32.

Aus diesen Anschauungen heraus bildeten sich bei Nietzsche die beiden Ideen von der apollinischen und der dionysischen Weltbetrachtung. Sie wendete er auf das griechische Kunstleben an, das er demgemäß aus zwei Wurzeln entstehen ließ: aus einer Kunst des Vorstellens und einer Kunst des Wollens. Wenn der Vorstellende seine Vorstellungswelt idealisiert und seine idealisierten Vorstellungen in Kunstwerken verkörpert, so entsteht die apollinische Kunst. Er verleiht den einzelnen Vorstellungsobjekten dadurch, daß er ihnen die Schönheit einprägt, den Schein des Ewigen. Aber er bleibt innerhalb der Vorstellungswelt stehen. Der dionysische Künstler sucht nicht nur in seinen Kunstwerken die Schönheit auszudrücken, sondern er ahmt selbst das schöpferische Wirken des Weltwillens nach. Er sucht in seinen eigenen Bewegungen den Weltgeist abzubilden. Er macht sich zur sichtbaren Verkörperung des Willens. Er wird selbst Kunstwerk. „Singend und tanzend äußert sich der Mensch als Mitglied einer höhern Gemeinschaft: er hat das Gehen und Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung“ (Geburt der Tragödie § 1). In diesem Zustande vergißt der Mensch sich selbst, er fühlt sich nicht mehr als Individuum, er läßt in sich den allgemeinen Weltwillen walten. In dieser Weise deutet Nietzsche die Feste, die zu Ehren des Gottes Dionysus durch die Dionysusdiener veranstaltet wurden. In dem Dionysusdiener sieht Nietzsche das Urbild des dionysischen Künstlers. Nun stellt er sich vor, daß die älteste dramatische Kunst der Griechen dadurch entstanden ist, daß eine höhere Vereinigung des Dionysischen mit dem Apollinischen sich vollzogen hat. Auf diese Weise erklärt er den Ursprung der ersten griechischen Tragödie. Er nimmt an, daß die Tragödie aus dem tragischen Chore entstanden ist. Der dionysische Mensch wird zum Zuschauer, zum Betrachter eines Bildes, das ihn selbst darstellt. Der Chor ist die Selbstspiegelung eines dionysisch erregten Menschen, d. h. der dionysische Mensch sieht seine dionysische Erregung durch ein apollinisches Kunstwerk abgebildet. Die Darstellung des Dionysischen im apollinischen Bilde ist die primitive Tragödie. Voraussetzung einer solchen Tragödie ist, daß in ihrem Schöpfer ein lebendiges Bewußtsein von dem Zusammenhang des Menschen mit den Urgewalten der Welt vorhanden ist. Ein solches Bewußtsein spricht sich als Mythus aus. Das Mythische muß der Gegenstand der ältesten Tragödie sein. Tritt nun in der Entwickelung eines Volkes der Zeitpunkt ein, wo der zersetzende Verstand das lebendige Gefühl für den Mythus zerstört, so ist der Tod des Tragischen die notwendige Folge.

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