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Ich habe Nietzsches Ansichten vom Übermenschen so dargestellt, wie sie uns in seinen letzten Schriften: Zarathustra (1883–1884), Jenseits von Gut und Böse (1886), Genealogie der Moral (1887), Der Fall Wagner (1888), Götzendämmerung (1889) entgegentreten. In dem unvollendet gebliebenen Werke: „Der Wille zur Macht“, Versuch einer Umwertung aller Werte, dessen erster Teil „Antichrist“ im 8. Bande der Gesamtausgabe erschienen ist, hätten sie wohl ihren philosophisch prägnantesten Ausdruck gefunden. Aus der Disposition, die im Anhange zu dem erwähnten Band abgedruckt ist, ist das deutlich zu erkennen. Sie heißt: 1. Der Antichrist. Versuch einer Kritik des Christentums. 2. Der freie Geist. Kritik der Philosophie als einer nihilistischen Bewegung. 3. Der Immoralist. Kritik der verhängnisvollsten Art von Unwissenheit, der Moral. 4. Dionysos. Philosophie der ewigen Wiederkunft.

Nietzsche hat seine Gedanken nicht sogleich im Beginne seiner schriftstellerischen Laufbahn in der ihnen ureigensten Form zum Ausdruck gebracht. Er stand anfangs unter dem Einflusse des deutschen Idealismus, namentlich in der Form, in der ihn Schopenhauer und Richard Wagner vertreten haben. In Schopenhauerschen und Wagnerschen Formeln drückt er sich in seinen ersten Schriften aus. Wer aber durch dieses Formelwesen hindurch auf den Kern der Nietzscheschen Gedanken zu blicken vermag, der findet in diesen Schriften dieselben Absichten und Ziele, die in den späteren Werken zum Ausdruck kommen.

Man kann von Nietzsches Entwickelung nicht sprechen, ohne an den freiesten Denker erinnert zu werden, den die neuzeitliche Menschheit hervorgebracht hat, an Max Stirner. Es ist eine traurige Wahrheit, daß dieser Denker, der im vollsten Sinne dem entspricht, was Nietzsche von dem Übermenschen fordert, nur von wenigen erkannt und gewürdigt worden ist. Er hat bereits in den vierziger Jahren dieses Jahrhunderts Nietzsches Weltanschauung ausgesprochen. Allerdings nicht in solch gesättigten Herzenstönen wie Nietzsche, aber dafür in krystallklaren Gedanken, neben denen sich Nietzsches Aphorismen allerdings oft wie ein bloßes Stammeln ausnehmen.

Welchen Weg hätte Nietzsche genommen, wenn nicht Schopenhauer, sondern Max Stirner sein Erzieher geworden wäre! In Nietzsches Schriften ist keinerlei Einfluß Stirners zu bemerken. Aus eigener Kraft mußte sich Nietzsche aus dem deutschen Idealismus heraus zu einer der Stirnerschen gleichen Weltauffassung durchringen.

Stirner ist wie Nietzsche der Ansicht, das die Triebkräfte des menschlichen Lebens nur in der einzelnen, wirklichen Persönlichkeit gesucht werden können. Er lehnt alle Gewalten ab, die die Einzelpersönlichkeit von außen formen, bestimmen wollen. Er verfolgt den Gang der Weltgeschichte und findet den Grundirrtum der bisherigen Menschheit darin, daß sie nicht die Pflege und Kultur der individuellen Persönlichkeit, sondern andere, unpersönliche Ziele und Zwecke sich vorsetzte. Er sieht die wahre Befreiung des Menschen darin, daß dieser allen solchen Zielen keine höhere Realität zugesteht, sondern sich dieser Ziele als Mittel zu seiner Selbstpflege bedient. Der freie Mensch bestimmt sich seine Zwecke; er besitzt seine Ideale; er läßt sich nicht von ihnen besitzen. Der Mensch, der nicht als freie Persönlichkeit über seinen Idealen waltet, steht unter dem Einflusse derselben, wie der Irrsinnige, der an fixen Ideen leidet. Es ist für Stirner einerlei, ob sich der Mensch einbildet, der „König von China“, oder ob „ein behaglicher Bürger sich einbildet, es sei seine Bestimmung, ein guter Christ, ein gläubiger Protestant, ein loyaler Bürger, ein tugendhafter Mensch u. s. w. zu sein — das ist beides ein und dieselbe ‚fixe Idee‘. Wer es nie versucht und gewagt hat, kein guter Christ, kein gläubiger Protestant, kein tugendhafter Mensch u. s. w. zu sein, der ist in der Gläubigkeit, Tugendhaftigkeit u. s. w. gefangen und befangen.“

Man braucht nur einige Sätze aus Stirners Buch: „Der Einzige und sein Eigentum“ zu lesen, um zu sehen, wie verwandt seine Anschauung der Nietzscheschen ist. Ich führe einige Stellen aus diesem Buche an, die besonders bezeichnend für Stirners Denkweise sind.

„Vorchristliche und christliche Zeit verfolgen ein entgegengesetztes Ziel; jene will das Reale idealisieren, diese das Ideale realisieren, jene sucht den „heiligen Geist“, diese den „verklärten Leib“. Daher schließt jene mit der Unempfindlichkeit gegen das Reale, mit der „Weltverachtung“; diese wird mit der Abwerfung des Idealen, mit der „Geistesverachtung“ enden.

Wie der Zug der Heiligung oder Reinigung durch die alte Welt geht (die Waschungen u. s. w.), so geht der der Verleiblichung durch die christliche: der Gott stürzt sich in diese Welt, wird Fleisch und will sie erlösen, d. h. mit sich erfüllen; da er aber „die Idee“ oder „der Geist“ ist, so führt man (z. B. Hegel) am Schlusse die Idee in alles, in die Welt, ein und beweist, „daß die Idee, die Vernunft in allem sei“. Dem, was die heidnischen Stoiker als „den Weisen“ aufstellten, entspricht in der heutigen Bildung „der Mensch“, jener wie dieser ein fleischloses Wesen. Der unwirkliche „Weise“, dieser leiblose „Heilige“ der Stoiker, wurde eine wirkliche Person, ein leiblicher „Heiliger“ in dem fleischgewordenen Gotte; der unwirkliche „Mensch“, das leiblose Ich, wird wirklich werden im leibhaftigen Ich, in Mir.

Daß der Einzelne für sich eine Weltgeschichte ist und an der übrigen Weltgeschichte sein Eigentum besitzt, das geht über das Christliche hinaus. Dem Christen ist die Weltgeschichte das Höhere, weil sie die Geschichte Christi oder „des Menschen“ ist; dem Egoisten hat nur seine Geschichte Wert, weil er nur sich entwickeln will, nicht die Menschheits-Idee, nicht den Plan Gottes, nicht die Absichten der Vorsehung, nicht die Freiheit u. dergl. Er sieht sich nicht für ein Werkzeug der Idee oder ein Gefäß Gottes an, er erkennt keinen Beruf an, er wähnt nicht, zur Fortentwickelung der Menschheit dazusein, und sein Scherflein dazu beitragen zu müssen, sondern er lebt sich aus, unbesorgt darum, wie gut oder wie schlecht die Menschheit dabei fahre. Ließe es nicht das Mißverständnis zu, als sollte ein Naturzustand gepriesen werden, so könnte man an Lenaus „Drei Zigeuner“ erinnern. — Was, bin Ich dazu in der Welt, um Ideen zu realisieren? Um etwa zur Verwirklichung der Idee „Staat“ durch mein Bürgertum das Meinige zu thun oder durch die Ehe, als Ehegatte und Vater, die Idee der Familie zu einem Dasein zu bringen? Was ficht mich ein solcher Beruf an! Ich lebe so wenig nach einem Berufe, als die Blume nach einem Berufe wächst und duftet.

Das Ideal „der Mensch“ ist realisiert, wenn die christliche Anschauung umschlägt in den Satz: „Ich, dieser Einzige, bin der Mensch.“ Die Begriffsfrage: „was ist der Mensch?“ — hat sich dann in die persönliche umgesetzt: „wer ist der Mensch?“ Bei „was“ suchte man den Begriff, um ihn zu realisieren; bei „wer“ ist’s überhaupt keine Frage mehr, sondern die Antwort im Fragenden gleich persönlich vorhanden: die Frage beantwortet sich von selbst.

Man sagt von Gott: „Namen nennen Dich nicht“. Das gilt von Mir: kein Begriff drückt Mich aus, nichts, was man als mein Wesen angiebt, erschöpft mich; es sind nur Namen. Gleichfalls sagt man von Gott, er sei vollkommen und habe keinen Beruf, nach Vollkommenheit zu streben. Auch das gilt allein von Mir.

Eigner bin Ich meiner Gewalt, und Ich bin es dann, wenn Ich Mich als Einzigen weiß. Im Einzigen kehrt selbst der Eigner in sein schöpferisches Nichts zurück, aus welchem er geboren wird. Jedes höhere Wesen über Mir, sei es Gott, sei es der Mensch, schwächt das Gefühl meiner Einzigkeit und erbleicht vor der Sonne dieses Bewußtseins: Stell’ Ich auf Mich, den Einzigen, meine Sache, dann steht sie auf dem vergänglichen, dem sterblichen Schöpfer seiner, der sich selbst verzehrt, und Ich darf sagen:

„Ich hab’ mein’ Sach’ auf nichts gestellt.“

Dieser auf sich sich selbst gestellte, nur aus sich heraus schaffende Eigner ist Nietzsches Übermensch.

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