19.

Die mit schwachen, mißratenen Erkenntnisinstinkten ausgestatteten Menschen wagen es nicht, aus der Begriffe bildenden Macht ihrer Persönlichkeit heraus den Welterscheinungen einen Sinn unterzulegen. Sie wollen, daß ihnen die „Gesetzmäßigkeit der Natur“ als Thatbestand vor die Sinne trete. Ein subjektives, der Einrichtung des menschlichen Geistes gemäß geformtes Weltbild scheint ihnen wertlos. Aber die bloße Beobachtung der Vorkommnisse in der Welt liefert uns nur ein zusammenhangloses und doch nicht in Einzelheiten gesondertes Weltbild. Dem bloßen Beobachter der Dinge erscheint kein Gegenstand, kein Geschehnis wichtiger, bedeutungsvoller als das andere. Das rudimentäre Organ eines Organismus, das vielleicht dann, wenn wir darüber nachgedacht haben, ohne alle Bedeutung für die Entwickelung des Lebens erscheint, steht gerade mit demselben Anspruch auf Beachtung da, wie der edelste Teil des Organismus, so lange wir bloß den objektiven Thatbestand beschauen. Ursache und Wirkung sind aufeinanderfolgende Erscheinungen, die ineinander überfließen, ohne durch etwas getrennt zu sein, so lange wir sie bloß beobachten. Erst wenn wir mit unserem Denken einsetzen, die ineinander fließenden Erscheinungen sondern und gedanklich aufeinander beziehen, wird ein gesetzmäßiger Zusammenhang sichtbar. Erst das Denken erklärt die eine Erscheinung für die Ursache, die andere für die Wirkung. Wir sehen einen Regentropfen auf den Erdboden fallen und eine Vertiefung hervorrufen. Ein Wesen, das nicht denken kann, wird hier nicht Ursache und Wirkung sehen, sondern nur eine Aufeinanderfolge von Erscheinungen. Ein denkendes Wesen isoliert die Erscheinungen, bringt die isolierten Fakten in ein Verhältnis und bezeichnet das eine Faktum als Ursache, das andere als Wirkung. Durch die Beobachtung wird der Intellekt angeregt, Gedanken zu produzieren und diese mit den beobachteten Thatsachen zu einem gedankenvollen Weltbilde zu verschmelzen. Der Mensch thut dies, weil er die Summe der Beobachtungen gedanklich beherrschen will. Ein ihm gegenüberstehendes Gedankenleeres drückt auf ihn wie eine unbekannte Macht. Er widersetzt sich dieser Macht, überwindet sie, indem er sie denkbar macht. Auch alles Zählen, Wägen und Berechnen der Erscheinungen geschieht aus demselben Grunde. Es ist der Wille zur Macht, der sich in dem Erkenntnistriebe auslebt. (Ich habe den Erkenntnisprozeß im einzelnen dargestellt in meinen beiden Schriften: „Wahrheit und Wissenschaft“ und „Die Philosophie der Freiheit“.)

Der stumpfe, schwache Intellekt will sich nicht eingestehen, daß er es selbst ist, der als Äußerung seines Strebens nach Macht die Erscheinungen interpretiert. Er hält auch seine Interpretation für einen Thatbestand. Und er fragt: wie der Mensch dazu kommt, einen solchen Thatbestand in der Wirklichkeit zu finden. Er fragt z. B.: wie kommt es, daß der Intellekt in zwei aufeinander folgenden Erscheinungen Ursache und Wirkung anerkennt? Alle Erkenntnistheoretiker von Locke, Hume, Kant bis auf die Gegenwart haben sich mit dieser Frage beschäftigt. Die Spitzfindigkeiten, die sie auf diese Untersuchung verwendet haben, sind unfruchtbar geblieben. Die Erklärung ist gegeben in dem Streben des menschlichen Intellekts nach Macht. Die Frage ist gar nicht: sind Urteile, Gedanken über die Erscheinungen möglich, sondern: hat der menschliche Intellekt solche Urteile nötig? Weil er sie nötig hat, deshalb wendet er sie an, und nicht weil sie möglich sind. Es kommt darauf an, „zu begreifen, daß zum Zweck der Erhaltung von Wesen unserer Art solche Urteile als wahr geglaubt werden müssen; weshalb sie natürlich noch falsche Urteile sein könnten!“ (Jenseits von Gut und Böse § 11.) „Und wir sind grundsätzlich geneigt, zu behaupten, daß die falschesten Urteile uns die unentbehrlichsten sind, daß ohne ein Geltenlassen der logischen Fiktionen, ohne ein Messen der Wirklichkeit an der rein erfundenen Welt des Unbedingten, Sich-selbst-Gleichen, ohne eine beständige Fälschung der Welt durch die Zahl der Mensch nicht leben könnte, — daß Verzichtleisten auf falsche Urteile ein Verzichtleisten auf Leben, eine Verneinung des Lebens wäre.“ (Ebenda § 4.) Wem dieser Ausspruch paradox erscheint, der besinne sich darauf, wie fruchtbar die Anwendung der Geometrie auf die Wirklichkeit ist, obgleich es nirgends in der Welt wirklich geometrisch regelmäßige Linien, Flächen u. s. w. giebt.

Wenn der stumpfe, schwache Intellekt einsieht, daß alle Urteile über die Dinge aus ihm selbst stammen, durch ihn produziert und mit den Beobachtungen verschmolzen werden, dann hat er nicht den Mut, diese Urteile rückhaltslos anzuwenden. Er sagt: Urteile solcher Art können uns keine Erkenntnis von dem „wahren Wesen“ der Dinge vermitteln. Dieses „wahre Wesen“ bleibt daher unserer Erkenntnis verschlossen.

Noch in einer anderen Art sucht der schwache Intellekt zu beweisen, daß durch das menschliche Erkennen kein Feststehendes gewonnen werden kann. Er sagt: Der Mensch sieht, hört, tastet die Dinge und Vorgänge. Was er dabei wahrnimmt, sind Eindrücke auf seine Sinnesorgane. Wenn er eine Farbe, einen Ton wahrnimmt, so kann er nur sagen: mein Auge, mein Ohr werden in einer gewissen Art bestimmt, Farbe, Ton wahrzunehmen. Nicht etwas außer ihm nimmt der Mensch wahr, sondern nur eine Bestimmung, eine Modifikation seiner eigenen Organe. In der Wahrnehmung werden das Auge, das Ohr u. s. w. dazu veranlaßt, in einer gewissen Weise zu empfinden; sie werden in einen bestimmten Zustand versetzt. Diese Zustände seiner eigenen Organe nimmt der Mensch als Farben, Töne, Gerüche u. s. w. wahr. In aller Wahrnehmung nimmt der Mensch nur seine eigenen Zustände wahr. Was er Außenwelt nennt, ist nur aus diesen seinen Zuständen zusammengesetzt; ist also im eigentlichen Sinne sein Werk. Die Dinge, die ihn veranlassen, aus sich heraus die Außenwelt zu spinnen, kennt er nicht; nur ihre Wirkungen auf seine Organe. Einem von dem Menschen geträumten Traume gleich, der durch ein Unbekanntes veranlaßt wird, erscheint die Welt in dieser Beleuchtung.

Wenn dieser Gedanke konsequent zu Ende gedacht wird, so zieht er folgenden Nachsatz nach sich. Auch seine Organe kennt der Mensch nur, insofern er sie wahrnimmt; sie sind Glieder in seiner Wahrnehmungswelt. Und seines eigenen Selbst wird sich der Mensch nur bewußt, insofern er die Bilder der Welt aus sich herausspinnt. Traumbilder nimmt er wahr und inmitten dieser Traumbilder ein „Ich“, an dem diese Traumbilder vorüberziehen. Jedes Traumbild erscheint in Begleitung dieses „Ich“. Man kann auch sagen: jedes Traumbild erscheint inmitten der Traumwelt immer in Beziehung auf dieses „Ich“. Dieses „Ich“ haftet als Bestimmung, als Eigenschaft an den Traumbildern. Es ist somit, als Bestimmung von Traumbildern, selbst ein Traumhaftes. J. G. Fichte faßt diese Ansicht in die Worte zusammen: „Was durch das Wissen und aus dem Wissen entsteht, ist nur ein Wissen. Alles Wissen aber ist nur Abbildung, und es wird in ihm immer etwas gefordert, das dem Bilde entspreche. Diese Forderung kann durch kein Wissen befriedigt werden; und ein System des Wissens ist notwendig ein System bloßer Bilder, ohne alle Realität, Bedeutung und Zweck.“ „Alle Realität“ ist für Fichte ein wunderbarer „Traum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird, und ohne einen Geist, dem da träumt“; ein Traum, „der in einem Traume von sich selbst zusammenhängt“. (Bestimmung des Menschen, 2. Buch.)

Was hat diese ganze Gedankenkette für eine Bedeutung? Ein schwacher Intellekt, der sich nicht unterfangen will, der Welt aus sich heraus einen Sinn zu geben, sucht diesen Sinn in der Welt der Beobachtungen. Er kann ihn da natürlich nicht finden, weil die bloße Beobachtung gedankenleer ist.

Der starke, produktive Intellekt verwendet seine Begriffswelt dazu, die Beobachtungen zu deuten; der schwache, unproduktive Intellekt erklärt sich selbst für zu ohnmächtig, um das zu thun und sagt: ich kann in den Erscheinungen der Welt keinen Sinn finden; sie sind bloße Bilder, die an mir vorüberziehen. Der Sinn des Daseins muß außerhalb, jenseits der Erscheinungswelt gesucht werden. Dadurch wird die Erscheinungswelt, d. h. die menschliche Wirklichkeit für einen Traum, eine Täuschung, ein Nichts erklärt und das „wahre Wesen“ der Erscheinungen wird in einem „Ding an sich“ gesucht, bis zu dem keine Beobachtung, kein Erkennen reicht, d. h. von dem sich der Erkennende keine Vorstellung machen kann. Dieses „wahre Wesen“ ist also für den Erkennenden ein völlig leerer Gedanke, der Gedanke an ein Nichts. Traum ist bei jenen Philosophen, die von dem „Ding an sich“ sprechen, die Erscheinungswelt; Nichts ist aber das, was sie als das „wahre Wesen“ dieser Erscheinungswelt ansehen. Die ganze philosophische Bewegung, die von dem „Ding an sich“ spricht und die in der neueren Zeit sich namentlich auf Kant stützt, ist der Glaube an das Nichts, ist philosophischer Nihilismus.

Share on Twitter Share on Facebook