35.

Noch ein anderer Grundinstinkt Nietzsches ist in diesem Werke schon zu beobachten. Es ist die Abneigung gegen die bloß logischen Geister, deren Persönlichkeit vollständig unter der Herrschaft ihres Verstandes steht. Aus dieser Abneigung stammt Nietzsches Meinung, daß der sokratische Geist der Zerstörer der griechischen Kultur ist. Das Logische gilt Nietzsche nur als eine Form, in der sich die Persönlichkeit äußert. Wenn zu dieser Form nicht noch andere Äußerungsweisen treten, so erscheint die Persönlichkeit als Krüppel, als Organismus, an dem notwendige Organe verstümmelt sind. Weil Nietzsche in Kants Schriften nur den grübelnden Verstand entdecken konnte, nennt er Kant einen „verwachsenen Begriffskrüppel“. Nur wenn die Logik der Ausdruck für die tieferen Grundinstinkte einer Persönlichkeit ist, läßt sie Nietzsche gelten. Sie muß ein Ausfluß des Über-Logischen in der Persönlichkeit sein. Nietzsche hat an der Ablehnung des sokratischen Geistes immer festgehalten. Wir lesen in der Götzendämmerung: „Mit Sokrates schlägt der griechische Geschmack zu Gunsten der Dialektik um: was geschieht da eigentlich? Vor allem wird ein vornehmer Geschmack besiegt; der Pöbel kommt mit der Dialektik oben auf. Vor Sokrates lehnte man in der guten Gesellschaft die dialektischen Manieren ab; sie galten als schlechte Manieren, sie stellten bloß“ (Problem des Sokrates § 5). Wo nicht kräftige Grundinstinkte für eine Sache sprechen, da tritt der beweisende Verstand ein und sucht sie durch Advokatenkünste zu stützen.

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