21.

Die starke Persönlichkeit, die Ziele schafft, ist rücksichtslos in der Ausführung derselben. Die schwache Persönlichkeit dagegen führt nur das aus, wozu der Wille Gottes oder die „Stimme des Gewissens“ oder der „kategorische Imperativ“ Ja sagt. Was diesem Ja entspricht, bezeichnet der Schwache als gut, was diesem Ja zuwider ist als böse. Der Starke kann dieses „gut und bös“ nicht anerkennen; denn er erkennt diejenige Macht nicht an, von der sich der Schwache sein Gutes und Böses bestimmen läßt. Was er, der Starke, will, ist für ihn gut; er führt es durch gegen alle widerstrebenden Mächte. Was ihn in dieser Durchführung stört, das sucht er zu überwinden. Er glaubt nicht, daß ein „ewiger Weltwille“ alle einzelnen Willensentschlüsse zu einer großen Harmonie lenkt; aber er ist der Ansicht, daß alle menschliche Entwickelung aus den Willensimpulsen der Einzelpersönlichkeiten sich ergiebt, und daß ein ewiger Krieg besteht zwischen den einzelnen Willensäußerungen, in dem immer der stärkere Wille über den schwächeren siegt.

Von den Schwachen und Mutlosen wird die starke Persönlichkeit, die sich selbst Gesetz und Zweck geben will, als böse, als sündhaft bezeichnet. Sie erregt Furcht, denn sie durchbricht die hergebrachten Ordnungen; sie nennt wertlos, was die Schwachen gewohnt sind, wertvoll zu nennen, und sie erfindet Neues, vor ihr Unbekanntes, das sie als wertvoll bezeichnet. „Jede individuelle Handlung, jede individuelle Denkweise erregt Schauder; es ist gar nicht auszurechnen, was gerade die selteneren, ausgesuchteren, ursprünglicheren Geister im ganzen Verlauf der Geschichte dadurch gelitten haben müssen, daß sie immer als die bösen und gefährlichen empfunden wurden, ja daß sie sich selber so empfanden. Unter der Herrschaft der Sittlichkeit hat die Originalität jeder Art ein böses Gewissen bekommen; bis diesen Augenblick ist der Himmel der Besten noch dadurch verdüsterter, als er sein müßte.“ (Morgenröte § 9.)

Der wahrhaft freie Geist faßt schlechthin erste Entschlüsse; der unfreie entscheidet sich nach dem Herkommen. „Sittlichkeit ist nichts anderes (also namentlich nicht mehr!), als Gehorsam gegen Sitten, welcher Art diese auch sein mögen; Sitten aber sind die herkömmliche Art zu handeln und abzuschätzen“ (Morgenröte § 9). Dieses Herkommen ist es, was von den Moralisten als „ewiger Wille“, „kategorischer Imperativ“ gedeutet wird. Jedes Herkommen ist aber das Ergebnis der naturgemäßen Triebe und Impulse einzelner Menschen, ganzer Stämme, Völker u. s. w. Es ist ebenso das Produkt natürlicher Ursachen, wie etwa die Witterungsverhältnisse einzelner Gegenden. Der freie Geist erklärt sich durch dieses Herkommen nicht gebunden. Er hat seine individuellen Triebe und Impulse, und diese sind nicht weniger berechtigt als die der anderen. Er setzt diese Impulse in Handlungen um, wie eine Wolke Regen auf die Erdoberfläche sendet, wenn die Ursachen dazu vorhanden sind. Der freie Geist steht jenseits dessen, was das Herkommen als gut und böse ansieht. Er schafft sich selbst sein Gut und Böse.

„Als ich zu den Menschen kam, da fand ich sie sitzen auf einem alten Dünkel: Alle dünkten sich lange schon zu wissen, was dem Menschen gut und böse sei.

„Eine alte müde Sache dünkte ihnen alles Reden von Tugend; und wer gut schlafen wollte, der sprach vor dem Schlafengehen noch von ‚Gut und Böse‘.

„Diese Schläferei störte ich auf, als ich lehrte: was gut und böse ist, das weiß noch niemand — es sei denn der Schaffende.

„Das aber ist der, welcher des Menschen Ziel schafft und der Erde ihren Sinn giebt und ihre Zukunft: dieser erst schafft es, daß etwas gut und böse ist.“ (Zarathustra, 3. Teil, Von alten und neuen Tafeln.)

Auch dann wenn der freie Geist handelt, wie es dem Herkommen gemäß ist, dann thut er es, weil er die herkömmlichen Motive zu den seinigen machen will, und weil er es in bestimmten Fällen nicht für nötig hält, an die Stelle des Herkömmlichen etwas Neues zu setzen.

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