Ägyptische Mathematik.

Was nun die Mathematik der alten Ägypter betrifft, so waren wir bis 1868 auf sehr dürftige Quellen angewiesen. Dass die Ägypter schon früh im Besitze nicht geringer mathematischer Kenntnisse gewesen, geht schon aus den gewaltigen Bauten hervor. Die Gräber der Grossen waren genau orientiert. Stets stand die Statue des Toten, die dem Ka, der Seele, Gelegenheit geben sollte in seinen Leib zurückzukehren, so dass sie genau nach Westen schaute. Die grossen Pyramiden waren auf das Genaueste orientiert, so dass die wunderbarsten Vermutungen, und zwar vor noch nicht langer Zeit, über ihre eigentliche Bedeutung gemacht wurden. Ich nenne nur die des Ingenieurs Price Smith über die Pyramide des Cheops. Im allgemeinen standen die Tempel im Meridian. Diese Orientierung war Aufgabe einer besonderen Priestergruppe, der Harpedonapten id est der Seilspanner. Der König selbst beteiligte sich dabei. Man vergleiche die von dem früheren Strassburger Ägyptologen Dümichen veröffentlichte Baugeschichte des Tempels von Denderah; der Tempel wird genau nach dem Eintritt der Plejaden in den Meridian orientiert. Dort ist der König abgebildet an einem Pflock stehend, und diesem gegenüber steht Să̇fchet, die Göttin der Wissenschaft und der Bibliotheken; beide schlagen gleichlange Pflöcke mit einer Keule in den Erdgrund und halten gemeinsam ein Seil. Die Inschrift sagt: Ich habe gefasst die Holzpflöcke und den Stiel des Schlegels, ich halte das Seil gemeinsam mit der Göttin Să̇fchet. Mein Blick folgt dem Gange der Gestirne; wenn mein Auge an dem Sternbilde des Siebengestirns angekommen ist und erfüllt ist der mir bestimmte Abschnitt der Zahl der Uhr, stelle ich die Pflöcke auf die Eckpunkte deines Gotteshauses. Die Stelle: wenn mein Auge usw. wird dadurch verständlich, dass die Himmelskarte so angelegt wurde, dass unter der Mitte des Himmels ein Mensch aufrecht sitzt und nun wird der Gang der Sterne angegeben. Uns sind mehrere solcher Listen erhalten. Da heisst es z. B.: Am 16. Phaopi steht in der 8. Stunde die Fingerspitze des Sternbildes Sa'h id est Orion über dem linken Auge etc. Ich will hier nur kurz bemerken, dass auch unser Kalender im wesentlichen auf die Ägypter bezw. Babylonier zurückgeht.

An Werkzeugen war ihnen schon in ältester Zeit der rechte Winkel, das Richtscheit, bekannt, das man u. a. in einer Tischlerwerkstatt gefunden hat; die Orientierung im Felde geschah durch das Spannen des Seiles mit den Knoten 3, 7, 12. Dass danach das pythagoreische Dreieck mit den Seiten 3, 4, 5 den Ägyptern bekannt war, steht unzweifelhaft fest. Auch Zirkel verschiedener Art können nicht gefehlt haben. Ein eigentümliches Instrument zum Ebenmachen, unserem Hobel entsprechend, ist ebenfalls gefunden worden. An Massstäben etc. hat es auch nicht gefehlt. Das Richtscheit kommt des öfteren auf Bildern in der Hand des Königs vor, wie etwa der Pflug in der des Kaisers von China. In der Ornamentik findet sich eine Reihe geometrischer Figuren, ihre Wagenräder verlangen die Kreisteilung, anfangs sind sie viergeteilt, später nach Zusammenstoss mit den Chaldäern oder Babyloniern sind sie sechsgeteilt. In der grossen Schenkungsurkunde des Tempels von Edfu haben wir eine ganze Reihe von Flächenberechnungen; einzelne Rechenexempel finden sich in den Papyri, aber im grossen und ganzen waren wir auf sehr dürftige Nachrichten der Klassiker, in erster Linie auf Proklus angewiesen.

Fest steht, dass Thales, der Milesier, etwa um 600 einige Kenntnisse, die ihm ägyptische Priester vielleicht wegen ihrer Geringfügigkeit mitgeteilt hatten, nach Jonien brachte, darunter den Satz von den Basiswinkeln im gleichschenkligen Dreieck, den 2. Kongruenzsatz und die Konstruktion des gleichseitigen Dreiecks. Weit länger und fruchtbarer scheint der Aufenthalt des Pythagoras, dem es allem Anscheine nach gelang in die schwierige Sprache und in das noch schwierigere Vertrauen der ägyptischen Priester einzudringen, gewesen zu sein. Pythagoras brachte vermutlich auch die Form, in welche die Ägypter Sätze und Aufgaben kleideten, nach Europa, die sich bei Euklid und Heron erhalten hat. Sicher bezeugt ist der Aufenthalt des Mathophilosophen Eudoxos und der des Oinopides, der die Konstruktion des Lotes aus Ägypten importierte. Wahrscheinlich der des Platon von Sizilien aus, sicher wiederum der des Eudemos, wahrscheinlich der des Demokrit, der sich rühmte, dass ihn im Konstruieren nicht einmal die Ägypter überträfen. Die ägyptische Reisskunst hatte den höchsten Ruf. Ägyptische Feldmesser und Baumeister waren in der ganzen Welt des Mittelmeeres bis tief in die römische Kaiserzeit die gesuchtesten. Einen hohen Ruf hatten ihre astronomischen Kenntnisse und Beobachtungen, die sehr lange fortgesetzt waren. Man muss freilich sagen, dass die eigentümlichen, ganz neuerdings von L. Borchardt erklärten Instrumente mit unseren astronomischen Präzisionsinstrumenten keinen Vergleich zulassen, ja nicht einmal mit denen der Babylonier.

Eine direkte altägyptische Urkunde sprach zum ersten Male zu uns im Papyrus Rhind, über welchen 1868 der Engländer Birch im Lepsius einen kurzen Bericht gab. 1872 erhielt August Eisenlohr in Heidelberg eine lithographische Abschrift des Textes und in fünfjähriger mühevoller Arbeit entzifferte er denselben, unterstützt von seinem Bruder, dem Mathematiker Friedrich Eisenlohr und vor allem von Moritz Cantor. Die Ausgabe ist jetzt veraltet, besonders die Namen, aber auch die Zahlworte und Masse sind falsch gelesen. So ist z. B. psd 9 mit paut Kreis verwechselt und eine neue Ausgabe vom Standpunkte der heutigen Ägyptologie wäre sehr zu wünschen.

Der Papyrus beginnt mit den Worten: »Vorschrift zu gelangen zur Kenntnis aller dunklen Dinge, aller Geheimnisse, welche sind in den Dingen. Verfasst wurde diese Schrift im Jahre 33, im vierten Monat (Mesori) der Überschwemmungszeit unter König Raa-us lebenspendend nach dem Muster alter Schriften in der Zeit des Königs .......at vom Schreiber Aahmesu.« Der König heisst nicht Raa-us, sondern mit seinem Horusnamen Apophis, wie die furchtbare Schlange des Typhon. Es ist der Hyksoskönig mit seinem Königsnamen A-vose-re, gross ist die Macht des Re. Re, nicht Ra, ist die heisse Mittagssonne, deren Gewalt nirgends sich fühlbarer machte als in Ägypten, und deren Kult im alten und im mittleren Reich alle übrigen überbot. Der König des Musters ist Amenemhet III., etwa um 2200. Die Muster sind, wie es scheint, gefunden worden von Flinders Petrie in Kahun im Jahre 1889, die Papyri hat Griffith 1897 herausgegeben, wenigstens stimmt Papyrus Ames mit denen von Kahun genau überein.

Eisenlohr und mit ihm Cantor bezeichnen den Papyrus als ein mathematisches Handbuch der alten Ägypter, Cantor nennt es gelegentlich sogar »Vademecum eines ägyptischen Feldmessers«, dem gegenüber erklärte Eugène Revillout, der Herausgeber der Revue égyptologique, in einer Note, die Cantor, wie es scheint, entgangen ist, ist sie doch dem so rührigen und so viel jüngeren L. Borchardt entgangen, das Heft ganz kurz und klar für das Heft eines mässigen Schülers, das einige Jahrhunderte später von einem Schreiber ohne alle mathematische Bildung, und solcher gab es schon im alten Ägypten, dem Jamesu, Sohn des Mondes, abgeschrieben und an einen schlichten Landmann verkauft ist. Dieser Ansicht Revillouts schloss sich Weyr in seinem Festvortrag in der Wiener Akademie an; Borchardt, dessen Autorität sehr schwer ins Gewicht fällt, teilte gleichfalls diese Ansicht und auch ich kann ihr nur beipflichten. Das Heft wimmelt geradezu von groben Rechenfehlern, die oft vom Lehrer mit roter Tinte tout comme chez nous korrigiert, öfter nur generaliter bemerkt sind. So kommt z. B. ein Exempel vor, wo der Schüler durchgehend 14 mit 9 verwechselt hat, das war leicht möglich, die Schrift ist althieratisch, ganz ähnlich wie beim Papyrus Ebers, unserer Hauptquelle für die Geschichte der ägyptischen Medizin. Das Hieratische verhält sich, wie schon gesagt, zu den Hieroglyphen, die nur in prähistorischer Zeit wirkliche Bilderschrift waren, wie unsere Schreibschrift zur Druckschrift, es entsteht durch Ligaturen. Der Lehrer schreibt nur eine 14 an den Rand; er lässt, wenn die Exempel falsch sind, Proben machen, gibt auch gelegentlich dasselbe Exempel mit anderen Zahlen, manchmal gibt er selbst die Lösung an, die mitunter ganz anderen Gebieten der Mathematik angehörte. Daneben kommen auch Fehler genug auf Rechnung des Schreibers Jamesu.

Die Ansicht Revillouts ist schon an und für sich wahrscheinlich, da die grosse Mehrzahl der auf uns gekommenen Papyri Schülerhefte waren. Es gab schon im alten Reiche ein ausgebildetes Schulwesen. Die Schulen a-sbo waren teils staatliche, teils private. Sie waren ganz und gar realistisch. Ihr Zweck war nicht die formale Geistesbildung, an toten Sprachen abgezogen, sie übersetzten nicht ihren Julius Cäsar Shakespeares ins Lateinische, um denselben den Römern zugänglich zu machen, sondern sie hatten Fachschulen, Schulen für Ackersleute, für Baumeister, für Feldmesser, für Intendanten, für Kaufleute etc. Unser Heft entstammt einer landwirtschaftlichen Schule. Der Schreiber schliesst es mit den Worten: Fange das Ungeziefer und die Mäuse, vertilge das Unkraut aller Art. Bitte Gott Re um Wärme, Wind und hohes Wasser.

Das letzte war die Hauptsache. Ägypten, sagt Herodot, ist ein Geschenk des Niles, wurde doch die ganze straffe Zusammenfassung des Volkes unter einen König durch die Notwendigkeit dem gewaltigen Strom mit vereinten Kräften zu wehren, unabweisbar; damit das Jahr gut war, musste die Nilhöhe am Pegel von Memphis 16 Ellen, à 0,538 m, betragen. Bei 18 Ellen war es ein gesegnetes, was darüber war, war schädlich. Aber auch abgesehen von dem Spruche, bezeugt es der Inhalt des Heftes; die Beispiele sind zum weitaus grössten Teil direkt für den Gebrauch des Landmanns bestimmt. Ein nicht unwichtiges Argument für Revillouts Ansicht gab mir Herr Spiegelberg an. Der Papyrus soll nämlich vorzüglich erhalten sein, was äusserst unwahrscheinlich ist bei einem viel gebrauchten Handbuch.

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