Nietzsche ist kein „Denker“ im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Für die fragwürdigen und tiefdringenden Fragen, die er der Welt und dem Leben gegenüber zu stellen hat, reicht das bloße Denken nicht aus. Für diese Fragen müssen alle Kräfte der menschlichen Natur entfesselt werden; die denkende Betrachtung allein ist ihnen nicht gewachsen. Zu bloß erdachten Gründen für eine Meinung hat Nietzsche kein Vertrauen. „Es giebt ein Mißtrauen in mir gegen Dialektik, selbst gegen Gründe,“ schreibt er am 2. Dezember 1887 an Georg Brandes. (Vergl. dessen „Menschen und Werke“, S. 212). Wer ihn um die Gründe seiner Ansichten fragt, für den hat er „Zarathustras“ Antwort bereit: „Du fragst warum? Ich gehöre nicht zu denen, welche man nach ihrem Warum fragen darf.“ Nicht ob eine Ansicht logisch bewiesen werden kann, ist für ihn maßgebend, sondern ob sie auf alle Kräfte der menschlichen Persönlichkeit so wirkt, daß sie für das Leben Wert hat. Er läßt einen Gedanken nur gelten, wenn er ihn geeignet findet, zur Entwicklung des Lebens beizutragen. Den Menschen so gesund als möglich, so machtvoll als möglich, so schöpferisch als möglich zu sehen, ist sein Wunsch. Wahrheit, Schönheit, alle Ideale haben nur Wert und gehen den Menschen nur etwas an, insofern sie lebenfördernd sind.
Die Frage nach dem Werte der Wahrheit tritt in mehreren Schriften Nietzsches auf. In der verwegensten Form wird sie in seinem Buche: „Jenseits von Gut und Böse“ gestellt. „Der Wille zur Wahrheit, der uns noch zu manchem Wagnisse verführen wird, jene berühmte Wahrhaftigkeit, von der alle Philosophen bisher mit Ehrerbietung geredet haben: was für Fragen hat dieser Wille zur Wahrheit uns schon vorgelegt! Welche wunderlichen, schlimmen, fragwürdigen Fragen! Das ist bereits eine lange Geschichte — und doch scheint es, daß sie kaum eben angefangen hat.“ Was Wunder, wenn wir endlich auch mißtrauisch werden, die Geduld verlieren, uns ungeduldig umdrehn? Daß wir von dieser Sphinx auch unsererseits das Fragen lernen? Wer ist das eigentlich, der uns hier Fragen stellt? Was in uns will eigentlich ‚zur Wahrheit‘? In der That, wir machten lange Halt vor der Frage nach der Ursache dieses Willens — bis wir, zuletzt, vor einer noch gründlicheren Frage ganz und gar stehen blieben. Wir fragten nach dem Werte dieses Willens. Gesetzt, wir wollen Wahrheit: warum nicht lieber Unwahrheit?
Das ist ein Gedanke von kaum zu überbietender Kühnheit. Stellt man daneben, was ein anderer kühner „Grübler und Rätselfreund“, Johann Gottlieb Fichte, von dem Streben nach Wahrheit sagt, so sieht man erst, wie tief aus dem Wesen der menschlichen Natur Nietzsche seine Vorstellungen heraufholt. „Ich bin dazu berufen“ — sagt Fichte — „der Wahrheit Zeugnis zu geben; an meinem Leben und an meinem Schicksal liegt nichts; an den Wirkungen meines Lebens liegt unendlich viel. Ich bin ein Priester der Wahrheit; ich bin in ihrem Solde; ich habe mich verbindlich gemacht, alles für sie zu thun und zu wagen und zu leiden.“ (Fichte, Vorlesungen „Über die Bestimmung des Gelehrten“, vierte Vorlesung.) Diese Worte sprechen das Verhältnis aus, in das sich die edelsten Geister der abendländischen neueren Kultur zur Wahrheit setzen. Nietzsches angeführtem Ausspruch gegenüber erscheinen sie oberflächlich. Man kann gegen sie einwenden: Ist es denn nicht möglich, daß die Unwahrheit wertvollere Wirkungen für das Leben hat, als die Wahrheit? Ist es ausgeschlossen, daß die Wahrheit dem Leben schadet? Hat sich Fichte diese Fragen gestellt? Haben es andere gethan, die „der Wahrheit Zeugnis“ gegeben haben?
Nietzsche aber stellt diese Fragen. Und er glaubt über sie erst dann ins Reine zu kommen, wenn er das Streben nach Wahrheit nicht als bloße Verstandessache behandelt, sondern nach den Instinkten sucht, die dieses Streben erzeugen. Denn es könnte ja wohl sein, daß sich diese Instinkte der Wahrheit nur als Mittel bedienten, um etwas zu erreichen, was höher steht, als die Wahrheit. Nietzsche findet, nachdem er „lange genug den Philosophen zwischen die Zeilen und auf die Finger gesehn“ hat: „Das meiste Denken eines Philosophen ist durch seine Instinkte heimlich geführt und in bestimmte Bahnen gezwungen.“ Die Philosophen glauben, die letzte Triebfeder ihres Thuns sei das Streben nach Wahrheit. Sie glauben dies, weil sie nicht auf den Grund der menschlichen Natur zu sehen vermögen. In Wirklichkeit wird das Streben nach Wahrheit gelenkt von dem Willen zur Macht. Mit Hilfe der Wahrheit soll die Macht und Lebensfülle der Persönlichkeit erhöht werden. Das bewußte Denken des Philosophen ist der Meinung: die Erkenntnis der Wahrheit sei ein letztes Ziel; der unbewußte Instinkt, der das Denken treibt, strebt nach Förderung des Lebens. Für diesen Instinkt ist „die Falschheit eines Urteils noch kein Einwand gegen ein Urteil“; für ihn kommt allein die Frage in Betracht: „wie weit ist es lebenfördernd, lebenerhaltend, arterhaltend, vielleicht gar artzüchtend“ (Jenseits von Gut und Böse § 4).
„‚Wille zur Wahrheit‘ heißt ihr’s, ihr Weisesten, was euch treibt und brünstig macht?
„Wille zur Denkbarkeit alles Seienden: also heiße ich euren Willen!
„Alles Seiende wollt ihr erst denkbar machen: denn ihr zweifelt mit gutem Mißtrauen, ob es schon denkbar ist.
„Aber es soll sich euch fügen und biegen! So will’s euer Wille. Glatt soll es werden und dem Geiste unterthan, als sein Spiegel und Widerbild.
„Das ist euer ganzer Wille, ihr Weisesten, als ein Wille zur Macht .....“ (Zarathustra, 2. Teil, Von der Selbst-Überwindung.)
Die Wahrheit soll die Welt dem Geiste unterthan machen und dadurch dem Leben dienen. Nur als Lebensbedingung hat sie einen Wert. — Kann man nicht aber noch weiter gehen und fragen: was ist das Leben selbst wert? Nietzsche hält eine solche Frage für unmöglich. Daß alles Lebende so machtvoll, so inhaltreich leben will, als irgend möglich ist, nimmt er als eine Thatsache hin, über die er nicht weiter grübelt. Die Lebensinstinkte fragen nicht nach dem Werte des Lebens. Sie fragen nur: welche Mittel giebt es, um die Macht ihres Trägers zu erhöhen. „Urteile, Werturteile über das Leben, für oder wider, können zuletzt niemals wahr sein: sie haben nur Wert als Symptome, sie kommen nur als Symptome in Betracht, — an sich sind solche Urteile Dummheiten. Man muß durchaus seine Finger darnach ausstrecken und den Versuch machen, die erstaunliche Finesse zu fassen, daß der Wert des Lebens nicht abgeschätzt werden kann. Von einem Lebenden nicht, weil ein solcher Partei, ja sogar Streitobjekt ist, und nicht Richter; von einem Toten nicht, aus einem andern Grunde. — Von seiten eines Philosophen im Wert des Lebens ein Problem sehn, bleibt dergestalt sogar ein Einwurf gegen ihn, ein Fragezeichen an seiner Weisheit, eine Unweisheit.“ — (Götzendämmerung. Das Problem des Sokrates.) Die Frage nach dem Werte des Lebens existiert nur für eine mangelhaft ausgebildete, kranke Persönlichkeit. Wer allseitig entwickelt ist, lebt, ohne zu fragen, wie viel sein Leben wert ist.
Weil Nietzsche die beschriebenen Ansichten hat, deshalb legt er auf logische Beweisgründe für ein Urteil wenig Gewicht. Nicht darauf kommt es ihm an, ob sich das Urteil logisch beweisen läßt, sondern wie gut sich unter seinem Einflusse leben läßt. Nicht allein der Verstand, sondern die ganze Persönlichkeit des Menschen soll befriedigt werden. Die besten Gedanken sind diejenigen, welche alle Kräfte der menschlichen Natur in eine ihnen angemessene Bewegung bringen.
Nur Gedanken dieser Art haben für Nietzsche Interesse. Er ist kein philosophischer Kopf, sondern ein „Honigsammler des Geistes“, der die „Bienenkörbe“ der Erkenntnis aufsucht und heimzubringen sucht, was dem Leben frommt.