22.

Der Starke sucht in der Durchsetzung seines schaffenden Selbst seine Lebensaufgabe. Diese Selbstsucht unterscheidet ihn von den Schwachen, die in der selbstlosen Hingabe an das, was sie das Gute nennen, die Sittlichkeit sehen. Die Schwachen predigen die Selbstlosigkeit als die höchste Tugend. Ihre Selbstlosigkeit ist aber nur die Folge ihres Mangels an Schaffenskraft. Hätten sie ein schaffendes Selbst, so würden sie dieses auch durchsetzen wollen. Der Starke liebt den Krieg, denn er braucht den Krieg, um seine Schöpfungen gegen die widerstrebenden Mächte durchzusetzen.

„Euren Feind sollt ihr suchen, euren Krieg sollt ihr führen und für eure Gedanken! Und wenn euer Gedanke unterliegt, so soll eure Redlichkeit darüber noch Triumph rufen!

„Ihr sollt den Frieden lieben als Mittel zu neuen Kriegen. Und den kurzen Frieden mehr als den langen.

„Euch rate ich nicht zur Arbeit, sondern zum Kampfe. Euch rate ich nicht zum Frieden, sondern zum Siege. Eure Arbeit sei ein Kampf, euer Friede sei ein Sieg!

„Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar den Krieg heilige? Ich aber sage euch: der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt.

„Der Krieg und der Mut haben mehr große Dinge gethan, als die Nächstenliebe. Nicht euer Mitleiden, sondern eure Tapferkeit rettete bisher die Verunglückten.“ (Zarathustra, 1. Teil, Vom Krieg und Kriegsvolke.)

Unerbittlich und ohne Schonung des Widerstrebenden handelt der Schaffende. Er kennt nicht die Tugend der Leidenden: das Mitleid. Aus seiner Kraft kommen die Antriebe des Schaffenden, nicht aus dem Gefühle des fremden Leidens. Daß die Kraft siege, dafür setzt er sich ein, nicht daß das Leidende, Schwache gepflegt werde. Schopenhauer hat die ganze Welt für ein Lazarett erklärt, und die aus dem Mitgefühle mit den Leidenden entspringenden Handlungen für die höchsten Tugenden. Er hat damit die Moral des Christentums in anderer Form ausgesprochen, als dieses selbst es thut. Der Schaffende fühlt sich nicht berufen, Krankenwärterdienste zu verrichten. Die Tüchtigen, Gesunden können nicht um der Schwachen, Kranken willen da sein. Das Mitleid schwächt die Kraft, den Mut, die Tapferkeit.

Das Mitleid sucht gerade das zu erhalten, was der Starke überwinden will: die Schwäche, das Leiden. Der Sieg des Starken über das Schwache ist der Sinn aller menschlichen, wie aller natürlichen Entwickelung. „Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigener Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung.“ (Jenseits von Gut und Böse § 259.)

„Und wollt ihr nicht Schicksale sein und Unerbittliche: wie könntet ihr mit mir — siegen?

„Und wenn eure Härte nicht blitzen und scheiden und zerschneiden will: wie könntet ihr einst mit mir — schaffen?

„Die Schaffenden nämlich sind hart. Und Seligkeit muß es euch dünken, eure Hand auf Jahrtausende zu drücken wie auf Wachs, —

„— Seligkeit, auf dem Willen von Jahrtausenden zu schreiben wie auf Erz, — härter als Erz, edler als Erz. Ganz hart ist allein das Edelste.

„Diese neue Tafel, o meine Brüder, stelle ich über euch: werdet hart.“ (Zarathustra, 3. Teil, Von alten und neuen Tafeln.)

Der freie Geist macht keinen Anspruch auf Mitleid. Wer ihn bemitleiden wollte, den müßte er fragen: hältst du mich für so schwach, daß ich mein Leid nicht selbst tragen kann? Ihm geht jedes Mitleid gegen die Scham. Nietzsche bringt den Widerwillen des Starken gegen das Mitleiden im vierten Teil seines „Zarathustra“ zur Anschauung. Zarathustra kommt auf seinen Wanderungen in ein Thal, das „Schlangentod“ heißt. Kein Lebewesen findet sich hier. Nur eine Art häßlicher grüner Schlangen kommt hierher, um zu sterben. Dieses Thal hat der „häßlichste Mensch“ aufgesucht. Dieser will von keinem Wesen gesehen werden wegen seiner Häßlichkeit. In diesem Thal sieht ihn niemand außer Gott. Aber auch dessen Anblick kann er nicht ertragen. Das Bewußtsein, daß Gottes Blicke in alle Räume dringen, ist ihm zur Last. Er hat deshalb Gott getötet, d. h. er hat den Glauben an Gott in sich ertötet. Er ist zum Atheisten geworden wegen seiner Häßlichkeit. Als Zarathustra diesen Menschen sieht, überfällt ihn noch einmal das, was er für immer in sich getilgt zu haben glaubt: das Mitleid mit der furchtbaren Häßlichkeit. Dies ist eine Versuchung Zarathustras. Er weist aber das Gefühl des Mitleids bald zurück und wird wieder hart. Der häßlichste Mensch sagt zu ihm: Deine Härte ehrt meine Häßlichkeit. Ich bin zu reich an Häßlichkeit, um irgend eines Menschen Mitleid zu ertragen. Mitleid geht gegen die Scham.

Wer Mitleid braucht, kann nicht allein stehen, und der freie Geist will vollständig auf sich selbst gestellt sein.

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