27.

Zwei Menschentypen stellt Nietzsche einander gegenüber: den Schwachen und den Starken. Der erstere sucht die Erkenntnis als einen objektiven Thatbestand, der von der Außenwelt in seinen Geist einfließen soll. Er läßt sich sein Gutes und Böses von einem „ewigen Weltwillen“ oder einem „kategorischen Imperativ“ diktieren. Er bezeichnet jede nicht von diesem Weltwillen, sondern nur von dem schöpferischen Eigenwillen bestimmte Handlung als Sünde, die eine moralische Strafe nach sich ziehen muß. Er möchte für alle Menschen gleiche Rechte dekretieren und den Wert des Menschen nach einem äußern Maßstabe bestimmen. Er möchte endlich in der Kunst ein Abbild des Göttlichen, eine Kunde aus dem Jenseits erblicken. Der Starke dagegen sieht alle Erkenntnis als den Ausdruck des Willens zur Macht an. Er sucht durch die Erkenntnis die Dinge denkbar und sich dadurch unterthan zu machen. Er weiß, daß er selbst der Schöpfer der Wahrheit ist; daß niemand als er selbst sein Gutes und sein Böses schaffen kann. Er betrachtet die Handlungen des Menschen als Folgen natürlicher Triebe und läßt sie gelten als Naturereignisse, die niemals als Sünden zu betrachten sind und nicht eine moralische Verurteilung verdienen. Er sucht den Wert des Menschen in der Tüchtigkeit seiner Instinkte. Einen Menschen mit den Instinkten für Gesundheit, Geist, Schönheit, Ausdauer, Vornehmheit schätzt er höher als einen solchen mit den Instinkten für Schwäche, Häßlichkeit, Sklaverei. Er beurteilt ein Kunstwerk nach dem Grade, in dem es zur Steigerung seiner Kräfte beiträgt.

Diesen letzteren Menschentypus versteht Nietzsche unter seinem Übermenschen. Solche Übermenschen konnten bisher nur durch das Zusammentreffen zufälliger Umstände entstehen. Ihre Entwickelung zum bewußten Ziele der Menschheit zu machen, ist die Absicht, die Zarathustra hat. Man sah bisher das Ziel der menschlichen Entwickelung in irgendwelchen Idealen. Hier hält Nietzsche eine Änderung der Anschauungen für nötig. Der „höherwertige Typus ist oft genug schon dagewesen: aber als ein Glücksfall, als eine Ausnahme, niemals als gewollt. Vielmehr ist er gerade am besten gefürchtet worden, er war bisher beinahe das Furchtbare; — und aus der Furcht heraus wurde der umgekehrte Typus gewollt, gezüchtet, erreicht: das Haustier, das Herdentier, das kranke Tier Mensch, — der Christ ...“ (Antichrist § 3).

Zarathustras Weisheit soll diesen Übermenschen, zu dem jener andere Typus nur ein Übergang ist, lehren.

Nietzsche nennt diese Weisheit eine dionysische. Es ist eine Weisheit, die nicht dem Menschen von außen gegeben wird; es ist eine selbstgeschaffene Weisheit. Der dionysische Weise forscht nicht; er schafft. Er steht nicht als Betrachter außer der Welt, die er erkennen will; er ist Eins geworden mit seiner Erkenntnis. Er sucht nicht nach einem Gotte; was er sich noch als göttlich vorstellen kann, ist nur Er selbst als Schöpfer seiner eigenen Welt. Wenn dieser Zustand auf alle Kräfte des menschlichen Organismus sich erstreckt, so giebt das den dionysischen Menschen, dem es unmöglich ist, irgend eine Suggestion nicht zu verstehen; er übersieht kein Zeichen des Affekts, er hat den höchsten Grad des verstehenden und erratenden Instinktes, wie er den höchsten Grad von Mitteilungskunst besitzt. Er geht in jede Haut, in jeden Affekt ein: er verwandelt sich beständig. Dem dionysischen Weisen steht der bloße Betrachter gegenüber, der sich immer außerhalb seiner Erkenntnisobjekte stehend glaubt, als objektiver, leidender Zuschauer. Dem dionysischen Menschen steht der apollinische gegenüber, der „vor allem das Auge erregt hält, sodaß es die Kraft der Vision bekommt“. Visionen, Bilder von Dingen, die jenseits der Menschen-Wirklichkeit stehen, erstrebt der apollinische Geist, nicht eine durch ihn selbst geschaffene Weisheit.

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