Bei den Toten Weimars

»Dann, scheiden sie von diesem heil'gen Ort,
Wird als Geleitspruch sie umschweben
Das tapfre, siegesfreud'ge Wort
Des, der ein Kämpfer war: Gedenkt zu leben!«

Paul Heyse

»Lange leben heißt viele überleben.« So der alte Goethe an Zelter, als dessen Sohn stirbt. Das Wort ist berühmt. Der skeptische Seufzer eines Vielerfahrenen, um den schon die dünne Luft der Einsamkeit schwankt, und also Maxime, die Weltanschauung prägt. Es fröstelt einen. Und an gleicher Stelle, wo dies »leidige Ritornell« erklingt, heißt es müde weiter: »Mir erscheint der zunächst mich berührende Personenkreis wie ein Konvolut sibyllinischer Blätter, deren eins nach dem anderen, von Lebensflammen aufgezehrt, in der Luft zerstiebt …«

Eine fast mephistophelische Erkenntnis!

Doch ein anderes Wort des Greises loht aus den schweren Schatten dieser Melancholie wie Fanal hervor. Wieder gilt es Zelter, dem Getreuen. 1830. August, den Sohn und Erben, hat in Italien der Tod ereilt, der einem unseligen Leben Ziel setzte. Trost wehrt Goethe ab. »Prüfungen erwarte bis zuletzt!« schreibt er, seltsam gefaßt und ruhig, nach Berlin. Satz für Satz des Briefes entschwebt im gleichen getragenen Ton. Bis plötzlich das Feuer dieses Herzens noch einmal in steiler Flamme aufschießt und in dem Schlußwort: »Und so, über Gräber, vorwärts!« Trauer sich wandelt zu heroischer Geste.

Geht man in Weimar zu den Plätzen, wo die Toten ruhen, so werden diese Goethe-Worte seelische Begleitmusik dem Wege, den man schreitet.

Zwei solcher Plätze hat Weimar.

Da es noch die kleine, weltverlorene Residenz, deren kaum gekanntem Namen nur der wilde Ruhm des Herzogs Bernhard[168] im Dreißigjährigen Kriege flüchtigen Klang gegeben, trug man die Toten der Stadt auf den Jakobsfriedhof. Den winkeln noch heute Gassen so eng ein, daß ihn nur findet, wer ihn sucht. Steht man auf der Höhe über Weimar, vor dem Prunkbau des Museums, dann sieht man hinter der alten Asbach-Talmulde wohl den schwarzen Turm der Jakobskirche spitz und schlank aus dem braunen Dächergewirr steigen … mit den Türmen von Schloß und Stadtkirche weithin uraltes Wahrzeichen der Stadt. Aber kaum betritt man diese selbst, so verschwindet er, Häuserzeilen fangen das Auge, und vor Straßenbahn und Auto verkriecht sich das Gestern, als ob es nicht stören wollte.

So tot ist es in Weimar nirgends wie hier auf diesem Friedhof. Fachwerk und Giebelwand, draus schläfrig halbblinde Fenster blinzeln, ein Stift, ein karger Garten über bröckelnder Mauer — das ist der ärmliche Rahmen einer Stätte, wo ganze Geschlechter den letzten Schlaf fanden, noch jetzt auf Stein und Säulenstumpf Namen von Glanz prunken.

Einst hürdeten Mauern den Platz. Eine »Totengasse« mit schmaler Pforte führte zu ihm. Die Mauern sind gefallen, als neue Zeit den Hügelwirrwarr der Vergangenheit einebnete, Licht und Luft schuf, wo Trauerweide und Rosenstock sich im Laufe von Jahrhunderten zu undurchdringlicher Wildnis verstrickt hatten … ja, die Mauern sind gefallen, und der Weg der Toten heißt jetzt weniger triste die Kleine Kirchgasse. Aber die Kirche steht wie ehedem, da man sie, Anno 1712, in schmucklosem Barock neu aufbaute, schwer wuchten ihre Quadern aus dem Rasenboden, schwer lastet das gebrochene Dach auf ihren steilen Pfeilern. Und auch der Gräber hat man etliche geschont. Verstreut liegen sie in die Kreuz und Quer.

Und wie man so von einem Grab zum andern geht, hier an einem völlig eingesunkenen Hügel verweilt, dort versonnen die verwitterten Steinplatten betrachtet, die verloren an der Kirchenmauer lehnen, naht Erinnerung und schlägt in Bann.

Denn wurde hier nicht, ein Maiabend war's, und nie hätten, wie Caroline von Wolzogen erzählt, die Nachtigallen »so anhaltend und volltönend« gesungen wie in dieser Nacht, Schiller beigesetzt? Verse Conrad Ferdinand Meyers klingen auf:

»Ein flatternd Bahrtuch. Ein gemeiner Tannensarg
Mit keinem Kranz, dem kärgsten nicht, und kein Geleit!
[169] Als brächte eilig einen Frevel man zu Grab.
Die Träger hasteten. Ein Unbekannter nur,
Von eines weiten Mantels kühnem Schwung umweht,
Schritt dieser Bahre nach. Der Menschheit Genius war's.«

Schrecklich! Man sieht den dünnen, im Fackellicht gespenstisch schwankenden Zug in der finsteren »Totengasse«, sieht, ganz in dunklen Schatten, das »Kassengewölbe« an der Mauer, das mit schwarzem Tore wartet … ungeduldig wartet, nur wieder zufallen zu können hinter dem »gemeinen Tannensarg«. Man sieht das, derweilen man vor der Marmortafel grübelt, die da, wo bis 1853 das »Kassengewölbe« stand, in die Mauer eingelassen ist. Und die in steifen Lettern nüchtern erzählt, daß hier Schillers erste Begräbnisstätte.

Nun ruht er ja in der Fürstengruft. 1825, zwanzig volle Jahre später, nur noch Schädel und nacktes Gebein, dorthin gebracht, als man schon kaum mehr am zerfallenen und vermoderten Sarg feststellen konnte, ob es auch wirklich sein Schädel, wirklich sein Gebein war, die am ehrte, Goethe im »ernsten Beinhaus« erst den richtigen Schädel an seiner »geheimnisvollen Form«, an der »gottgewollten Spur« herausfinden mußte.

Diese zwanzig Jahre sind für das Weimar Goethes und Carl Augusts ein böses Rätsel. Wie war das möglich? Hatte Knebel recht, der einmal an seine Schwester Henriette schreibt: »Es ist sündlich, wie man in Weimar mit den Toten umgeht; über Personen, die wirkliche Verdienste für sich und die Gesellschaft[170] hatten, habe ich acht Tage nach ihrem Tode auch nicht einen Laut mehr reden hören!« Knebel meint, 1802, Corona Schröter. Aber das Vergessen, das diese in Ilmenau begrub, hielt auch die Pforte des »Kassengewölbes« auf dem Jakobsfriedhof geschlossen … ein Vergessen, das um so unverständlicher, als der Weimarer Hof doch Sonntag für Sonntag hier an den Gräbern vorbei zum Gottesdienst schritt, da die Jakobskirche zugleich Hofkirche war.

Es war im Oktober 1806. Der Krieg war über Weimar dahingegangen. Goethe hatten im eigenen Hause Marodeure attackiert, Christiane, damals noch Demoiselle Vulpius, hatte ihm durch Geistesgegenwart das Leben gerettet. Dankbar machte er sie auch vor der Welt jetzt zu dem, was sie, seines August Mutter, für ihn selbst schon längst war: zu seiner Frau.

In der Jakobskirche war die Trauung. In der Sakristei. Hart daneben an der Mauer, für alle, die zur Sakristei gingen, nicht zu übersehen, das »Kassengewölbe«. Wenig mehr als ein Jahr war es her, daß Schiller hier beigesetzt. Wenig mehr als ein Jahr, daß Goethe an Zelter geschrieben: »Ich glaubte, mich selbst zu verlieren, und verliere einen Freund und mit ihm die Hälfte meines Daseins.« Wenig mehr als ein Jahr, daß er den Toten in seinem »Epilog zur Glocke« in Lauchstädt schwärmend gefeiert. Aber nichts deutet darauf hin, daß ihm die triste Gruft, armselig und würdelos wie die Bestattung, die ihr »der Menschheit Genius« zugeführt, je gerührt … auch nicht, da er, Christiane am Arm, hier zur Trauung schritt. »Der Lebende hat recht!« heißt es im »Faust«. Goethe sah die Gestorbenen nur noch als Scheinbilder, die er, der Realist, negierte, so sehr er sie auch bedauerte und betrauerte.

Tragisches Geschick, daß die, die hier in später Trauung Erfüllung ihrer Lebensträume fand, zur gleichen Stätte als Tote kehrte! Auch sie bestattet, als ob sie irgendeine beliebige Bürgersfrau und nicht Christiane von Goethe, eines Goethe Frau und Exzellenz gewesen. Wenn heute wenigstens Eisengitter und Steinplatte den Platz schmücken, wo sie seit 1816 still und alleine ruht (höchstens gleicher Erde mit ein paar ihrer kleinen totgeborenen oder schnellgestorbenen Kinder), so ist das Liebesdienst[171] von Goethe-Freunden. Mann, Sohn und Enkel fanden nie den Weg … der Mann, dem sie ein Menschenalter Hausfrau und rührendste Geliebte, der bei ihrem Tode ergreifend klagte, daß der ganze Gewinn seines Lebens wäre, ihren Verlust zu beweinen; der Sohn, dem sie die beste Mutter und Freundin; die Enkel, die doch auch ihres Blutes.

Arme Christiane! Da hat man alle die, die zur Familie Goethe gehören, auf anderem Friedhof sorglich vereint, selbst die fremden Frauen, die August, der Sohn, durch seine Heirat in diese Familie hineingeführt; da hat man deines eigenen Gatten Sarg neben den Särgen von Herzögen und Herzoginnen in fürstlicher Gruft aufgestellt … nur dich hat man vergessen. Das ist Feme und ist Unrecht noch über den Tod hinaus!

Denn du warst doch seine Frau!

Aber ob Frühling oder Sommer, ob Herbst oder Winter, nie flattert eine Blume auf dein kaltes Grab, und daß sich jemand über das Gitter lehnt und mit dir leise Zwiesprach hält, dir liebe Worte zuruft, den dunklen Stein, der deinen Namen trägt, mit Blicken streichelt, ich fürchte, es geschieht nicht oft. Höchstens der Wind, der durch Weimars enge Straßen läuft, der bringt dir vielleicht zuweilen einen Gruß, weht Schmeichellaut dir zu[172] und Kuß vom fernen Garten am Stern, wo du, ein »loses, leidig-liebes Mädchen«, einst in römisch-schwüler Nacht von Goethe den Sohn empfangen. Da mag vielleicht dann auch das Rauschen der Ilm an dein schlafendes Ohr dringen, und mit ihm die Stimme des Freundes. Alt ist das Lied, das diese Stimme singt, und traurig ist es auch. Wie geht es doch?

»Fließe, fließe, lieber Fluß!
Nimmer werd' ich froh,
So verrauschte Scherz und Kuß
Und die Treue so.«

Die Bäume über dir, sie fangen den Klang auf. »Und die Treue so!« klagt das Echo. Die Kinder, die in wildem Spiele hier über die Gräber toben, überlärmen es. Und der Wind der Gasse fegt Unrat zusammen, wo Rosen blühen sollten.

Noch eine andere Christiane liegt auf dem Sankt-Jakobsfriedhof begraben, auch eine Goethesche. Christiane Becker, geb. Neumann. Euphrosyne hat Goethe sie genannt, als Euphrosyne hat er die kleine, blutjung gestorbene Schauspielerin unsterblich gemacht in unsterblichem Liede. So eine Schwester der Corona, ist sie wie diese Gestalt in den Werken: Mignon, — Mädchen und lieblichstes Kind und auch »verstellter Knabe«. Oder, wie das Gedicht an anderer Stelle will:

»Knabe schien ich, ein rührendes Kind, du nanntest mich Arthur
Und belebtest in mir britisches Dichter-Gebild …«

Ein Goethe-Geheimnis umschwelt das bescheidene Grab. Auch hier Stein und Gitter, nichts weiter. Aber die darunter schläft, Gattin und Mutter wider Willen, sie ward nicht vergessen. Liebe gab ihr Anno 1800 im Park, auf dem Rosenhügel des Rothäuser Gartens, eine Säule mit Inschrift. Heinrich Meyer entwarf sie, der Bildhauer Döll führte sie aus: Genien im Tanz, die Spitze lodernde Flamme. Als der Parkteil Privatbesitz wurde, die Besitzer eigensüchtig die Säule vor fremdem Blicke bargen, ließ Wildenbruch sie kopieren. Mit neuen Versen von ihm steht sie nun auf dem Hügelhang neben Goethes Garten am Stern, von Efeu umhäkelt, von wilden Veilchen und, kommt der Herbst, von Herbstzeitlosen umblüht … ein süßes, trauriges Lied, das Monument geworden.

[173]

Stein auch die anderen Gräber des Jakobsfriedhofs, Zopf und Empire in Stil und Schnörkel. Mühsam entziffert man die Lettern. Da ruht Georg Melchior Kraus, der Maler, dem halb Weimar sein Bildleben in Stich und Aquarell dankt, Freund und Reisebegleiter Goethes. Da Johann Joachim Christian Bode, der Übersetzer: »Freunde setzten ihm dies Denkmal, dem Leser zur Erinnerung, für sie bedurfte es keines.« Musäus, der Märchendichter. Und ein ganz Großer: Lukas Cranach. Der Stein lehnt an der Kirchenmauer, eine Nachbildung. Das Original findet man in der Stadtkirche … in der uralten Stadtkirche zu St. Peter und Paul auf dem Herderplatz, deren schönster Schmuck das Altargemälde Lukas Cranachs, deren Allerheiligstes die Gruft Anna Amalias. Und ein paar Schritte ab unter der Orgelempore, die ihres Freundes Herder. So mischen sich in Heiligenlegende und Fürstenhistorie, hier seit Jahrhunderten gehütet in magischem Dämmer, die »Stimmen der Völker in Liedern«, denen der Fromme sein Leben lang begeistert gelauscht.

Auch er liegt hier allein, fern der Frau, die ihm Gefährtin und Mutter so vieler Kinder war. Wer das Grab Caroline Flachslands sucht, muß zurück zum Jakobsfriedhof … ohne es wahrscheinlich dort zu finden. Denn es ist eins der vielen namenlos gewordenen Gräber, grasverwachsen, eingesunken der Hügel, und die Inschrift des Steins haben die vielen Kinderfüße verwischt, die hier jahraus, jahrein darüber hinwegtollen: junges Leben, das der Majestät des Todes nicht achtet und Haschen spielt, wo dem Wissenden Trauer das Auge verschleiert.

Nachts, wenn der Mond die Giebel der Häuser mit Silberlicht beträufelt, geht zwischen den Gräbern hier die Vergangenheit spazieren. Rückt hier an einem schiefgewordenen Stein, legt dort einen frommen Kranz nieder. Die Bäume seufzen. Doch naht der Morgen, der Sonne bringt, verfliegt der Spuk, und die Steine liegen wieder schief, und die Kränze sind verschwunden.

[174]

Bis 1840 etwa brachte Weimar noch Tote auf den stillen Kirchplatz. Aber schon 1818 wurde der »Neue Friedhof vor dem Frauentor« eröffnet, oben am Poseckschen Garten, wo jetzt in Anlagen das Wildenbruch-Denkmal steht … und so modern Anlagen und Denkmal sind, das braune Posecksche Haus dahinter, ganz die Zeit um 1800, dämpft das Heute, ist der abgelegenen Gegend Kulisse der Vergangenheit und ein Stück Goethe-Welt, die das Gestern beschwört.

Und Goethe-Welt ist dieser Friedhof, nun schon lange wieder zum »Alten Friedhof« geworden. Verwittert die Mauer, angerostet die Gittertore. Bäumchen und Sträucher von einst Wipfelgebirge und üppig wucherndes Gebüsch. Die schwanke Trauerweide, die man dem ersten Toten, der hier 1818 bestattet wurde, einem Schauspieler Eulenstein, auf den Grabhügel gesetzt hat, ist Riesenbaum geworden, der weithin über andere Gräber schattet. Bei diesen Gräbern wohnt die letzte Stille, wohnt die Vergessenheit. Hier hört das Leben Weimars auf.

Hört es auf? Beginnt es nicht erst?

Durch die Baumwipfel fällt schräg die Abendsonne. Sie vergoldet das Kreuz auf der Fürstengruft. Es gibt nicht nur der schattendunklen Allee Licht, die zu Coudrays schönem Bau führt, es leuchtet Deutschland und der Welt. Denn hier ruht Goethe. Flüsterlaut der Grabkapelle wird Andacht und Schweigen in der Gruft. Wie kühl Wand und Gewölbe! Wie dünn die Luft! Und doch atmet man schwer, atmet beklommen; es ist, als ob der Takt des Herzens fürchte, in all den stummen Särgen Echo zu wecken.

Welke Kränze. Schleifen. Kandelaber, die Krepp umflort. Steil darauf die Kerzen. Blumen, die im Vergehen duften … Treue hat sie niedergelegt auf Goethes Sarg, auf Schillers Sarg, auf Carl Augusts Sarg. Holz, Samt, Bronze, so stehen sie da, diese Särge, auf kaltem Steinpodest, von kaltem Stein umgeben. Nur die der beiden Dichter tragen Namen. Für die anderen gibt die Eintrittskarte, zugleich ein Orientierungsplan, stumm die Erklärungen. Und da findet man das ganze Weimarische Fürstenhaus, von Herzog Wilhelm IV., dem Stammvater, bis auf Carl August und Luisen, Carl Friedrich und Maria Paulowna, Carl Alexander und Sophie. Großherzöge, Erbgroßherzöge,[176] Herzöge und Prinzen und ihre Frauen … eine ganze erlauchte Dynastie.

Die Fürstengruft auf dem Alten Friedhofe
am Poseckschen Garten

Und mitten unter ihnen, mehr als sie alle von Gottes Gnaden Königliche Hoheit: GOETHE.

Es ist sein Name, den das goldene Kreuz der Kuppel in die Welt brennt, es ist sein Gebein, das diese Gruft heiligt, es ist sein Geist, der von hier aus unablässig »über Gräber vorwärts« dringt und immer neuen Segen spendet.

Noch drei andere Kreuze schimmern hell in der Abendsonne. Gleich hinter der Fürstengruft. Auf drei Zwiebeltürmchen. Auf dem höchsten das russische mit dem zweiten schrägen Querbalken. Das ist die Russische Kapelle, ganz in Grün versteckt, ganz von Gräbern bis dicht an die Mauern umbrandet, 1858 für die tote Maria Paulowna gebaut, die dem Glauben ihres Vaterlandes treu geblieben war. Da steht ihr Sarg nun an geweihter Stätte und doch nahe dem des Gatten in der Fürstengruft: Carl Friedrichs, und ruft der Jüngste Tag, an den sie beide glaubten, dann können sie aus ihren Sarkophagen Hand in Hand zum Licht emporsteigen, die russische Kaisertochter und der deutsche Fürst, dem zuliebe sie einst die Heimat geopfert.

Dann gesellen sich vielleicht auch Treue aus den Gräbern zu ihr. Ihr halber Hofstaat liegt ja hier. Ihre Oberhofmeisterin zum Beispiel, die Gräfin Ottilie Henckel von Donnersmarck, Ottilie v. Pogwischs Großmutter, der unweit eine feierliche Steinkammer letzte Ruhestätte ist. Oder andere, Hofdamen und Kammerfrauen … das russische Kreuz kehrt immer wieder, zuweilen in gleichem Gitter dem unsrigen auf zweitem Grab vereint, wo dann Gatten verschiedener Konfession ruhen.

Und wie man durch die Gräberreihen geht, hier vorsichtig ein morsches Holzkreuz meidend, das schon wieder Erde werden will, dort von verwittertem Stein die Efeuranken hebend, um die Inschrift zu enträtseln, bedrängt Vergangenheit immer stärker das Herz. Eine tote Zeit steht auf. Namen klingen, die in Büchern ewiges Leben; der ganze Goethe »berührende Personenkreis« ist hier Hügel an Hügel, Mal für Mal versammelt.

Da gleich neben der Fürstengruft der Obelisk gilt Eckermann. Carl Alexander hat ihn »seinem Lehrer in dankbarer Erinnerung errichtet«. Und »Göthes Freund« … wie die andere Seite meldet. Auch Johanna Eckermann, die Frau, geb. Bertram[177] aus Hannover, ruht hier auf dem Alten Friedhof. Sie hatte, eine alternde Braut, lange gewartet, ehe der ewig unentschlossene Bräutigam sie nach Weimar holte … vielleicht war auch Goethe schuld, der Eckermann für sich allein haben wollte. Es ist auch nur ein kurzes Glück gewesen: 1834 schon starb Johanna, und da störte niemand mehr den Eckermann, ganz seinem Goethe zu leben.

Da liegen an der Mauer, hart an der Straße, einträchtig beieinander Pius Alexander Wolf, der Schauspieler, Riemer und seine Frau Caroline, geb. Ulrich (die Uli, Christianens muntere Gesellschafterin), Carl Augusts Leibarzt Dr. Huschke, die Schauspieler Eduard Genast und Carl Ludwig Oels. Auch Heinrich Meyer liegt hier mit seiner Frau, Goethes alter Freund und langjähriger Hausgenosse am Frauenplan, der »Kunschtmeyer«, wie man ihn spöttelnd nannte … und gewiß erzählt die Historie manche Schnurre von ihm; aber sie weiß auch, daß er den Tod Goethes nicht verwinden konnte und ihm wenige Monate später nachstarb, weiß, daß er ein Philanthrop war, dem »das dankbare Weimar« das hübsche Denkmal setzte, das hier an ihn erinnert.

Gegenüber ein schlichter Stein auf flachem Hügel: Christine Kotzebue aus Wolffenbüttel, geb. Krüger, des berühmten Kotzebue Mutter, die Frau von Anna Amalias Kabinettssekretär … aber während der schon 1765 starb, hat sie bis 1828 gelebt. Und hat also Ruhm, Schande und sogar den häßlichen Tod des »großen« Sohnes erlebt und überlebt: welch ein Mutterschicksal!

Drüben die andere Mauer aber, hinter der der »Neue Friedhof« beginnt, ist stärkere Lockung. Alt-Weimar hat hier zunächst seine Geschlechtertafeln: die Ludecus und Coudray, die Conta und Buchwald, die Falk und Kirms, die Thon und Swaine … schlichte schwarze Eisentafeln mit goldenen Buchstaben, einfach in die Mauer eingelassen, mit der sie nun, efeuübersponnen, fast eins. Aus Johannes Falks, des Waisen- und Kinderfreundes, Grab wächst eine riesige Linde hervor: »Unter dieser grünen Linden / Ist durch Christus frei von Sünden / Herr Johannes Falk zu finden …« betet einfältig-rührend die Steinplatte. Und dankbar denkt man seines »Kriegsbüchleins«, das so hübsch »Weimars Kriegsdrangsale in dem Zeitraum von 1806 bis 1813« schildert.

[178]

Auch die Familie Mieding hat hier ihren Platz … man weiß: Goethes Gedicht »Auf Miedings Tod«; aber der »gute Mann«, den der junge Goethe so gepriesen, der liegt hier nicht, lag wohl an der Jakobskirche; es sind Nachfahren, die an ihn mahnen.

Und hier an der Mauer auch das Grab oder die Grabstellen, um deretwillen Fremde von weit her kommen: Charlottens und das der Familie Goethe. Alltag verfliegt, steht man davor, und Frauenplan und Ackerwand bauen aus längst verflogenen Stunden Glückes wie Leides Zauberwelten auf. Die Goethe Gesellschaft hat Frau von Stein dies Denkmal errichtet: in Sandsteinumrahmung das Marmormedaillon mit dem zarten, etwas schwermütigen Kopf Charlottens. Darüber der Goethesche Stern. Das Ganze ein wenig steif, ein wenig förmlich — unsinnlich, wie die, der es Erinnerung. Wind macht sich auf, und die Bäume ringsum rauschen. Selbst der Efeu rauscht. Da fängt das Ohr vertrauten Laut:

»Sag', was will das Schicksal uns bereiten?
Sag', wie band es uns so rein genau?
Ach, du warst in abgelebten Zeiten
Meine Schwester oder meine Frau …«

Der Goethe von 1776. Zehn Jahre, und das Glück (das nie ein Glück gewesen, höchstens ein Schein-Glück) zerbrach. Freundschaft versuchte, als der Lebensabend nahte, die Scherben zu kitten. Aber als man die Tote, letztem Willen ungehorsam, an den Frauenplanfenstern vorübertrug, verbarg sich der, dem sie in abgelebten Zeiten Schwester oder Frau.

[179]

Iphigeniens Seele. Eleonorens. Charlotte in den »Wahlverwandtschaften«. Die Gräfin im »Wilhelm Meister«. Briefgeliebte wie keine andere deutsche Frau und, in Stunden des Rausches, vielleicht auch Glück den heißen Sinnen. Nun ein starres Medaillon aus kaltem Stein, Augen, die ins Leere blicken, die suchen und nie mehr finden. Denn der Goethe der Fürstengruft, ein allem Irdischen Entrückter, blickt von ihr weg nach Osten. Das »Alles um Liebe« tönt seinem Ohr nicht mehr.

Es tönt nur uns.

Daneben Goethes Familie. Fünf flache Hügel … jeder Bourgeois-Hügel auf großstädtischem Massenfriedhof zeigt mehr Prunk. Aber über diesen fünf Hügeln liegt in der Mauer, die die Namensplatten trägt, in Tempelnische die süße Mädchengestalt, die selbst Flüchtige fesselt: Alma, des Dichters Enkelin. Am Frauenplan lächelt, rosengeschmückt, die Lebende: Luise Seidlers Bild; hier schläft sie, Marmor geworden. Ja, schläft sie? Atmen diese Kinderbrüste nicht? Will sich die Hand, die den Maiblumenstrauß hält, nicht bewegen? Der schmale Fuß nicht das Lager verlassen? Traum macht die Lider schwer. Nein, sie ist tot. Dieser Busen birgt kein lebendiges Herz. Diese Hand wird nie mehr mit Blumen spielen. Dieser Mund sich nie mehr zu frohem Lachen öffnen.

Unstet fuhr sie durch die Welt, da sie lebte, von der Mutter, die im Taumel Ruhe suchte, hin- und hergerissen. Starb sechzehnjährig und frühreif 1844 in Wien am Typhus. Wurde in Währung begraben, 1895 in Weimar »zur letzten Ruhe bestattet«, und erst 1910 erhielt sie das Denkmal, das bis dahin am Frauenplan im Keller gestanden … welch' eine Fülle von wilden Schicksalen! Das Blut des Vaters, das noch über den frühen Tod hinaus Abenteuer und Fluch bedingte? Kaum. Den Ottilie v. Pogwisch liebte, da sie Alma empfing, war nicht August von[180] Goethe, sondern einer der vielen Engländer, die damals nach Weimar drängten zu der schönen Frau v. Goethe. War Charles Des Voeux, ein junger Schotte. Aber der Mutter unruhiges Blut prägte dieses bittere Mädchenlos.

Ja, Ottilie v. Pogwisch, nun bist auch du längst zur Ruhe gegangen. Daß Goethe in deinen Armen gestorben, ist dein Ruhm. Ihm verdankst du Unsterblichkeit. Friedlich liegst du hier mit Mutter und Kindern … eine Unglückliche unter Unglücklichen. Deines Mannes Grab in Rom überschattet die Pyramide des Cestius, italienische Zypressen schwanken darum, wenn der heiße Südwind weht. Deine Söhne, deine Tochter aber hat der Tod dir wieder an das Herz gelegt, unter dem sie einst verhängnisvoll keimten … alle krank und lebensfremd, unfroh der Bürde des Namens, die sie zeitlebens drückte.

»Mit ihm erlosch Goethes Geschlecht, dessen Name alle Zeiten überdauert,« meldet Walthers Stein. Ja. Der Morgenstern, der dieses Namens Symbol, wird ewig leuchten. Sein Glanz umstrahlt auch die, die unter seinem Lichte litten und die geblendeten Augen in dem Dämmer der Dachstuben am Frauenplan verbargen … die Freiherren waren und doch so wenig frei, so wenig Herr, nur arme Menschen.

Über das eiserne Gitter gelehnt, blickt man auf ihre Gräber, und die Seele, trauervoll bewegt, schickt Gebete in die Fernen, die keiner kennt.

Und weiter. Namen über Namen, jeder irgendwie mit Goethe verknüpft. Es ist erschütternd, wie weit der Umkreis dieser Welt noch im Grabe. Laßberg, Pappenheim, Beulwitz, Egloffstein, Wolfskeel — der Adel Weimars. Auch die »kleine Waldner« fehlt nicht, Luise Adelaide v. Waldner, wie Frau v. Stein Hofdame der Herzogin Luise. Und nur allzu oft der eifersüchtigen Charlotte ein Dorn im Auge, wenn sie ihren Freund von dem immer lachlustigen, koketten Persönchen gefesselt glaubte. Tragikomisch auch eine Tagebuchstelle Goethes von 77: »Abends Kronen und Herzog bei Laiden ertappt« … Krone die Schröter, und Laide die Waldner, und das Ganze der Anfang vom Ende: denn selbst mit einem Herzog teilte Goethe nicht, wo er liebte. Mein Gott, wie lange ist das her![181] Doch weiter: da ein Wieland! Carl, der Sohn, großherzoglicher Rechnungsrat. »Kein Dichter war des großen Dichters Sohn.« Man denkt an das enge, kinderreiche Haus gegenüber dem Wittumspalais, denkt an Oßmannstedt. Da Luise Seidler, die Malerin aus Jena, von Goethe väterlich betreut. Kersting hat sie als »Stickerin am Fenster« gemalt, ein berühmtes Bild; die Kaiserin Augusta war ihre Schülerin. Auch ein Vulpius-Grab weckt Erinnerungen: Rinaldo und Bianca … Rinaldo, der Sohn von Christianens Bruder; er trägt den Namen des »Helden«, dem sein Vater im Roman zu so traurigem Ruhm verhalf. Andere Gräber: Bonaventura Genelli, Johann Nepomuk Hummel, Hufeland, der Arzt, Dr. Heinrich Goullon, der Ratsmädelfreund, Schwerdgeburth, der Maler oder, wie der Grabstein will: Hofkupferstecher. Sein Goethe-Kopf, der beste, den es gibt, schwebt unsichtbar als Denkmal über dem bescheidenen Erbbegräbnis. Und ganz in der Nähe das Müllersche: ein einziges Efeubeet. Hier ruht der Kanzler v. Müller, einer der treuesten Freunde, die Goethe, einer der besten Diener, die Carl August hatte. Nichts erinnert an ihn als auf rostiger Eisentafel der Familienname. Und die »Unterhaltungen«. Die allerdings sind dauernder als Tafeln aus Erz oder Stein.

Derweilen ist es Abend geworden. Der Himmel schimmernder Opal, in dem schon, leicht wie Flaum, der Mond schwimmt. Schatten schwanken um die Gräber. Eine alte Dame, ganz in Schwarz, zittrig und gebückt, Vergißmeinnicht in der welken Hand, täuscht Vergangenheit, die hier bei den Toten ihr Leben von gestern sucht. Ist es Adelheid v. Schorn, die mit der tiefen Pietät der Greisin aus Jugenderinnerungen und zwei Menschenaltern das »nachklassische Weimar« aufgebaut? Nein, die hat hier auch schon ihre letzte Ruhe gefunden: die Urne auf mütterlichem Grab, von frommem Kranz umwunden, ist Denkmal, das an sie gemahnt. Oder ist's das Gomelchen, Isebies Böhlaus Großmutter? Auch die ist ihrem Freunde Budang schon in den Tod gefolgt … Röse hieß sie, da sie jung war, und war eins von den lustigen Ratsmädeln aus der »Wünschengasse«, über deren tolle Streiche Goethe und der Herzog so oft gelacht. Und auch Charlotte Krackow ist es nicht, die bis zu ihrem späten Tode anno 15 in dem schönen Kirmsschen Hause in der Jakobsgasse gewohnt und noch Goethe gekannt, die letzte übrigens, die[182] ihn gekannt. Denn die ruht auf dem »Neuen Friedhof«. Es wird wohl die Erinnerung selbst sein, die hier im Abend gespenstert, ruhig und gelassen, wie man in Weimar eben gespenstert!

Denn jetzt ist es fast dunkel geworden. Nur vom »Silberblick« her fliegt noch ein wenig Licht des entsunkenen Tages über die Baumwipfel, erhellt notdürftig die Wege, die ganz in stummem Schweigen liegen. Auch die Vögel sind stille geworden, die unbekümmert um die Stätte der Trauer, die ihnen Zufall als Heimat gegeben, den ganzen langen Tag über der Sonne und dem Leben zugejubelt. Kühl weht es über die Gräber. Wo ist die alte Dame geblieben? Wo das Kreuz der Fürstengruft? Hart fällt das Gitter hinter dem späten Besucher ins Schloß, verdrossen riegelt der Friedhofswärter zu. Nacht umfängt die Toten Weimars.

Und da klingt noch einmal das Wort des alten Goethe auf. »Und so, über Gräber, vorwärts!« Trost, der ins Leben zurückgeleitet, das freundlich aus erhellten Fenstern auf Weimars Gassen und Plätze lächelt. Mond und Sterne wandern am Himmel mit. Und die Brunnen rauschen. Sie rauschen wie vor hundert Jahren, da noch der alte Goethe ihrer Zaubermelodie gelauscht.

[183]

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