Um die starke Betonung der Hellenischen Philosophie zu motivieren, möchte ich hier nachträglich noch den folgenden Eröffnungsvortrag hinzufügen.
Meine Herren! Wenn ich Hellenische Philosophie und Mathematik gewissermassen in einen Begriff zusammengezogen habe, analog dem Mittelalterlichen Musica et Arithmetica, so rechtfertigt sich dies dadurch, dass gerade in der schöpferischen Periode der griechischen Philosophie und Mathematik, von Thales an bis Aristoteles eingeschlossen, die beiden Wissenschaften nicht getrennt werden können und grade für die Elementare Mathematik, — ich möchte sie die bildende Mathematik nennen — meines Erachtens nach bis auf den heutigen Tag nicht getrennt werden dürfen.
Wenn ich nun systematischer Philosoph wäre, so müsste ich damit beginnen Ihnen des längeren und breiteren auseinanderzusetzen, was Philosophie ist, aber m. H., in Scheffels Ekkehard sagt der Hunnenführer auf die Frage was Philosophie sei: es ist auf hunnisch schwer zu erklären. So will auch ich mich kurz fassen und nur sagen, dass ich in der Philosophie die Methode sehe die Welt der äusseren und inneren Erfahrung in ihrer Notwendigkeit zu begreifen, oder wie Spinoza sagt, diese Welt zu erfassen sub specie aeterni. H. Cohen bezeichnet in seiner grossartigen Ethik des reinen Willens von 1901, welche in 5 Jahren die zweite Auflage erlebt hat, die Aufgabe der Philosophie dahin: die Wissenschaft selbst und die Kultur überhaupt zum Verständnis ihrer Voraussetzung zu bringen. Dabei ist unter Kultur allerdings etwas anderes zu verstehen als die »Bezwingung der rohen Energie der Natur für die Nutzbarmachung unserer Kräfte«. Kultur ist viel mehr; alle drahtlose Telegraphie, Röntgenstrahlen und Luftballons, geben noch keine Gesittung, welche im wesentlichen in der Freimachung der ethischen Werte besteht, darin, dass im einzelnen, und gerade über je mehr Kräfte er verfügt um so stärker, das Bewusstsein seiner Verantwortlichkeit der Allgemeinheit gegenüber, gegenüber dem Staate und der Menschheit geweckt und ausgebildet wird.
Der von mir betonte Gesichtspunkt der Notwendigkeit, das Streben nach zwingender Folgerichtigkeit, ist es gerade was Mathematik und Philosophie verbindet, und von Anfang bis Ende die Mathematik zum Hauptgegenstand philosophischer Betrachtung gemacht hat, wenigstens soweit es sich um den ältesten ihrer Hauptzweige, die Erkenntnistheorie handelt. Erst viel später hat sich die Methode, das heisst die Zusammenfassung grosser Gruppen von Erkenntnissen unter einen Gesichtspunkt, den Trieben und Gesetzen des menschlichen Handelns zugewandt, es musste erst die Theorie der Unsittlichkeit, wie sie von den Sophisten ausgebildet war, praktisch in dem Regiment der 30 Tyrannen und theoretisch durch Sokrates zerstört werden, es musste und zwar zumeist bei den Römern eine juristische Wissenschaft erwachsen, ehe eine systematische Philosophische Ethik, insbesondere bei den Stoikern möglich wurde. Freilich findet sich eine wissenschaftliche Behandlung der Ethik, die sich aber nur auf einzelne Fragen, wie Tugend, Gerechtigkeit, Freundschaft bezieht, schon bei Platon und nicht minder bei Aristoteles und vor beiden schon bei Demokrit. Was uns von den sogenannten 7 Weisen — es sind ihrer beiläufig gesagt, wenn man nachzählt 22 — überliefert ist, sind meistens sprichwörtliche oder besser »geflügelte« Worte, welche sich auf vernunftgemässes praktisches Handeln beziehen, wie das bekannte des Chilon oder Solon »μηδέν άγαν, Alles mit Mass«; und »Ηρεμια χρω, Nutze die Zeit;« das Delphische »γνωθι σαυτον, Erkenne dich selbst.« »Mit der Notwendigkeit kämpfen auch die Götter vergebens.« (Schiller hat die Anagke durch die »Dummheit« ersetzt, die ja auch Zwangsvorstellungen liefert). Periander und Hesiod haben beide den Spruch geliefert: das Halbe ist mehr als das Ganze, was besonders für Festreden zu beherzigen wäre. Aber auch die grossen Dichter der Hellenen wie Homer und besonders Hesiod erkannten es an, dass der Mensch zum Unterschied vom Tier sittlichen Gesetzen untertan sei. Ich zitiere nach der Übersetzung von F. Blass aus Hesiod die Stelle:
Also hat ja den Menschen bestimmt der Kronide die Satzung: Zwar den Fischen und Tieren des Felds und geflügelten Vögeln Setzt er einander zu fressen, denn Recht ist nicht unter ihnen. Aber den Menschen verlieh er das Recht.
Der dritte Zweig der Philosophie ist ganz modern, die Philosophie der Kunst, welche die allgemeinen und notwendigen Gesetze des Ästhetisch-Wirksamen aufzustellen hat. Die Poëtik des Aristoteles ist eigentlich mehr eine Technologie für den Dichter, der Laokoon Lessings legt praktisch den Unterschied zwischen der bildenden und beschreibenden Kunst fest. Erst bei Kant, Schiller, der gerade hier seine selbständige Stellung als Philosoph, Vischer und vor allem bei Schopenhauer haben wir eine reine Ästhetik.
Hängen Mathematik und Philosophie in und durch den Trieb ihren Gegenstand unter dem Gesichtspunkt der Notwendigkeit zu fassen, also so recht in der Wurzel zusammen, so sehen wir beide in ihren Anfängen mit der Theologie auf das innigste verwachsen. Bei den Indern ist wie im europäischen Mittelalter, die Philosophie aus dieser Verbindung eigentlich nie gelöst worden, so tiefsinnig auch die philosophischen Gedanken gerade der indischen Theologen sind, da man den Buddhismus in seiner reinen Form eigentlich geradezu als ein philosophisches System bezeichnen könnte. Der Druck, den das Unendliche auf das Endliche ausübt, die Übermacht der kosmischen Erscheinungen, denen der Mensch hilflos, machtlos, gefesselt, religatus gegenübersteht, erzeugen das religere, die ehrfurchtsvolle Achtung, die Religion, und die Welt bevölkert sich mit Personifikationen der Naturkräfte, wie denn Zeus, der Nationalgott der Hellenen, wie ursprünglich aller Arier, die Personifikation des Tageslichtes ist. Bei den rohen Naturvölkern wie z. B. auch ursprünglich bei den Ägyptern entwickelt sich der Fetischdienst, dann bei den begabteren eine Mythologie und im Laufe der Zeit eine Theologie, welche nichts anders ist als eine untrennbare Verbindung der Religion mit der Philosophie. Ich wage zu sagen, dass die Religion bis auf den heutigen Tag die einzige Form ist, in der die ethischen Errungenschaften der Philosophie dem Volke nutzbar gemacht werden können, von den 10 Geboten der Israeliten, dem tat twam asi, dieses [Andere] bist du, der Inder, bis zu dem »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« des Christentums. Und auch für die Mathematik, die angewandte wie die reine, ist der mit der Ausbildung der Theologie sich entwickelnde Gottesdienst von höchster Bedeutung gewesen, Kultus und Kultur sind nicht nur wortverwandt. Der Dienst der die Welt regierenden Gottheit, die Formen in denen der Mensch seine Unterwerfung unter die Götter zum Ausdruck bringt, ihre Gunst zu erringen, ihren Zorn abzuwenden sucht, Opfer und Gebet, sind hervorgerufen durch die unbewusste Erkenntnis, dass der einzelne und wäre er der König der Allheit untersteht, und in eben dieser Erkenntnis sahen wir das Wesen des Sittlichen. Der Tempel der Gottheit muss orientiert werden, das Eigentum das sie schützt, wenn es im Schweisse des Angesichts erworben (Gesetze des Manu), muss abgegrenzt, vermessen werden. Die Astronomie der Babylonier steht in engster Beziehung zur religiösen Verehrung der Gestirne, die wichtigen Probleme der Flächenmessung und Vervielfältigung und der Würfelverdoppelung knüpfen bei Indern und Griechen unmittelbar an das Opfer an, ebenso wie das arithmetische Problem der Zahlenzerlegung in Quadrate ein uralt chaldäisches ist, das mit der Zahlenmystik, selbst ein Ausfluss astrologischen Kultus, gesetzt ist.
Eine weitere Verbindung zwischen Philosophie, Mathematik und Theologie besteht in ihrer gemeinsamen Beziehung zu Poesie und Kunst. Die älteste Poesie ist die religiöse, die Veden, die Edda, die Hymnen Homers, die Psalmen der Hebräer. Andrerseits haben Homer und Hesiod den Griechen zwar nicht ihre Götter aber doch ihren Olymp gegeben. Und an die religiösen Gedichte knüpfen die Lehrgedichte der Philosophen an, die schwungvolle Einleitung des Parmenideischen Lehrgedichts ist die Quelle von Goethes Zueignung. Ein grosser Dichter ist ohne eine grosse einheitliche Weltanschauung überhaupt nicht denkbar, und wie es Dichter gab welche Philosophen waren, ich nenne Schiller und Shakespeare, hat es auch Philosophen gegeben, welche Dichter waren, wie Platon und Schopenhauer.
Ihrerseits steht auch die Mathematik, die reine wie die angewandte, in ganz direkter Beziehung zur dichterischen Phantasie und zur ästhetischen Schönheit. Ich sehe ganz von der grossen Bedeutung ab, welche Symmetrie und Eleganz für die Gebilde der Algebra und Geometrie haben, sondern verweise auf die Rolle, welche die schöpferische Phantasie für die Produktion der grossen Mathematiker gehabt und bemerke dass Perspektive und darstellende Geometrie von Künstlern wie Alberti, Leonardo, Dürer, für die Kunst geschaffen sind. Ich erinnere auch an Schiaparellis Ausspruch: Das Grundprinzip aller Astronomischen Systeme von Pythagoras bis Kopernikus ist die Überzeugung von der Schönheit und Einfachheit des Kosmos gewesen.
Und in der einzig dastehenden Befähigung für das Schöne liegt der Grund, warum gerade die Hellenische Philosophie und Mathematik der Träger der Bildung gewesen ist und sein wird. Wie die Hellenen politisch besiegt, das Barbarentum der Römer niedergezwungen, so hat in der Renaissance das erneute Hervorsprudeln der hellenischen Quellen das Mittelalter hinweggespült, und drei Jahrhunderte später ist es wieder das Hellenentum gewesen, welches verbunden mit dem tiefen sittlichen Ernst der Germanen im Neuhumanismus die seichte Periode, welche wir Aufklärungszeit nennen, überwunden hat, und ohne dass Kant und Goethe nicht zu verstehen sind. Denn auch die Schönheit der Wahrheit ist weder vorher noch nachher, je so tief empfunden worden, wie von dem Volke, für das das καλον καγαθον καλεθες, das Schöne, Gute, Wahre, ein einziger Begriff gewesen. Gerade in der Jetztzeit, in der die sich häufenden Entdeckungen auf physikalischem und chemischem Gebiete die Macht des Menschen und sein Selbstbewusstsein ins Ungemessene steigernd, eine rohe Anbetung des materiellen Genusses grossgezogen haben, da hat sich wieder der Hellenische Geist mächtig erhoben, der mit Platon, Aristoteles, Lessing das Streben nach der Wahrheit um der Wahrheit willen als das höchste als das befriedigendste Gut empfindet.
M. H.! Das Gesetz der Kontinuität, wie es nicht nur die griechische sondern jede Wissenschaft beherrscht, gilt auch für die Hellenische Kultur. Von Anfang an durch die grosse Küstenentwicklung und die vielen Häfen ihres Landes auf das völkerverbindende Meer hingewiesen, haben sie regsamsten Geistes von den Ägyptern und durch Vermittlung der Phönizier von den Babyloniern gelernt und den Einfluss des Orients auf allen Gebieten des Wissens und der Kunst erlitten, aber ebenso sicher ist es, dass sie diese Einflüsse von Anfang an selbständig verarbeiteten, »dass sie,« um mit Ostwald zu reden, »diese fremden Kulturen nicht kopierten«, wohl aber verwerteten. Insbesondere gilt diese Selbständigkeit für die Hellenische Philosophie und Mathematik. Die Philosophie anfänglich auf Naturerklärung gerichtet, nimmt schon mit Anaximander scharf den Weg zur Naturerkenntnis, die bei Demokrit ihren Höhepunkt erreicht, um mit Platon und Aristoteles die Erkenntnistheorie und Wissenschaftslehre überhaupt zu bemeistern. Aus Ägypten und Babylonien haben wir bisher keine Spur davon gefunden, dass der Menschengeist selbständig der Natur gegenübergetreten, die Semiten begnügen sich ihrer eminent religiösen Veranlagung nach mit der Tatsache: »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.« In Betracht könnten nur die Inder kommen, besonders die Vaisesikaphilosophie; aber m. E. liegt die Sache gerade umgekehrt, und sowohl der Atomismus derselben als z. B. die Einführung des Äther als fünftes Element, das die Schallwellen fortlenkt, sind Hellenischem Einfluss zuzuschreiben.
Die wichtigste Quelle für die Geschichte der Hellenischen Philosophie ist das erste Buch der Metaphysik des Aristoteles und für Mathematik der Kommentar des Proklos, besonders das sogenannte Mathematikerverzeichnis. Beide beginnen mit Thales dem Milesier, so beginnt denn die Geschichte der Philosophie wie der Mathematik mit Thales dem Jonier.