16.

Was für Ideale haben sie doch geschaffen, diese Verächter der Wirklichkeit! Fassen wir sie ins Auge, die Ideale der Asketen, die da sagen: wendet ab euren Blick vom Diesseits und schaut nach dem Jenseits! Was bedeuten asketische Ideale? Mit dieser Frage und den Vermutungen, mit denen er sie beantwortet, hat uns Nietzsche am tiefsten hineinblicken lassen in sein von der abendländischen neueren Kultur unbefriedigtes Herz. (Genealogie der Moral, 3. Abteilung.)

Wenn ein Künstler, wie z. B. Richard Wagner in der letzten Zeit seines Schaffens, Anhänger des asketischen Ideales wird, so hat das nicht viel zu bedeuten. Der Künstler steht sein ganzes Leben hindurch über seinen Schöpfungen. Er sieht von oben herab auf seine Wirklichkeiten. Er schafft Wirklichkeiten, die nicht seine Wirklichkeit sind. „Ein Homer hätte keinen Achill, ein Goethe keinen Faust gedichtet, wenn Homer ein Achill, und wenn Goethe ein Faust gewesen wäre.“ (Genealogie, 3. Abt. § 4.) Wenn nun ein solcher Künstler sein eigenes Dasein einmal ernst nimmt, sich selbst und seine persönlichen Ansichten in Wirklichkeit umsetzen will, so ist es kein Wunder, wenn etwas sehr Unreales entsteht. Richard Wagner hat über seine Kunst vollständig umgelernt, als ihm die Philosophie Schopenhauers bekannt wurde. Vorher hielt er die Musik für ein Ausdrucksmittel, das etwas braucht, dem es Ausdruck verschafft, das Drama. In seiner Schrift Oper und Drama, die 1851 geschrieben ist, spricht er aus, daß der größte Irrtum, dem man sich in Bezug auf die Oper hingeben kann, der ist, „daß

ein Mittel des Ausdrucks (die Musik) zum Zwecke, der Zweck des Ausdrucks (das Drama) aber zum Mittel gemacht werde.“

Er bekannte sich zu einer andern Ansicht, nachdem er Schopenhauers Lehre von der Musik kennen gelernt hatte. Schopenhauer ist der Ansicht, daß durch die Musik das Wesen der Dinge selbst zu uns spricht. Der ewige Wille, der in allen Dingen lebt, er wird in allen anderen Künsten nur in seinen Abbildern, in den Ideen, verkörpert; die Musik ist kein bloßes Bild des Willens: in ihr giebt sich der Wille unmittelbar kund. Was uns in allen unseren Vorstellungen nur im Abglanz erscheint: der ewige Grund alles Seins, der Wille, ihn glaubt Schopenhauer in den Klängen der Musik unmittelbar zu vernehmen. Kunde aus dem Jenseits bringt für Schopenhauer die Musik. Diese Ansicht wirkte auf Richard Wagner. Nicht mehr als Ausdrucksmittel wirklicher menschlicher Leidenschaften, wie sie im Drama verkörpert sind, ließ er die Musik gelten, sondern als „eine Art Mundstück des Ansich der Dinge, ein Telephon des Jenseits“. Richard Wagner glaubte jetzt nicht mehr die Wirklichkeit in Tönen auszudrücken; „er redete fürderhin nicht nur Musik, dieser Bauchredner Gottes, — er redete Metaphysik: was Wunder, daß er endlich eines Tages asketische Ideale redete.“ (Genealogie, 3. Abteilung, § 5.)

Hätte Richard Wagner bloß seine Ansicht über die Bedeutung der Musik geändert, so hätte Nietzsche keinen Anlaß, ihm etwas vorzuwerfen. Nietzsche könnte dann höchstens sagen: Wagner hat außer seinen Kunstwerken auch noch allerlei verkehrte Theorien über die Kunst geschaffen. Daß aber Wagner in der letzten Zeit seines Schaffens den Schopenhauerschen Jenseitsglauben auch in seinen Kunstwerken verkörpert hat, daß er seine Musik dazu verwendet hat, die Flucht vor der Wirklichkeit zu verherrlichen: das ging Nietzsche wider den Geschmack.

Aber der „Fall Wagner“ besagt nichts, wenn es sich um die Bedeutung der Verherrlichung des Jenseits auf Kosten des Diesseits, wenn es sich um die Bedeutung der asketischen Ideale handelt. Künstler stehen nicht auf eigenen Füßen. Wie Richard Wagner von Schopenhauer abhängig ist, so waren die Künstler „zu allen Zeiten Kammerdiener einer Moral, oder Philosophie oder Religion“.

Anders ist es, wenn die Philosophen für die Verachtung der Wirklichkeit, für die asketischen Ideale eintreten. Sie thun das aus einem tiefen Instinkte heraus.

Schopenhauer hat diesen Instinkt verraten durch die Beschreibung, die er von dem Schaffen und Genießen eines Kunstwerkes giebt. „Daß also das Kunstwerk die Auffassung der Ideen, in welcher der ästhetische Genuß besteht, so sehr erleichtert, beruht nicht bloß darauf, daß die Kunst durch Hervorhebung des Wesentlichen und Aussonderung des Unwesentlichen die Dinge deutlicher und charakteristischer darstellt, sondern ebenso sehr darauf, daß das zur objektiven Auffassung des Wesens der Dinge erforderte gänzliche Schweigen des Willens am sichersten dadurch erreicht wird, daß das angeschaute Objekt gar nicht im Gebiete der Dinge liegt, welche einer Beziehung zum Willen fähig sind.“ (Ergänzungen zum 3. Buch der Welt als Wille und Vorstellung, Kap. 21.) „Wann aber ein äußerer Anlaß oder eine innere Stimmung uns plötzlich aus dem endlosen Strome des Wollens heraushebt, die Erkenntnis dem Sklavendienst des Willens entreißt, die Aufmerksamkeit nun nicht mehr auf die Motive des Wollens gerichtet wird, sondern die Dinge frei von ihrer Beziehung auf den Willen auffaßt, also ohne Interesse, ohne Subjektivität, rein objektiv sie betrachtet, ihnen ganz hingegeben, sofern sie bloß Vorstellungen, nicht sofern sie Motive sind: dann ist ..... der schmerzenlose Zustand, den Epikuros als das höchste Gut und als den Zustand der Götter pries [eingetreten]: denn wir sind für jenen Augenblick des schnöden Willensdranges entledigt, wir feiern den Sabbat der Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des Ixion steht still.“ (Welt als Wille und Vorstellung, § 38.)

Dies ist eine Beschreibung einer Art des ästhetischen Genusses, die nur bei dem Philosophen vorkommt. Nietzsche stellt ihr gegenüber eine andere Beschreibung, „die ein wirklicher Zuschauer und Artist gemacht hat — Stendhal“, der das Schöne „une promesse de bonheur“ nennt. Schopenhauer möchte alles Willensinteresse, alles wirkliche Leben ausschalten, wenn es sich um die Betrachtung eines Kunstwerkes handelt, und nur mit dem Geiste genießen; Stendhal sieht in dem Kunstwerke ein Versprechen von Glück, also einen Hinweis auf das Leben, und sieht in diesem Zusammenhang der Kunst mit dem Leben den Wert der Kunst.

Kant fordert vom schönen Kunstwerk, daß es ohne Interesse gefalle, d. h. daß es uns heraushebe aus dem wirklichen Leben und einen rein geistigen Genuß gewähre.

Was sucht der Philosoph in dem künstlerischen Genuß? Erlösung von der Wirklichkeit. In eine Wirklichkeit-fremde Stimmung will der Philosoph durch das Kunstwerk versetzt werden. Er verrät dadurch seinen Grundinstinkt. Der Philosoph fühlt sich in den Augenblicken am wohlsten, in denen er von der Wirklichkeit loskommen kann. Seine Ansicht vom ästhetischen Genuß zeigt, daß er die Wirklichkeit nicht liebt.

Nicht was der dem Leben zugewandte Zuschauer von dem Kunstwerke verlangt, sagen uns die Philosophen in ihren Theorien, sondern nur, was ihnen selbst angemessen ist. Und dem Philosophen ist die Abkehr von dem Leben sehr förderlich. Er will sich seine verschlungenen Gedankenwege nicht durchkreuzen lassen von der Wirklichkeit. Das Denken gedeiht besser, wenn sich der Philosoph von dem Leben abkehrt. Es ist nun kein Wunder, wenn dieser philosophische Grundinstinkt geradezu zu einer lebensfeindlichen Stimmung wird. Wir finden eine solche Stimmung bei der Mehrzahl der Philosophen ausgebildet. Und nahe liegt es, daß der Philosoph seine eigene Antipathie gegen das Leben zu einer Lehre ausbildet und fordert, daß sich alle Menschen zu einer solchen Lehre bekennen. Schopenhauer hat dieses gethan. Er fand, daß der Lärm der Welt seine Gedankenarbeit störte. Er empfand, daß man über die Wirklichkeit am besten nachdenken kann, wenn man dieser Wirklichkeit entflieht. Zugleich vergaß er, daß alles Denken über die Wirklichkeit doch nur dann einen Wert hat, wenn es aus dieser Wirklichkeit entspringt. Er beachtete nicht, daß das Zurückziehen des Philosophen von der Wirklichkeit nur geschehen kann, damit die entfernt von dem Leben entstandenen philosophischen Gedanken dann dem Leben um so besser dienen können. Wenn der Philosoph den Grundinstinkt, der nur ihm als Philosophen förderlich ist, der ganzen Menschheit aufdrängen will, dann wird er zu einem Feinde des Lebens.

Der Philosoph, der die Weltflucht nicht als Mittel betrachtet, um weltfreundliche Gedanken zu schaffen, sondern als Zweck, als Ziel, kann nur Wertloses schaffen. Der wahre Philosoph flieht auf der einen Seite die Wirklichkeit nur, um sich auf der anderen um so tiefer in sie einzubohren. Aber es ist begreiflich, daß dieser Grundinstinkt den Philosophen leicht dazu verführen kann, die Weltflucht als solche für wertvoll zu halten. Dann wird der Philosoph zu einem Anwalt der Weltverneinung. Er lehrt Abkehr vom Leben, asketisches Ideal. Er findet: „Ein gewisser Asketismus ..... eine harte und heitere Entsagsamkeit besten Willens gehört zu den günstigen Bedingungen höchster Geistigkeit, insgleichen auch zu deren natürlichsten Folgen: so wird es von vornherein nicht Wunder nehmen, wenn das asketische Ideal gerade von den Philosophen nie ohne einige Voreingenommenheit behandelt worden ist.“ (Genealogie der Moral, 3. Abteilung § 8.)

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