur die Totenbücher, buchstäblich Reisehandbücher für den Ka, die Seele des Verstorbenen, auf seiner Reise in das Reich des Osiris, in die Totenwelt.
Die Medizin, die Herodot solchen Respekt einflösste, lernten wir aus dem grossen Papyrus Ebers kennen, eine ausserordentliche, reiche Sammlung von Rezepten, deren vornehmster Bestandteil Kot der verschiedenartigsten Tiere, überhaupt die ekelerregendsten Elemente sind. Beiläufig gesagt ist auch für die mathematische Tradition die Bemerkung nicht unwichtig, dass ein Teil dieser Rezepte noch heute unverändert einen Bestandteil der Volksapotheke in Europa bildet. — So schlug denn die Ehrfurcht in ihr Gegenteil um. Man unterschätzte die ägyptische Wissenschaft, wie man sie überschätzt hatte. Aber etwa seit 1880 trat eine Wandlung ein, die genaue Detailforschung, gefundene Briefe, Rechnungen, Steuerquittungen, Prozessakten zeigten, dass man es mit einer seit 4000 v. Chr. grossartig organisierten Verwaltung und mit einem ausserordentlich klaren und verständigen Volke zu tun hatte. In die Geschichte, in die Mythologie kam Licht, Lyrik, ein reicher Märchenschatz, wie ihn noch heute die Fellah lieben; auch die Kunst zeigte sich zum Teil auf erstaunlicher Höhe. Vergl. die kurze Kunstgeschichte von W. Spiegelberg. Man denke an die Statuen des Pepi und Ramses II., die herrlichen Statuen von Gizeh im Louvre etc. Ferner an Architekturwerke, Meisterwerke, wie die Tempel von Karnak und Luxor. Papyri, wie die älteren, auf Leder geschriebenen, z. B. der Papyrus Prisse, zeigten wirklich hohe Weisheit auf ethischem Gebiet 2500 v. Chr. Ausserordentlich früh war das Barbarentum, wie Menschenopfer, Tötung der Frauen und Sklaven, die es bei den Griechen noch im Homerischen Zeitalter gab, abgeschafft. Auch die Stellung der Frau zeigt die ethische Reife, sie war weit höher als bei irgend einem orientalischen Volke, vielleicht die Hebräer ausgenommen, selbst der Adel der Herkunft richtet sich nach der Mutter. Wir haben Kunde von der bedeutenden Rolle, welche z. B. Tye, die Mutter des Chinatôn, spielte, deren wundervoller Goldschmuck vor kurzem gefunden wurde, wir wissen von der zwanzigjährigen kraftvollen Regierung der Hatschepsowet, der Mutter des grossen Thutmosis III., welche u. a. eine grosse und erfolgreiche Expedition nach Punt sandte und dort ihre Statue aufstellen liess. Die Ehe war sehr früh im wesentlichen monogamisch, und das Familienleben ausserordentlich innig. Vielleicht hat die Schwesterehe der Ägypter zu dieser Wertung der Frau beigetragen. Anfänglich Sitte der Vornehmsten, wohl um Erbteilungen zu vermeiden, verbreitete sie sich rasch über das ganze Land, und die Ägypter haben für Schwester und Geliebte das gleiche Wort. — Die Rechtspflege war sehr früh geordnet, Richter von Fach führten die Untersuchung, die Strafen bestimmte der König, sie waren nicht grausamer, als sie bei uns bis ins 19. Jahrhundert hinein gebräuchlich waren.