31.

Diese Stirnerschen Gedanken wären das geeignete Gefäß gewesen, in das Nietzsche sein reiches Empfindungsleben hätte gießen können. Statt dessen suchte er in Schopenhauers Begriffswelt die Leiter, auf der er zu seiner Gedankenwelt hinaufkletterte.

Aus zwei Wurzeln stammt, nach Schopenhauers Meinung, unsere gesamte Welterkenntnis. Aus dem Vorstellungsleben und aus der Wahrnehmung des Willens, der in uns selbst als Handelnder auftritt. Das „Ding an sich“ liegt jenseits der Welt unserer Vorstellung. Denn die Vorstellung ist nur die Wirkung, die das „Ding an sich“ auf mein Erkenntnisorgan ausübt. Nur die Eindrücke kenne ich, die die Dinge auf mich machen, nicht die Dinge selbst. Und diese Eindrücke sind eben meine Vorstellungen. Ich kenne keine Sonne und keine Erde, sondern nur ein Auge, das eine Sonne sieht, und eine Hand, die eine Erde fühlt. Der Mensch weiß nur: „daß die Welt, welche ihn umgiebt, nur als Vorstellung da ist, d. h. durchweg nur in Beziehung auf ein anderes, das Vorstellende, welches er selbst ist“. (Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung § 1.) Aber der Mensch stellt die Welt nicht bloß vor, sondern er wirkt auch in ihr; er wird sich seines Willens bewußt, und er erfährt, daß dasjenige, welches er in sich als Wille empfindet, von außen als Bewegung seines Leibes wahrgenommen werden kann, d. h. der Mensch nimmt sein eigenes Wirken doppelt wahr, von innen als Vorstellung, von außen als Wille. Schopenhauer schließt daraus, daß es der Wille selbst ist, der in der wahrgenommenen Leibesaktion als Vorstellung erscheint. Und er behauptet dann weiter, daß nicht nur der Vorstellung des eigenen Leibes und seiner Bewegungen ein Wille zu Grunde liege, sondern daß dies auch bei allen übrigen Vorstellungen der Fall sei. Die ganze Welt ist also, nach Schopenhauers Ansicht, dem Wesen nach Wille und erscheint unserem Intellekt als Vorstellung. Dieser Wille, behauptet Schopenhauer weiter, ist in allen Dingen ein einheitlicher. Nur unser Intellekt verursacht, daß wir eine Mehrheit von besonderen Dingen wahrnehmen.

Durch seinen Willen hängt der Mensch, nach dieser Anschauung, mit dem einheitlichen Weltwesen zusammen. Insofern der Mensch wirkt, wirkt in ihm der einheitliche Urwille. Als einzelne, besondere Persönlichkeit existiert der Mensch nur in seiner eigenen Vorstellung; im Wesen ist er identisch mit dem einheitlichen Weltengrunde.

Nehmen wir an, daß in Nietzsche, als er die Schopenhauersche Philosophie kennen lernte, schon der Gedanke des Übermenschen unbewußt, instinktiv vorhanden war, so konnte ihn diese Willenslehre allerdings nur sympathisch berühren. In dem menschlichen Willen war ihm ein Element gegeben, das den Menschen unmittelbar an der Schöpfung des Weltinhaltes teilnehmen ließ. Als Wollender ist der Mensch nicht bloß ein außerhalb des Weltinhaltes stehender Zuschauer, der sich Bilder des Wirklichen macht, sondern er ist selbst ein Schaffender. In ihm waltet die göttliche Kraft, über die hinaus es keine andere giebt.

Share on Twitter Share on Facebook