18.

Auch in den Pflegern der modernen Wissenschaft steckt noch das asketische Ideal. Zwar rühmt sich diese Wissenschaft, alle alten Glaubensvorstellungen über Bord geworfen zu haben und sich nur an die Wirklichkeit zu halten. Sie will nichts gelten lassen, was sich nicht zählen, berechnen, wägen, sehen und greifen läßt. Daß man auf diese Weise „das Dasein zu einer Rechenknechtsübung und Stubenhockerei für Mathematiker“ herabwürdigt, ist den modernen Gelehrten gleichgültig. (Fröhliche Wissenschaft § 373.) Ein Recht, die vor seinen Sinnen und seiner Vernunft vorüberziehenden Vorkommnisse der Welt zu interpretieren, sodaß er sie mit seinem Denken beherrschen kann, schreibt sich ein solcher Gelehrter nicht zu. Er sagt: die Wahrheit muß von meiner Interpretationskunst unabhängig sein, und ich habe die Wahrheit nicht zu schaffen, sondern ich muß sie mir von den Erscheinungen der Welt diktieren lassen.

Wozu diese moderne Wissenschaft zuletzt gelangt, wenn sie sich alles Zurechtlegens der Welterscheinungen enthält, das hat ein Anhänger dieser Wissenschaft (Richard Wahle) in einem soeben erschienenen Buche („Das Ganze der Philosophie und ihr Ende“) ausgesprochen: „Was könnte der Geist, der in das Weltgehäuse spähend und in sich die Fragen nach dem Wesen und dem Ziele des Geschehens herumwälzte, endlich als Antwort finden? Es ist ihm widerfahren, daß er, wie er so scheinbar im Gegensatze zur umgebenden Welt dastand, sich auflöste und in einer Flucht von Vorkommnissen mit allen Vorkommnissen zusammenfloß. Er „wußte“ nicht mehr die Welt; er sagte, ich bin nicht sicher, daß Wissende da sind, sondern Vorkommnisse sind da schlechthin. Sie kommen freilich in solcher Weise, daß der Begriff eines Wissens vorschnell, ungerechtfertigt entstehen konnte .... Und „Begriffe“ huschten empor, um Licht in die Vorkommnisse zu bringen, aber es waren Irrlichter, Seelen der Wünsche nach Wissen, erbärmliche, in ihrer Evidenz nichtssagende Postulate einer unausgefüllten Wissensform. Unbekannte Faktoren müssen im Wechsel walten. Über ihre Natur war Dunkel gebreitet. Vorkommnisse sind der Schleier des Wahrhaften.“

Daß die menschliche Persönlichkeit in die Vorkommnisse der Wirklichkeit einen Sinn hineinlegen könne und die unbekannten Faktoren, die im Wechsel der Ereignisse walten, aus eigenem Vermögen ergänzen könne, daran denken die modernen Gelehrten nicht. Sie wollen nicht die Flucht der Erscheinungen durch die Ideen interpretieren, die aus ihrer Persönlichkeit stammen. Sie wollen die Erscheinungen bloß beobachten und beschreiben, aber nicht deuten. Sie wollen bei dem Thatsächlichen stehen bleiben und es der schöpferischen Phantasie nicht gestatten, sich ein in sich gegliedertes Bild von der Wirklichkeit zu machen.

Wenn ein phantasievoller Naturforscher, wie z. B. Ernst Haeckel, aus den Ergebnissen einzelner Beobachtungen ein Gesamtbild der Entwickelung des organischen Lebens auf der Erde entwirft, dann fallen diese Fanatiker der Thatsächlichkeit über ihn her und zeihen ihn der Versündigung an der Wahrheit. Die Bilder, die er von dem Leben in der Natur entwirft, können sie nicht mit Augen sehen, oder mit Händen greifen. Ihnen ist das unpersönliche Urteil lieber, als das durch den Geist der Persönlichkeit gefärbte. Sie möchten bei ihren Beobachtungen am liebsten die Persönlichkeit ganz ausschalten.

Es ist das asketische Ideal, das die Fanatiker der Thatsächlichkeit beherrscht. Sie wollen eine Wahrheit jenseits des persönlichen, individuellen Urteiles. Was der Mensch in die Dinge „hineinphantasieren“ kann, bekümmert sie nicht; die „Wahrheit“ ist ihnen etwas absolut Vollkommenes, ein Gott; der Mensch soll sie entdecken, sich ihr ergeben, aber sie nicht schaffen. Die Naturforscher und die Geschichtschreiber sind gegenwärtig von dem gleichen Geiste des asketischen Ideals beseelt. Überall Aufzählen, Beschreiben von Thatsachen, und nichts darüber. Jedes Zurechtlegen der Thatsachen ist verpönt. Alles persönliche Urteilen soll unterbleiben.

Unter diesen modernen Gelehrten finden sich auch Atheisten. Diese Atheisten sind aber keine freieren Geister als ihre Zeitgenossen, die an Gott glauben. Mit den Mitteln der modernen Wissenschaft läßt sich das Dasein Gottes nicht beweisen. Hat sich doch eine der Leuchten moderner Wissenschaft (Du Bois-Reymond) über die Annahme einer „Weltseele“ also geäußert: bevor der Naturforscher sich zu einer solchen Annahme entschließt, verlangt er, „daß ihm irgendwo in der Welt, in Neuroglia gebettet und mit warmem arteriellen Blut unter richtigem Druck gespeist, ein dem geistigen Vermögen solcher Seele an Umfang entsprechendes Konvolut von Ganglienzellen und Nervenfasern gezeigt“ werde (Grenzen des Naturerkennens S. 44). Die moderne Wissenschaft lehnt den Glauben an Gott ab, weil dieser Glaube neben dem Glauben an die „objektive Wahrheit“ nicht bestehen kann. Diese „objektive Wahrheit“ ist aber nichts anderes als ein neuer Gott, der über den alten gesiegt hat. „Der unbedingte redliche Atheismus (und seine Luft allein atmen wir, wir geistigeren Menschen dieses Zeitalters!) steht nicht im Gegensatz zu jenem (asketischen) Ideale, wie es den Anschein hat; er ist vielmehr nur eine seiner letzten Entwickelungsphasen, eine seiner Schlußformen und inneren Folgerichtigkeiten, er ist die Ehrfurcht gebietende Katastrophe einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich die Lüge im Glauben an Gott verbietet.“ (Genealogie, 3. Abteilung § 27.) Der Christ sucht die Wahrheit in Gott, weil er Gott für den Quell aller Wahrheit hält; der moderne Atheist lehnt den Glauben an Gott ab, weil ihm sein Gott, sein Ideal von Wahrheit diesen Glauben verbietet. Der moderne Geist sieht in Gott eine menschliche Schöpfung; in der „Wahrheit“ sieht er etwas, was ohne alles menschliche Zuthun durch sich selbst besteht. Der wirklich „freie Geist“ geht noch weiter. Er fragt: „Was bedeutet aller Wille zur Wahrheit?“ Wozu Wahrheit? Alle Wahrheit entsteht doch dadurch, daß der Mensch über die Erscheinungen der Welt nachdenkt, sich Gedanken über die Dinge bildet. Der Mensch selbst ist der Schöpfer der Wahrheit. Der „freie Geist“ kommt zum Bewußtsein seines Schaffens der Wahrheit. Er betrachtet die Wahrheit nicht mehr als etwas, dem er sich unterordnet; er betrachtet sie als sein Geschöpf.

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