34.

Was hier in Betracht kommt, ist die Frage: was für eine Aufgabe stellte sich Nietzsche in seiner „Geburt der Tragödie“? Nietzsche ist der Ansicht, daß die älteren Griechen die Leiden des Daseins sehr gut gekannt haben. „Es geht die alte Sage, daß König Midas lange Zeit nach dem weisen Silen, dem Begleiter des Dionysus, im Walde gejagt habe, ohne ihn zu fangen. Als er ihm endlich in die Hände gefallen ist, fragt der König, was für den Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei. Starr und unbeweglich schweigt der Dämon, bis er, durch den König gezwungen, endlich unter gellem Lachen in diese Worte ausbricht: „Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst du mich, dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Ersprießlichste ist? Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich — bald zu sterben“ (Geburt der Tragödie § 3). In dieser Sage findet Nietzsche eine Grundempfindung der Griechen ausgedrückt. Er hält es für eine Oberflächlichkeit, wenn man die Griechen als das beständig heitere, kindlich tändelnde Volk hinstellt. Aus der tragischen Grundempfindung heraus mußte den Griechen der Drang entstehen, etwas zu schaffen, wodurch das Dasein erträglich wird. Sie suchten nach einer Rechtfertigung des Daseins — und fanden diese in ihrer Götterwelt und in der Kunst. Nur durch das Gegenbild der olympischen Götter und der Kunst wurde den Griechen die rauhe Wirklichkeit erträglich. Die Grundfrage in der „Geburt der Tragödie“ ist also für Nietzsche: Inwiefern ist die griechische Kunst lebenfördernd, lebenerhaltend gewesen? Nietzsches Grundinstinkt macht sich somit in Bezug auf die Kunst als lebenfördernde Macht schon in diesem ersten Werke geltend.

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