29.

Weil der dionysische Geist aus sich selbst alle Antriebe seines Thuns entnimmt und keiner äußeren Macht gehorcht, ist er ein freier Geist. Denn ein freier Geist ist derjenige, der nur seiner Natur folgt. Nun ist allerdings in Nietzsches Werken nur die Rede von Instinkten als den Antrieben des freien Geistes. Ich glaube, daß hier Nietzsche mit einem Namen eine Reihe von Antrieben zusammengefaßt hat, die eine mehr ins Einzelne gehende Betrachtung erfordern. Nietzsche nennt Instinkte sowohl die bei den Tieren vorhandenen Triebe zur Ernährung und Selbsterhaltung, wie auch die höchsten Antriebe der menschlichen Natur, z. B. den Erkenntnistrieb, den Trieb, nach sittlichen Maßstäben zu handeln, den Trieb, sich an Kunstwerken zu ergötzen u. s. w. Nun sind zwar alle diese Triebe Äußerungsformen einer und derselben Grundkraft. Aber sie stellen doch verschiedene Stufen in der Entwickelung dieser Kraft dar. Die moralischen Antriebe z. B. sind eine besondere Stufe der Instinkte. Wenn auch zugegeben werden kann, daß sie nur höhere Formen sinnlicher Instinkte sind, so treten sie doch im Menschen auf eine besondere Art ins Dasein. Dies zeigt sich darin, daß es dem Menschen möglich ist, Handlungen zu vollführen, die nicht unmittelbar auf sinnliche Instinkte zurückzuführen sind, sondern nur auf jene Antriebe, die eben als höhere Formen des Instinktes zu bezeichnen sind. Der Mensch schafft sich Antriebe seines Handelns, die nicht aus seinen sinnlichen Trieben abzuleiten sind, sondern nur aus dem bewußten Denken. Er setzt sich individuelle Zwecke vor, aber er setzt sich diese mit Bewußtsein vor. Und es ist ein großer Unterschied, ob er einem unbewußt entstandenen und erst hinterher in das Bewußtsein aufgenommenen Instinkte oder einem Gedanken folgt, den er von vornherein mit vollem Bewußtsein produziert hat. Wenn ich esse, weil mein Nahrungstrieb mich drängt, so ist dies etwas wesentlich anderes, als wenn ich eine mathematische Aufgabe löse. Die denkende Erfassung der Welterscheinungen stellt eine besondere Form des allgemeinen Wahrnehmungsvermögens dar. Sie unterscheidet sich von der bloßen sinnlichen Wahrnehmung. Dem Menschen sind nun die höheren Entwickelungsformen des Instinktlebens ebenso natürlich wie die niederen. Stehen beide nicht im Einklange, dann ist er zur Unfreiheit verurteilt. Es kann der Fall eintreten, daß eine schwache Persönlichkeit mit vollkommen gesunden sinnlichen Instinkten nur schwache geistige Instinkte hat. Dann wird sie zwar in Bezug auf ihr Sinnenleben ihre eigene Individualität entfalten, aber die gedanklichen Antriebe ihres Handelns wird sie aus dem Herkommen entlehnen. Es kann eine Disharmonie beider Triebwelten entstehen. Die sinnlichen Triebe drängen zum Ausleben der eigenen Persönlichkeit, die geistigen Antriebe stehen in dem Banne einer äußern Autorität. Das Geistesleben einer solchen Persönlichkeit wird von den sinnlichen, das sinnliche Leben von den geistigen Instinkten tyrannisiert. Denn beide Gewalten gehören nicht zusammen, sind nicht aus einer Wesenheit erwachsen. Zur wirklich freien Persönlichkeit gehört also nicht nur ein gesund entwickeltes individuelles sinnliches Triebleben, sondern auch die Fähigkeit, sich die gedanklichen Antriebe für das Leben zu schaffen. Erst derjenige Mensch ist vollkommen frei, der auch Gedanken produzieren kann, die zum Handeln führen. Ich habe das Vermögen, rein gedankliche Triebfedern des Handelns zu schaffen, in meiner Schrift „Die Philosophie der Freiheit“ (Weimar, Emil Felber 1894) die „moralische Phantasie“ genannt. Nur wer diese moralische Phantasie hat, ist wirklich frei, denn der Mensch muß nach bewußten Triebfedern handeln. Und wenn er solche nicht selbst produzieren kann, dann muß er sich dieselben von äußeren Autoritäten oder von dem in Form der Gewissensstimme in ihm sprechenden Herkommen geben lassen. Ein Mensch, der sich bloß seinen sinnlichen Instinkten überläßt, handelt wie ein Tier; ein Mensch, der seine sinnlichen Instinkte unter fremde Gedanken stellt, handelt unfrei; erst der Mensch, der sich selbst seine moralischen Ziele schafft, handelt frei. Die moralische Phantasie fehlt in Nietzsches Ausführungen. Wer dessen Gedanken zu Ende denkt, muß notwendig auf diesen Begriff kommen. Aber andererseits ist es auch eine unbedingte Notwendigkeit, daß dieser Begriff der Nietzscheschen Weltanschauung eingefügt wird. Sonst könnte gegen dieselbe immerfort eingewendet werden: Zwar ist der dionysische Mensch kein Knecht des Herkommens oder des „jenseitigen Willens“, aber er ist ein Knecht seiner eigenen Instinkte.

Nietzsche hat seinen Blick auf das Ursprüngliche, Eigenpersönliche im Menschen gerichtet. Er suchte dieses Eigenpersönliche herauszulösen aus dem Mantel des Unpersönlichen, in den es eine wirklichkeitsfeindliche Weltanschauung eingehüllt hat. Aber er ist nicht dazu gekommen, die Stufen des Lebens innerhalb der Persönlichkeit selbst zu unterscheiden. Er hat deshalb die Bedeutung des Bewußtseins für die menschliche Persönlichkeit unterschätzt. „Die Bewußtheit ist die letzte und späteste Entwickelung des Organischen und folglich auch das Unfertigste und Unkräftigste daran. Aus der Bewußtheit stammen unzählige Fehlgriffe, welche machen, daß ein Tier, ein Mensch zu Grunde geht, früher als es nötig wäre, „über das Geschick“, wie Homer sagt. Wäre nicht der erhaltende Verband der Instinkte so überaus viel mächtiger, diente er nicht im ganzen als Regulator: an ihrem verkehrten Urteilen und Phantasieren mit offenen Augen, an ihrer Ungründlichkeit und Leichtgläubigkeit, kurz eben an ihrer Bewußtheit müßte die Menschheit zu Grunde gehen,“ sagt Nietzsche (Fröhliche Wissenschaft § 11).

Dies ist zwar durchaus zuzugeben; aber nicht minder wahr ist es, daß der Mensch nur insoweit frei ist, als er sich gedankliche Triebfedern seines Handelns innerhalb des Bewußtseins schaffen kann.

Die Betrachtung der gedanklichen Triebfedern führt aber noch weiter. Es ist eine Thatsache der Erfahrung, daß diese gedanklichen Triebfedern, die die Menschen aus sich heraus produzieren, bei den einzelnen Individuen doch bis zu einem gewissen Grade eine Übereinstimmung zeigen. Auch wenn der einzelne Mensch ganz frei aus sich heraus Gedanken schafft, so stimmen diese in gewisser Weise mit den Gedanken anderer Menschen überein. Daraus folgt für den Freien die Berechtigung, anzunehmen, daß die Harmonie in der menschlichen Gesellschaft von selbst eintritt, wenn sie aus souveränen Individuen besteht. Er kann diese Meinung dem Verteidiger der Unfreiheit gegenüberstellen, der glaubt, daß die Handlungen einer Mehrheit von Menschen nur zusammenstimmen, wenn sie durch eine äußere Gewalt nach einem gemeinsamen Ziele hingelenkt werden. Der freie Geist ist deshalb durchaus kein Anhänger jener Ansicht, welche die tierischen Triebe absolut frei walten lassen und alle gesetzlichen Ordnungen deshalb abschaffen will. Aber er verlangt absolute Freiheit für diejenigen, die nicht bloß ihren tierischen Instinkten folgen wollen, sondern die imstande sind, moralische Triebfedern, ihr eigenes Gutes und Böses, zu schaffen.

Nur wer Nietzsche nicht so weit durchdrungen hat, daß er die letzten Konsequenzen von dessen Weltanschauung zu ziehen vermag, trotzdem sie Nietzsche nicht selbst gezogen hat, kann in ihm einen Menschen sehen, der „mit einer gewissen stilistischen Wollust zu enthüllen den Mut gefunden hat, was bisher etwa im geheimsten Seelengrunde grandioser Verbrechertypen .... verborgen gelauert haben mag“ (Ludwig Stein, Friedrich Nietzsches Weltanschauung und ihre Gefahren S. 5). Noch immer ist die Durchschnittsbildung eines deutschen Professors nicht so weit, das Große einer Persönlichkeit von deren kleinen Irrtümern abzutrennen. Sonst könnte man es nicht erleben, daß die Kritik eines solchen Professors gerade gegen diese kleinen Irrtümer sich richtet. Ich denke, wahrhafte Bildung nimmt das Große einer Persönlichkeit auf und verbessert kleine Irrtümer oder denkt halbfertige Gedanken zu Ende.

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