Friedrich Nietzsche charakterisiert sich selbst als einsamen Grübler und Rätselfreund, als unzeitgemäße Persönlichkeit. Wer auf solchen eigenen Wegen geht, wie er, „begegnet niemandem; das bringen die eigenen Wege mit sich. Niemand kommt, ihm dabei zu helfen; mit allem, was ihm von Gefahr, Zufall, Bosheit und schlechtem Wetter zustößt, muß er allein fertig werden“, sagt er in der Vorrede zur zweiten Ausgabe seiner „Morgenröte“. Aber reizvoll ist es, ihm in seine Einsamkeit zu folgen. Die Worte, die er über sein Verhältnis zu Schopenhauer ausgesprochen hat, möchte ich über das meinige zu Nietzsche sagen: „Ich gehöre zu den Lesern Nietzsches, welche, nachdem sie die erste Seite von ihm gelesen, mit Bestimmtheit wissen, daß sie alle Seiten lesen und auf jedes Wort hören werden, das er überhaupt gesagt hat. Mein Vertrauen zu ihm war sofort da ..... Ich verstand ihn, als ob er für mich geschrieben hätte, um mich verständlich, aber unbescheiden und thöricht auszudrücken.“ Man kann so sprechen und weit davon entfernt sein, sich als „Gläubigen“ der Nietzscheschen Weltanschauung zu bekennen. Weiter allerdings nicht, als Nietzsche davon entfernt war, sich solche „Gläubige“ zu wünschen. Legt er doch seinem „Zarathustra“ die Worte in den Mund:
„Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra? Aber was liegt an Zarathustra! Ihr seid meine Gläubigen: aber was liegt an allen Gläubigen!
„Ihr hattet euch noch nicht gesucht: da fandet ihr mich. So thun alle Gläubigen; darum ist es so wenig mit allem Glauben.
„Nun heiße ich euch, mich verlieren und euch finden; und erst, wenn ihr mich alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren.“
Nietzsche ist kein Messias und Religionsstifter; er kann deshalb sich wohl Freunde seiner Meinungen wünschen; Bekenner seiner Lehren aber, die ihr eigenes Selbst aufgeben, um das seinige zu finden, kann er nicht wollen.
In Nietzsches Persönlichkeit finden sich Instinkte, denen ganze Vorstellungskreise seiner Zeitgenossen zuwider sind. Von den wichtigsten Kulturideen derjenigen, in deren Mitte er sich entwickelt hat, wendet er sich ab mit einem instinktiven Widerwillen; und zwar nicht so, wie man eine Behauptung ablehnt, in der man einen logischen Widerspruch entdeckt hat, sondern wie man sich von einer Farbe abwendet, die dem Auge Schmerz verursacht. Der Widerwille geht von dem unmittelbaren Gefühl aus; die bewußte Überlegung kommt zunächst gar nicht in Betracht. Was andere Menschen empfinden, wenn ihnen die Gedanken: Schuld, Gewissensbiß, Sünde, jenseitiges Leben, Ideal, Seligkeit, Vaterland durch den Kopf gehen, wirkt auf Nietzsche unangenehm. Die instinktive Art der Abneigung gegen die genannten Vorstellungen unterscheidet Nietzsche auch von den sogenannten „Freigeistern“ der Gegenwart. Diese kennen alle Verstandeseinwände gegen die „alten Wahnvorstellungen“; aber wie selten findet sich einer, der von sich sagen kann: seine Instinkte hängen nicht mehr an ihnen! Gerade die Instinkte sind es, die den Freigeistern der Gegenwart böse Streiche spielen. Das Denken nimmt einen von den überlieferten Ideen unabhängigen Charakter an, aber die Instinkte können sich diesem veränderten Charakter des Verstandes nicht anpassen. Diese „freien Geister“ setzen irgend einen Begriff der modernen Wissenschaft an die Stelle einer älteren Vorstellung; aber sie sprechen so von ihm, daß man erkennt: der Verstand geht einen andern Weg als die Instinkte. Der Verstand sucht in dem Stoffe, in der Kraft, in der Naturgesetzlichkeit den Urgrund der Erscheinungen; die Instinkte aber verleiten dazu, diesen Wesen gegenüber dasselbe zu empfinden, was andere ihrem persönlichen Gotte gegenüber empfinden. Geister dieser Art wehren sich gegen den Vorwurf der Gottesleugnung; aber sie thun es nicht deshalb, weil ihre Weltauffassung sie auf etwas führt, was mit irgend einer Gottesvorstellung übereinstimmt, sondern weil sie von ihren Vorfahren die Eigenschaft ererbt haben, bei dem Worte „Gottesleugner“ ein instinktives Gruseln zu empfinden. Große Naturforscher betonen, daß sie die Vorstellungen: Gott, Unsterblichkeit nicht verbannen, sondern nur im Sinne der modernen Wissenschaft umgestalten wollen. Ihre Instinkte sind eben hinter ihrem Verstande zurückgeblieben.
Eine große Zahl dieser „freien Geister“ vertritt die Ansicht, daß der Wille des Menschen unfrei ist. Sie sagen: der Mensch muß in einem bestimmten Falle so handeln, wie es sein Charakter und die auf ihn einwirkenden Verhältnisse bedingen. Man halte aber Umschau bei diesen Gegnern der Ansicht vom „freien Willen“, und man wird finden, daß sich die Instinkte dieser „Freigeister“ von dem Vollbringer einer „bösen“ That geradeso mit Abscheu abwenden, wie es die Instinkte der anderen thun, die der Meinung sind: der „freie Wille“ könne sich nach Belieben dem Guten oder dem Bösen zuwenden.
Der Widerspruch zwischen Verstand und Instinkt ist das Merkmal unserer „modernen Geister“. Auch in den freiesten Denkern der Gegenwart leben noch die von der christlichen Orthodoxie gepflanzten Instinkte. Genau die entgegengesetzten sind in Nietzsches Natur wirksam. Er braucht nicht erst darüber nachzudenken, ob es Gründe gegen die Annahme eines persönlichen Weltenlenkers giebt. Sein Instinkt ist zu stolz, um sich vor einem solchen zu beugen; deshalb lehnt er eine derartige Vorstellung ab. Er spricht mit seinem Zarathustra: „Aber daß ich euch ganz mein Herz offenbare, ihr Freunde: wenn es Götter gäbe, wie hielte ich’s aus, kein Gott zu sein! Also giebt es keine Götter.“ Sich selbst oder einen andern wegen einer begangenen Handlung „schuldig“ zu sprechen, dazu drängt ihn nichts in seinem Innern. Um ein solches „schuldig“ unstatthaft zu finden, dazu braucht er keine Theorie vom „freien“ oder „unfreien“ Willen.
Auch die patriotischen Empfindungen seiner deutschen Volksgenossen sind Nietzsches Instinkten zuwider. Er kann sein Empfinden und Denken nicht abhängig machen von den Gedankenkreisen des Volkes, innerhalb dessen er geboren und erzogen ist; auch nicht von der Zeit, in der er lebt. „Es ist so kleinstädtisch — sagt er in seiner Schrift „Schopenhauer als Erzieher“ —, sich zu den Ansichten verpflichten, die ein paar hundert Meilen weiter schon nicht mehr verpflichten. Orient und Occident sind Kreidestriche, die uns jemand vor unsere Augen hinmalt, um unsere Furchtsamkeit zu narren. Ich will den Versuch machen, zur Freiheit zu kommen, sagt sich die junge Seele; und da sollte es sie hindern, daß zufällig zwei Nationen sich hassen und bekriegen, oder daß ein Meer zwischen zwei Weltteilen liegt, oder daß rings um uns eine Religion gelehrt wird, welche vor ein paar tausend Jahren nicht bestand.“ Die Empfindungen der Deutschen während des Krieges im Jahre 1870 fanden in seiner Seele einen so geringen Widerhall, daß er, „während die Donner der Schlacht von Wörth über Europa weggingen“, in einem Winkel der Alpen saß, „sehr vergrübelt und verrätselt, folglich sehr bekümmert und unbekümmert zugleich“, und seine Gedanken über die Griechen niederschrieb. Und als er einige Wochen darauf sich selbst „unter den Mauern von Metz“ befand, war er „noch immer nicht losgekommen von den Fragezeichen, die er zum Leben und der Kunst der Griechen gesetzt hatte“. (Vergl. „Versuch einer Selbstkritik“ in der zweiten Auflage seiner „Geburt der Tragödie“.) Als der Krieg zu Ende war, stimmte er so wenig in die Begeisterung seiner deutschen Zeitgenossen über den errungenen Sieg ein, daß er schon im Jahre 1872 in seiner Schrift über David Strauß von den „schlimmen und gefährlichen Folgen“ des siegreich beendeten Kampfes sprach. Er stellte es sogar als einen Wahn hin, daß auch die deutsche Kultur in diesem Kampfe gesiegt habe, und er nannte diesen Wahn gefährlich, weil, wenn er innerhalb des deutschen Volkes herrschend wird, die Gefahr vorhanden ist, den Sieg in eine völlige Niederlage zu verwandeln; in die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des „Deutschen Reiches“. Das ist Nietzsches Gesinnung in einer Zeit, in der ganz Europa voll ist von nationaler Begeisterung. Es ist die Gesinnung einer unzeitgemäßen Persönlichkeit, eines Kämpfers gegen seine Zeit. Außer dem Angeführten ließe sich noch vieles nennen, was in Nietzsches Empfindungs- und Vorstellungsleben anders ist, als in dem seiner Zeitgenossen.