Ergänzung zur Lehre der Pythagoreer.

Da mir bis vor kurzen die gründliche Dissertation von W. Bauer, der ältere Pythagoreismus, Bern 1897, entgangen war, so sehe ich mich veranlasst, den Abschnitt über die Pythagoreer zu ergänzen. Zu diesem Zwecke muss ich etwas näher auf Anaximander den Jonischen »Physiologen« eingehen, sowie auf die Orphiker. Anaximander hat sicher eine Schrift peri physeos geschrieben, welche noch dem Theophrast vorlag. Ob er sein Apeiron als Stoff oder als Kraft gedacht hat oder was das wahrscheinlichste, als beides zugleich, ist zweifelhaft. In der sehr merkwürdigen Stelle Aristoteles Phys. 14. 203b 6 (Diels Frag. S. 14) werden fünf Quellen seines Unendlichkeitsbegriffs angegeben: die Zeit, die Auflösung des Continuums, der Fortgang in der Begrenzung des Begrenzten (die Compositio continui), die Zahl, der Raum (»das ausserhalb des Himmels«). Nicht minder interessant ist die Stelle bei Simplicius (Diels 13 oben): Anaximander nennt das Unendliche Prinzip und Element der Dinge. Nicht das Wasser oder ein anderes der sogenannten (vier) Elemente, sondern ein anderes Wesen, das Apeiron, sei das Prinzip, aus dem alles entstanden sei, die Welten und ihre Ordnungen. Woraus aber den Dingen die Entstehung stammt, eben dahin geht auch ihr Untergang nach Notwendigkeit; denn sie zahlen einander Strafe und Busse der Zeitfolge gemäss. In diesem Satz ist a) die Unveränderlichkeit des Unendlichen dem Endlichen gegenüber ausgesprochen, b) in dem Nebeneinanderstellen von Prinzip und Element, arche und stoicheion, wird gesagt, dass etwas vom Unendlichen Bestandteil der Dinge sei und c) in dem letzten Satz, der bei Diels gesperrt gedruckt ist, liegt eine Ahnung von dem Gesetz der Erhaltung der Energie. Jedes Entstehende entsteht auf Kosten anderer und büsst dafür durch seinen Untergang.

Wie aus dem Urstoff, dem Unendlichen, die vier Elemente hervorgegangen, darüber fehlen bestimmte Angaben. Nach Aristoteles und Theophrast scheint das Apeiron qualitätslos gedacht und die Elemente sind durch Bewegung ausgeschieden. Zuerst trennten sich das Warme und Kalte, wie etwa Glas- und Harz-Elektrizität durch Reibung. Zum Unterschiede von Thales hat Anaximander den ernsthaften Versuch gemacht den Kosmos und die Naturerscheinungen wissenschaftlich zu erklären, dabei bekunden die Angaben, dass er die Schiefe der Ekliptik gekannt habe und die Gestirne als Götter betrachtet, Babylonischen Einfluss. — Die Erde selbst dachte er sich in Form eines Cylinders, dessen Höhe 1/3 des Durchmessers, im Mittelpunkte des Kosmos ruhend, vermutlich infolge einer Ahnung der sich gegenseitig aufhebenden Wirkungen, denn der Kosmos ist bei ihm vielleicht zuerst als Kugel gedacht. Geworden ist die Erde infolge der fortgesetzten Austrocknung durch das umgebende Feuer, insbesondere die Sonne, weshalb auch die Meere allmählich austrocknen. (Aristoteles Meteorol. II, 1, 353b 6). Aus dem Urschlamm sind dann durch die belebende Wirkung der Sonne die Organismen entstanden, und hier ist also diese Wandlung der Sonnenenergie zuerst verwertet. Mit das interessanteste ist, dass, wie Zeller zuerst hervorgehoben, Anaximander als Vorläufer Darwins angesehen werden kann. Er wies darauf hin, dass ein so hilfloses Wesen wie das Menschenkind sofort hätte zugrunde gehen müssen und so meinte er, dass die Menschen sich aus alligatorähnlichen Tieren entwickelt hätten (was ja so manchen Zug in der Menschennatur erklären würde) bis ihre Entwicklung soweit gediehen, dass sie ihre Panzer abwerfen und am Lande leben konnten.

Aristoteles erwähnt in der historischen Übersicht in der Metaphysik den grössten der Physiologen nicht, sein Apeiron passt eben in keine der vier Archai des Kapitel III, obwohl das Wort von ihm herrührt, aber der ausserordentliche Fortschritt gegen Thales ist dem Aristoteles nicht entgangen. Die grossen Probleme der Materie und der Substanz sind hier in voller Deutlichkeit erfasst, um nie wieder aus der Philosophie zu verschwinden, und in seinem Apeiron ist noch vor den Pythagoreern der Versuch gemacht vom unmittelbar gegebenen Stoff zu abstrahieren und ihn durch eine gedankliche Hypothese zu ersetzen. Das Apeiron des Anaximander ist eine der Quellen der Pythagoreischen Kosmogonie. Nicht minder wichtig ist die eigentümliche theologisch-poetische Bewegung welche man als Orphische bezeichnet, für deren Verständnis ich Erwin Rohdes klassischer »Psyche« (1894) den meisten Dank schulde. Das Jahrhundert von 620 etwa bis 520 kann man als die griechische Sturm- und Drangperiode bezeichnen. Neben jonischen Denkern ein nicht minder stürmischer Drang nach religiöser Vertiefung. Die eleusynischen Mysterien, deren Inhalt der Unsterblichkeitsgedanke oder richtiger das Fortleben der Seele nach dem Tode bildete, gewannen zahlreiche Teilnehmer aus dem ganzen Hellas und es entwickelte sich eine philosophisch-theologische Spekulation welche zu einem abgeschlosseneren systematischeren Kultus führte, als ihn die vielfach lokalisierte Volksreligion darbot, eben die Orphik.

Die Orphiker, nach dem durch die Sage von Orpheus in der Unterwelt bekannten Thrakischen Sänger benannt, verehrten auch Thrakiens Gott den Bakchos oder Dionysos. Das älteste Zeugnis über sie gibt Herodot (2, 81) der die Übereinstimmung ägyptischer Priester-Vorschriften mit den »orphischen und bakchischen« Geheimdiensten hervorhebt, die in Wahrheit ägyptisch und pythagoreisch seien, d. h. nach ägyptischem Vorbilde von Pythagoras eingeführt seien, etwa um die Mitte des 6. Jahrhunderts. Orphische Gemeinden bildeten sich in Griechenland und Gross-Griechenland (Unteritalien) mit ganz festen heiligen Schriften und festem Kult. Rohde sagt: »Die Verbindung von Religion und einer halbphilosophischen Spekulation war eine kennzeichnende Eigentümlichkeit der Orphiker und ihrer Schriftsteller,« von denen ich als den wichtigsten Pherekydes von der Insel Syros erwähne, bekannt durch seine Theologia, einem Seitenstück zu der Hesiod Theogonie. Die ganze Lehre trägt einen allegorischen Charakter, ich erwähne nur den Abschluss.

Am Ende der sich in Geschlechterfolge entwickelnden Götterreihe steht der Sohn des Zeus und der Persephone, Dionysos, der als Unterweltgott Zagreus genannt ist. Der Name bedeutet »starker Jäger«, — das ζα ist eine Nebenform von δια welches in der Komposition gleich dem lateinischen per die Bedeutung des Simplex tunlichst verstärkt — und bezieht sich auf den Tod, den Hades. Dem Zagreus hat Zeus (Zas) schon als Kind die Herrschaft über die Welt anvertraut, ihn überfallen die Feinde des Zeus und der sittlichen Ordnung, die Titanen und nach heftigen Kampfe wird er zerrissen. Nur das Herz rettet Athene, überbringt es dem Zeus, der es verschlingt. Aus ihm entspringt der neue Dionysos, des Zeus und der Semele Sohn, in dem Zagreus wieder auflebt. Die Titanen stellen die Urkraft der Bösen dar, sie zerrissen den Einen in viele Teile, durch Frevel breitet sich das Eine, die Gottheit, in die Vielheit der Dinge dieser Welt aus (Anaximander!). Aber die Gottheit entsteht wieder als Einheit im Dionysos. Zeus zerschmettert die Titanen durch seinen Blitzstrahl, aus ihrer Asche entsteht das Geschlecht der Menschen, die also ihrem Ursprung nach eine Spottgeburt von Dreck und Feuer sind, von Gutem aus Zagreus, von Bösem aus dem Titanischen Elemente. Damit ist dem Menschen sein Weg vorgezeichnet, er soll sich von dem titanischen Elemente befreien und zurückkehren zu Gott von dem ein Teil in ihm lebendig ist. Oder was dasselbe, der Mensch soll sich frei machen von den Banden des Körpers in dem die Seele gefesselt ist wie in einem Kerker. Aber der Weg ist lang, der Tod trennt zwar Seele und Körper, aber die Seele, die beim Austritt aus ihrem Leibe frei in der Luft schwebt, wird in einen neuen Körper eingeatmet und so durchwandelt sie den weiten Kreis der Notwendigkeit. Ja sie kann sogar wie ein periodischer Dezimalbruch immer dieselben Zustände in derselben Reihenfolge durchlaufen. Nur eine Hilfe gibt es, die Askese in der gänzlichen Versenkung in die Gottheit.

Wie man sieht sind zeitlich und inhaltlich die indischen buddhistischen Einflüsse unverkennbar. Pythagoras nun trat, Rohde zufolge, dem ich völlig beipflichte, in die orphische Gemeinde von Kroton, die er reformierte. Und zwar ist der Modus der stets befolgte und einzig Erfolg verheissende, die Sitten, Gebräuche, den Kult liess er unangetastet, die Dogmatik änderte er; Askese, Seelenwanderung, ja Musik und Heilkunst übernahm er von den Orphikern.

Die ursprüngliche Lehre selbst zu erkennen, wird dadurch erschwert, dass wir den Pythagoreismus zuerst in der verhältnismässig späten Darstellung des Philolaos besitzen. Philolaos aber zeigt nicht nur den Einfluss des Anaximander und zwar positiv im Apeiron und negativ in der Betonung der Einzigheit des Kosmos, sondern auch den des Heraklit für die Rolle die das Feuer im Kosmos, einem pythagoreischen Ausdruck, spielt. Dass Heraklit in Unteritalien schon kurz nach 500 bekannt war, ist ja erwiesen. Aber auch die vier Elemente des Empedokles und Momente aus der Weltschöpfung des Anaxagoras nahm Philolaos auf. Ob das formgebende Prinzip oder der ordnende Nous von einem Zentralpunkt dynamisch wirken, ist dasselbe. Allerdings lagen dem Aristoteles vermutlich auch noch ältere Quellen als Philolaos vor. Was nun die sehr dankenswerte Dissertation von W. Bauer (1897) betrifft, so scheint mir die Argumentation etwas durch die vorgefasste Meinung des Verfassers beeinflusst, der die Quellen je nach dieser wertet, um z. B. gegen Zeller einen eignen pythagoreischen Gott zu konstruieren, der dann von dem Nous des Anaxagoras nicht wesentlich verschieden wäre. Von Aristoteles nimmt er weg, Syrion und Stobaios legt er zu, das umfassende Feuer ist keineswegs als ein zusammenfassendes gekennzeichnet, periecho ist nicht synecho, und die »Lauterkeit der Elemente« selbst bezieht sich nicht auf Materie und Form sondern auf die vier Elemente selbst. Das umgebende Feuer erklärt sich einerseits durch die Auszeichnung die Anfang und Ende besitzen und »Anfang und Ende reichen einander die Hände«. Das von der zentralen Hestia zur Erhaltung des Kosmos verbrauchte Feuer wird von da aus ersetzt, durch den »Atemzug des Weltalls«.

Darin pflichte ich Herrn Bauer bei, dass die Betonung der Gegensätze, die orphisch ist, vielleicht das ursprüngliche ist. Man muss aber unterscheiden zwischen dem Apeiron, dem Peras und dem Perainon, d. h. zwischen Stoff und Form und Formgebung und das formgebende Prinzip, die Seele wie des Menschen so der Welt, ist, wenn man das Wort brauchen will, der eigentliche »Gott« der Pythagoreer, nämlich die Harmonie, welche die Gegensätze zur Vereinigung zwang und darin erhält. Auch für sie lagen orphische vielleicht auch Heraklitische Anregungen vor.

Von der Harmonie zur Zahlenlehre der Aristotelischen Darstellung ist aber nur ein kleiner Sprung, denn wenn die Ordinalzahl, wie ich an anderer Stelle gesagt habe, der major domus der Zeit ist, so ist es die relative, die Verhältniszahl, für die Harmonie, die eben nur in Verhältniszahlen zum Ausdruck kommt. Die Erfindung des Monochords ist von diesem Prinzip geleitet worden; jedes Kind, das an einer Saite klimpert, weiss, dass die kürzere den helleren Ton gibt, aber nur wer den Gedanken erfasst hat, dass die Harmonie in Zahlenverhältnissen ihre Objektivierung finden muss, wird versuchen messend einfache Verhältnisse herzustellen. So sind es die Pythagoreer, die sicher noch vor Platon die Bedeutung der relativen Zahl erkannt haben, und hier liegt vielleicht ihr grösstes Verdienst um die Mathematik. Hiermit hängt auch die ihnen eigentümliche Auffassung der Einheit zusammen, die keine Zahl ist, wie wir das ja noch in den Rechenbüchern des 18. Jahrh. nach Chr. lesen können, sondern eine Grösse, und ich weise hier auf den Zusammenhang mit Galilei hin und auf die Stelle Aristoteles Metaph. XIII 6, 1080, 6, 16.

Zum Schluss noch ein paar Worte über das »Kenon,« das Leere, der Pythagoreer, denn hier liegt die Grundlage für den wichtigen Begriff des »μή ὄν« des Nichtseienden, das schliesslich bei Demokrit und Platon geradezu positiven oder besser konstruktiven Inhalt empfängt.

Dieses Leere scheint mir nichts anderes zu sein als eine Vermischung von Zeit und Raum, die im »Kenon« zwar noch ungeschieden, aber doch schon als Sonderungsprinzipien (principia individuationis nach Schopenhauer) erkannt sind. Sie werden aus dem Apeiron jenseits der zehnten Sphäre, der des umgebenden Feuers, eingesogen um die im Kosmos zur ordnungsgemässen Trennung und Bewegung der Sphären verbrauchte Zeit und Raum zu ersetzen. Die Polemik des Parmenides gegen das Nichtseiende ist also noch mehr gegen die Pythagoreer als gegen Heraklit gerichtet, denn sie ist gegen Zeit und Raum und Bewegung gerichtet. Aber dieses Kenon, dieses me on ist dann von Demokrit aufgenommen, der in dem Leeren der Pythagoreer, den Poren des Empedokles und den unzählig vielen unendlich kleinen Elementen des Anaxagoras die Bausteine fand, aus denen er mittelst der Differentiale der Masse, des Raumes und der Bewegung, die unerschütterlichen Grundlagen der physikalisch-chemischen oder richtiger der mathematischen Naturbeschreibung geschaffen hat.

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