17.

Einen andern Ursprung haben die asketischen Ideale der Priester. Was bei dem Philosophen durch das Überwuchern eines bei ihm berechtigten Triebes entsteht, das bildet das Grundideal des priesterlichen Wirkens. Der Priester sieht in der Hingabe des Menschen an das wirkliche Leben einen Irrtum; er verlangt, daß man dieses Leben gering achte gegenüber einem andern Leben, das von höheren als bloß natürlichen Kräften gelenkt wird. Der Priester leugnet, daß das wirkliche Leben einen Sinn in sich selbst habe, und er fordert, daß ihm dieser Sinn verliehen werde durch Einimpfung eines höheren Willens. Er sieht das Leben in der Zeitlichkeit als unvollkommen an und stellt ihm ein ewiges, vollkommenes Leben gegenüber. Abkehr von der Zeitlichkeit und Einkehr in das Ewige, Unwandelbare lehrt der Priester. Ich möchte als besonders bezeichnend für die priesterliche Denkweise einige Sätze aus dem berühmten Buche „Die deutsche Theologie“ anführen, das aus dem 14. Jahrhundert stammt und von dem Luther sagt, daß er aus keinem Buche, die Bibel und den heiligen Augustin ausgenommen, mehr gelernt habe, was Gott, Christus und der Mensch sei, als aus diesem. Auch Schopenhauer findet, daß der Geist des Christentums in diesem Buche vollkommen und kräftig ausgesprochen ist. Nachdem der Verfasser, der uns unbekannt ist, auseinander gesetzt hat, daß alle Dinge der Welt nur ein Unvollkommenes und Geteiltes seien gegenüber dem Vollkommenen, „das in sich und in seinem Wesen alle Wesen begriffen und beschlossen hat, und ohne das und außer dem kein wahres Wesen ist und in dem alle Dinge ihr Wesen haben“, führt er aus, daß der Mensch in dieses Wesen nur eindringen kann, wenn er „Kreatürlichkeit, Geschaffenheit, Ichheit, Selbstheit und dergleichen alles verloren“ und in sich zu nichte gemacht hat. Was von dem Vollkommenen ausgeflossen ist und was der Mensch als seine wirkliche Welt erkennt, das wird folgendermaßen charakterisiert: „Das ist kein wahres Wesen und hat kein Wesen anders denn in dem Vollkommenen, sondern es ist ein Zufall oder ein Glanz und ein Schein, der kein Wesen ist oder kein Wesen hat anders als in dem Feuer, wo der Glanz ausfließt, oder in der Sonne, oder in dem Lichte. Die Schrift spricht und der Glaube und die Wahrheit: Sünde sei nichts anderes, denn daß sich die Kreatur abkehrt von dem unwandelbaren Gute und kehret sich zu dem wandelbaren, das ist: daß sie sich kehrt von dem Vollkommenen zu dem Geteilten und Unvollkommenen und allermeist zu sich selber. Nun merke. Wenn sich die Kreatur etwas Gutes annimmt, als Wesens, Lebens, Wissens, Erkennens, Vermögens und kürzlich alles dessen, was man gut nennen soll, und meint, daß sie das sei oder daß es das Ihre sei oder ihr zugehöre oder daß es von ihr sei: so oft und viel dabei geschieht, so kehrt sie sich ab. Was that der Teufel anders oder was war sein Fall und Abkehren anders, als daß er sich annahm, er wäre auch etwas und etwas wäre sein und ihm gehörte auch etwas zu? Dies Annehmen und sein Ich und sein Mich, sein Mir und sein Mein, das war sein Abkehren und sein Fall. Also ist es noch .... Denn alles das, was man für gut hält oder gut nennen soll, das gehört niemand zu, denn allein dem ewigen wahren Gut, der Gott allein ist, und wer sich dessen annimmt, der thut Unrecht und wider Gott“. (1., 2., 4. Kap. der deutsch. Theol., 3. Aufl., übersetzt von Pfeiffer.)

Diese Sätze sprechen die Gesinnung jedes Priesters aus. Sie sprechen den eigentlichen Charakter der Priesterlichkeit aus. Und dieser Charakter ist das Gegenteil desjenigen, den Nietzsche als den höherwertigen, den lebenswürdigen bezeichnet. Der höherwertige Typus Mensch will alles, was er ist, nur durch sich sein; er will, daß alles, was er für gut hält und gut nennt, niemand zugehört, denn ihm selbst.

Aber jene minderwertige Gesinnung ist kein Ausnahmefall. Sie „ist eine der breitesten und längsten Thatsachen, die es giebt. Von einem fernen Gestirn aus gelesen, würde vielleicht die Majuskelschrift unseres Erdendaseins zu dem Schluß verführen, die Erde sei der eigentlich asketische Stern, ein Winkel mißvergnügter, hochmütiger und widriger Geschöpfe, die einen tiefen Verdruß an sich, an der Erde, an allem Leben gar nicht los würden.“ (Genealogie der Moral, 3. Abteilung § 11.) Der asketische Priester ist deshalb eine Notwendigkeit, weil die Mehrzahl der Menschen an einer „Hemmung und Ermüdung“ der Lebenskräfte leidet, weil sie an der Wirklichkeit leidet. Der asketische Priester ist der Tröster und Arzt derjenigen, die am Leben leiden. Er tröstet sie dadurch, daß er ihnen sagt: dieses Leben, an dem ihr leidet, ist nicht das wahre Leben; das wahre Leben ist denjenigen, die an diesem Leben leiden, viel leichter erreichbar als den Gesunden, die an diesem Leben hängen und sich ihm hingeben. Durch solche Aussprüche züchtet der Priester die Verachtung, die Verleumdung dieses wirklichen Lebens. Er bringt endlich die Gesinnung hervor, die sagt: um das wahre Leben zu erreichen, muß dieses wirkliche Leben verneint werden. In der Verbreitung dieser Gesinnung sucht der asketische Priester seine Stärke. Er beseitigt durch die Züchtung dieser Gesinnung eine große Gefahr, die den Gesunden, Starken, Selbstbewußten von den Verunglückten, Niedergeworfenen, Zerbrochenen droht. Die letzteren hassen die Gesunden und die leiblich und seelisch Glücklichen, die ihre Kräfte aus der Natur nehmen. Diesen Haß, der sich dadurch äußern müßte, daß die Schwachen gegen die Starken einen fortwährenden Vernichtungskrieg führten, sucht der Priester niederzuhalten. Er stellt deshalb die Starken als diejenigen hin, die ein wertloses, menschenunwürdiges Leben führen und behauptet dagegen, daß das wahre Leben allein denen erreichbar ist, die von dem Erdenleben geschädigt werden. „Der asketische Priester muß uns als der vorherbestimmte Heiland, Hirt und Anwalt der kranken Herde gelten: damit erst verstehen wir seine ungeheure historische Mission. Die Herrschaft über Leidende ist sein Reich, auf sie weist ihn sein Instinkt an, in ihr hat er seine eigenste Kunst, seine Meisterschaft, seine Art von Glück.“ (Genealogie, 3. Abth. § 15.)

Es ist kein Wunder, wenn eine solche Denkweise endlich dazu führt, daß ihre Anhänger nicht nur das Leben verachten, sondern geradezu auf seine Zerstörung hinarbeiten. Wenn den Menschen gesagt wird, nur der Leidende, der Schwache kann wirklich zu einem höheren Leben kommen, so wird endlich das Leiden, die Schwäche gesucht werden. Sich selbst Schmerz zuzufügen, den Willen in sich ganz ertöten, das wird Ziel des Lebens werden. Die Opfer dieser Gesinnung sind die Heiligen. „Völlige Keuschheit und Entsagung aller Wollust für den, welcher eigentliche Heiligkeit anstrebt; Wegwerfung alles Eigentums, Verlassung jedes Wohnortes, aller Angehörigen, tiefe, gänzliche Einsamkeit, zugebracht in stillschweigender Betrachtung, mit freiwilliger Buße und schrecklicher langsamer Selbstpeinigung, zur gänzlichen Mortifikation des Willens, welche zuletzt bis zum freiwilligen Tode geht durch Hunger, auch durch Entgegengehen den Krokodilen, durch Herabstürzen vom geheiligten Felsengipfel im Himalaya, durch Lebendigbegrabenwerden, auch durch Hinwerfung unter die Räder des unter Gesang, Jubel und Tanz der Bajaderen die Götterbilder umfahrenden Wagens“, dies sind die letzten Früchte der asketischen Gesinnung. (Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung § 68.)

Diese Denkweise ist dem Leiden am Leben entsprungen, und sie richtet ihre Waffen gegen das Leben. Wenn der Gesunde, Lebensfrohe von ihr angesteckt wird, dann tilgt sie bei ihm die gesunden, starken Instinkte aus. Nietzsches Werk gipfelt darinnen, dieser Lehre gegenüber etwas anderes geltend zu machen, eine Ansicht für Gesunde, Wohlgeratene. Mögen die Mißratenen, Verdorbenen in der Lehre der asketischen Priester ihr Heil suchen; die Gesunden will Nietzsche um sich sammeln und ihnen eine Meinung sagen, die ihnen besser zu Gesichte steht, als jedes lebensfeindliche Ideal.

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