Die drei Schlösser Dornburg

Es spricht sich aus der stumme Schmerz,
Der Äther klärt sich blau und bläuer —
Da schwebt sie ja, die goldne Leier,
Komm, alte Freundin, komm ans Herz.

Goethe

Wer von Berlin nach München fährt, sieht bald hinter Kösen auf steiler Bergeshöh hart an der Saale drei Schlösser liegen. Das mittlere, ein zierlicher Rokokobau mit hellen Fenstern, steht zwischen dem uralten Gemäuer der beiden anderen wie ein lichter Traum. Das sind die drei Schlösser Dornburg. Der Zug rast hochmütig daran vorbei, gerade, daß das Auge den Stationsnamen erhascht. Und in der Erinnerung bleibt ein Landschaftsbild von eigenartig feinem Reiz.

Dornburg? Ein Name wie so viele andere. Kaum einer, der ihn kennt, kaum einer, der stutzt und an Goethe denkt. Denn die Vielen wissen noch immer nichts von ihm, der dieses ganze Land zwischen Saale und Ilm auf ewige Zeiten geweiht hat. Und doch schwingt auch hier verklärender Schimmer um Turm und Giebel, und mögen Wein und wuchernder Efeu die drei bescheidenen Schlösser über der Saale noch so dicht und heimlich umranken, ihr stiller Zauber bleibt. Der Name Goethe triumphiert über alle Vergessenheit.

Den Weimar-Pilger führt der Weg über Jena nach Dornburg. Nicht dem brausenden D-Zug erschließt sich diese ganze stille Welt, nur dem gemächlichen Wanderschritt.

Schon die Stadt an der Ilm hat mit ihren weihevollen Erinnerungen süße Ruhe über das Herz gebreitet. Nun ist man auf ein Weilchen in Jena untergetaucht. In die engen Gassen, die winkligen Plätze schicken die grünen Berge ringsum Waldesduft und köstliche Frische. Aber unablässig spricht die Vergangenheit[143] in alles Gegenwärtige hinein, die schmucklosen grauen Häuser der Altstadt mit ihren verwunschenen Höfen und Gärten atmen den Hauch einer toten Zeit aus, und man braucht nicht erst auf die abgelegenen Friedhöfe hinter dem Botanischen Garten zu gehen, um den Schatten der Goethe- und Schillerzeit zu begegnen und sich in die Tage der Romantiker zu verlieren. Man wird auch so auf Schritt und Tritt daran gemahnt. Und verwundert steht man vor den jetzt fast armselig anmutenden Stätten, von denen aus einst deutscher Geist die Welt umspannte und in deren weltverlorener Heimlichkeit die großen Dichtungen entstanden, die noch jetzt unserem ganzen Schrifttum Ziel und Richtung geben. Wie für uns, so war auch für Goethe fast immer Jena Station, wenn er nach Dornburg fuhr, der alten »Felsenburg«, wie er es in einem späten Brief an Knebel nennt. Bei diesem, der am »Paradies« an der Saale ein »paradiesisches Heim« hatte, wohnte er dann meist. »In Jena, in Knebels alter Stube, bin ich immer ein glücklicher Mensch, weil ich keinem Raum auf dieser Erde so viele produktive Momente verdanke!« schreibt er 1802 an Schiller.

Stillste Augenblicke schenkt der Prinzessinnen-Garten, der sich in Terrassen oberhalb des Botanischen Gartens hinzieht. Die Einsamkeit häkelt hier fast gespenstisch um Strauch und Baum, verhaltene Melancholie weint um das kleine gelbe Schloß mit den verschlossenen Türen und Fensterläden. Nirgends aber spürt man den Bann der alten krausen Stadt so tief wie hier, wo sie einem zu Füßen liegt. Wie ein leichter Nebel schweben da die Erinnerungen über ihren Dächern und Türmen, und was einst lebenslustig und versonnen in ihren Gassen dahin trieb, wird nun dem träumenden Auge zu einem geisterhaften Schattenspiel der Lüfte, zu einem wunderlichen Schemenreigen, in dem der ernste Goethe der verführerischen Caroline Schlegel die Hand reicht und die heißblütige Sophie Mereau dem jungen Clemens Brentano erste Liebesblicke sendet, in dem Schiller und Tieck seltsame Partner sind und der greise Wieland Lotte von Schiller gewagte Dinge ins Ohr flüstert.

Ein Schattenspiel … wie das ganze Jena trotz Zeiß, Haeckel und Diederichs etwas Schattenhaftes hat. Man fühlt sich tief in tote Zeit verstrickt. Und erst, wenn die Saalewiesen schimmern, der Kranz der hohen Berge sich zu freier Landschaft öffnet,[144] unter Brücken der unbehinderte Fluß rauscht, fällt der Bann der alten Mauern wieder von einem ab. Und so wandert man auf Dornburg zu, gesegnet, vorbereitet durch das Erlebnis Jena, das leise in grünen Tälern versinkt.

Auch in Dornburg schläft Geschichte. Das alte Schloß, ein wuchtiger Bau aus grauer Vorzeit, der wie ein Bild von Hoffmann von Fallersleben anmutet, steigt aus uraltem Wald. Steinstufen führen durch eine romantische Schlucht aus dem Tal, aus dem roten Dächergewirr des Dorfes hinauf. Oben braust der Wind. Am Abhang ziehen sich morsche Terrassen hin, über die im Sommer Flieder und Rosen hängen, im Herbst die blauen Weintrauben. Um winzige Fenster und Mauerlöcher rankt wild der Efeu. Der Blick klettert staunend an Mauern empor, die für die Ewigkeit gefügt erscheinen. Jahrhunderte haben daran gebaut. Die Sage erzählt, daß Heinrich der Vogeler die Burg als Grenzfeste gegen Sorbenhorden errichtet hat. Möglich! In der Tat reichen Bauteile, so die Fundamente des Turmes und eine Küchenesse, bis ins 11. Jahrhundert zurück. Noch jetzt ist das Schloß ganz malerisches Mittelalter, und die modernen Menschen, die nun drin hausen, die es vom weimarischen Staate irgendwie gepachtet haben und bevorzugten Fremden im Sommer Pension gewähren, nehmen sich seltsam genug in dieser zeitfernen Umgebung aus. Die Stürme jedenfalls, die im Bauernkriege an die ungefügen Mauern brandeten, sind längst verweht, die Turmglocke, die einstmals gegen wilde Kroatenhorden wimmerte, schläft, und in dem Hofe, wo vor vielen hundert Jahren die Sachsenkaiser Land- und Reichstage abhielten, stolzieren nun gravitätisch die Hühner umher. Der Frieden wohnt hier jetzt. Und in der zerbrochenen Laterne auf dem einen Torpfeiler wächst wilder Wein. Schlaf hält das alte Schloß gefangen.

Die drei Schlösser Dornburg über dem Dorfe Naschhausen

Ein paar Schritte weiter tut sich eine andere Welt auf. Mittelalter wird zu Rokoko. Aus Rosenhecken wächst ein kleines Sanssouci. »Schlößchen Dornburg« nennt es Goethe in seinen Briefen. Hier wohnten die »Herrschaften«, wenn sie in Dornburg waren, das 1672 an die weimarische Linie der sächsischen Herzöge gefallen war, und höfische Luft schwingt noch jetzt um den zierlichen Bau, den Garten und die Terrassen. Der Herzog[146] Ernst August, der Großvater Carl Augusts, hat das Schloß um 1740 herum von dem Italiener Struzzi erbauen lassen. Mit seiner gelblich getönten Verputzung, den hellen Fensterumrahmungen, den vielen Ballons, dem schöngeschweiften Kuppeldach wirkt es neben dem finsteren, nur auf Schutz und Trutz berechneten Gemäuer des alten Baus doppelt leicht und graziös. Der Duft galanter Feste weht hier, und die Phantasie ist nur zu gern bereit, die reizenden Säle, die schönen Vorplätze, den Garten mit seinen Hecken und verschlungenen Wegen, den wundervollen Altan, das »Fünfeck« Goethes, mit Reifrockdamen und bezopften Herren zu bevölkern … das »Rosenfest« pflegte der weimarische Hof hier ja alljährlich zu feiern, und noch zu Goethes Zeiten siedelte die zarte, blasse Großherzogin Luise jedes Jahr für einige Zeit mit ihrem ganzen Hofstaat nach Dornburg über.

Jetzt steht das kleine Lustschloß auch längst verwaist, die Zimmer sind mit kostbaren Erinnerungen aller Art und Zeiten überladen, das Ganze ist, wie so viele andere unbenutzte Schlösser, ein Museum geworden, und über das gleißende Parkett, über das einstmals die Stöckelschuhe trippelten und die seidenen Schleppen rauschten, schlürft nun nur noch gelegentlich in Filzpantoffeln der Fremde, der eine abgelebte Zeit aus toten Dingen beschwören will.

Und wieder ein paar Schritte ab das dritte Schloss, das »Goethe-Schloß«. Ein ernster Bau in deutscher Renaissance. Mit drei barocken Giebeln schaut es weithin ins Tal, die schweren, braunen Mauern wuchten unmittelbar aus dem steil abfallenden Felsen herauf, kein Weg führt, wie doch bei den anderen beiden Schlössern, am Abgrund hin, nur die Weinreben ranken ein wenig aus der schwindelnden Tiefe. Ursprünglich wohl ein Kloster, wurde es dann ein Freigut, das nach seinem letzten Besitzer allgemein das »Strohmannsche Freigut« genannt wurde und noch genannt wird. 1824 erst wurde es von Carl August käuflich erworben, der auf Goethes Anraten hin sofort die schmale beschwerliche Wendeltreppe, die in einem erkerartigen Turm der Hinterfront zu den beiden Geschossen führt, sperren und dafür eine schöne, bequeme Freitreppe einbauen ließ. Breite, weitläufige Treppen waren ja von jeher eine Leidenschaft Goethes — man denke nur an die prachtvolle Treppe, durch die er, auch[147] nachträglich, seinem Haus am Frauenplan den palaisartigen Charakter gab.

Das sind die drei Schlösser, die unter dem Namen Dornburg nun zu einem Begriff verschmolzen sind. Kühn und unvermittelt hängen sie, Wind und Wetter zum Trotz, über dem schroffen Abgrund, weithin das Saaletal beherrschend, in ihren Fenstern spiegeln sich die Wolken, um ihre Zinnen fliegen die Vögel. Sie sind in Gärten gebettet, die man vom Tale aus nur ahnen kann, in weiche, grüne Gärten, die im Frühling, wenn der Flieder blüht, ein einziges violettes Meer sind. In Kaskaden schäumt dann der Blütenüberschwang über die Terrassen, die den Abgrund säumen. Und die ganze Nacht singen hier die Nachtigallen.

Hinter den Gärten, durch schöne schmiedeeiserne Barockgitter und niedrige »Kavalierhäuser« von ihnen getrennt, liegt die Stadt Dornburg. Die Stadt? Ein Städtchen, zierlich und kurios wie aus einer Spielzeugschachtel, und auch so sauber und adrett. Da gibt es einen weiten Marktplatz mit Linden und einem Ententeich und einem Rathaus, das ein spitzes Türmchen krönt. Einen Ratskeller, eine Kirche und eine Apotheke, die noch vor kurzem eine »Hofapotheke« war … Auch ein Kammergut ist da. Und kommt man vom Dorfe herauf durch den Wald, der das alte Schloß umrauscht, so gelangt man in die »Stadt« durch den Wirtschaftshof eben dieses Kammerguts, von Schweinen angegrunzt, von Gänsen angefaucht, von Hühnern umgackert, von Hunden bekläfft, und ist um so verdutzter, dann diese reizende Duodezausgabe einer kleinen Residenz zu finden.

Immer aber rauscht im Tal die Saale. Ein breites Silberband, schlängelt sie sich durch Weidengebüsch und Wiesen, sanfte[148] Berge begrenzen das Paradies. Eine breite Steinbrücke führt über den Fluß zum Dorf Naschhausen, zum »Blauen Schild«, wo man Forellen ißt. So war es immer schon, so wird es bleiben.

Und noch einmal: nicht dem brausenden D-Zug erschließt sich diese stille, träumende Welt, nur dem gemächlichen Wanderschritt.

Am 14. Juni 1828 war Carl August auf der Rückreise von Berlin, wohin der seit Jahren Kränkliche gegen den Rat der Ärzte im Mai gefahren war, um seinen ersten Urenkel, den späteren Prinzen Friedrich Karl von Preußen, zu sehen, in Graditz bei Torgau rasch und unvermutet gestorben. Goethe empfing die Trauerkunde bereits am Mittag des 15. Juni — wie das Tagebuch verzeichnet, hatte er gerade Gäste bei sich, »die Tyroler sangen bey Tische«, und »die Nachricht von dem Tode des Großherzogs störte das Fest«.

Lakonischer konnte die Aufzeichnung unmöglich lauten.

Und doch hat ihn die Nachricht, die ihm sein Sohn schonend beibrachte, aufs tiefste erschüttert, wie tief, das deuten ein paar weitere Worte des Tagebuchs vom gleichen Tage an: »Gar manches andere im traurigen Bezug«, und klarer noch geht es hervor aus der schmerzlich bewegten Schilderung Eckermanns, der ihn am Abend noch einmal sprach. »Er schien zu fühlen,« erzählt Eckermann in den Gesprächen, »daß in sein Dasein eine unersetzliche Lücke gerissen worden. Allen Trost lehnt er ab und wollte von dergleichen nichts wissen.« Wie immer in solchen Fällen, verlangte seine Seele schnell nach Einsamkeit; fern dem lauten und letzten Endes doch immer gefühllosen Treiben der Welt, in der Stille der Natur, so wußte er, würde er am ehesten das so schwer gestörte seelische Gleichgewicht wiederfinden.

Und er fand es in der Einsamkeit von Schloß Dornburg. Wohl mußte er erst noch furchtbare Tage in Weimar über sich ergehen lassen, notwendige Besprechungen aller Art, die Vorbereitungen für die Trauerfeier und die Beisetzung, Kondolenzbriefe an die Großherzogin Luise und den zehnjährigen Erbgroßherzog Carl Alexander nahmen ihn ganz in Anspruch, und während er in einem Briefe an den Bonner Professor Nees von Esenbeck schreibt: »Meine Empfindungen sind wortlos!« und sein Schreiben an den Erbgroßherzog in die trauervollen[149] Worte ausklingen läßt: »Auch dieses Spärliche hat mich viel gekostet, denn ich scheue mich, an dasjenige mit Worten zu rühren, was dem Gefühl unerträglich ist,« mußte er die Geduld aufbringen, Stieler, der ihn damals gerade, eigens aus München dazu nach Weimar berufen, malte, unermüdlich weiter zu sitzen … Immer wieder stößt man in diesen unruhvollen Wochen im Tagebuch, unter sichtlicher Vermeidung des Wortes »Tod«, auf Ausdrücke wie »das Notwendigste des Augenblicks«, »das Nächstvergangene und Zunächstbevorstehende« und »das traurige Ereignis«, und ein langer Brief an die in Karlsbad weilende Schwiegertochter Ottilie schildert noch einmal, zusammenfassend, in ergreifenden Worten die ganze lastende Schwere dieser Tage. Dann aber verzeichnet das Tagebuch am 3. Juli, fast froh, die »Vergünstigung eines Aufenthalts in Dornburg«, und am 5. schon meldet Goethe sich »auf Montag« bei Knebel, dem alten Freunde junger, längst verrauschter Jahre, der seit langem in Jena wohnte, an.

Am 7. endlich, gegen Abend, traf er in Dornburg ein, wo ihn die heißersehnte Stille empfing.

Vor über fünfzig Jahren war Goethe, damals noch von allem Reiz der Jugend umstrahlt, zum erstenmal in Dornburg gewesen. Jetzt kehrte er, ein Greis, an die geliebte Stätte zurück, um still für sich den zu betrauern, der ihm in jungen Tagen gemeinsamen Glücks die wundervolle, weltverlorene Schönheit dieses Stückchens Erde erschlossen hatte.

Die Legende erzählt, daß Goethe und Carl August Anno 1776 von Apolda aus hierher geritten sind, auf einem der vielen wilden Ausflüge, die der junge, lebenslustige Fürst und der Dichter des »Werther« damals so gerne machten, um dem steifen, höfischen Leben von Weimar zu entfliehen. Oktober war es, und die steilen Saalehänge lagen im Rauschgold des Herbstes. Der Weg war beschwerlich. Verlockend zwar winkten von der Höhe des Berges, tief in bronzebraunes Laub gebettet, die drei Schlösser, aber die Pferde waren müde. Verdrießlich fragte Goethe, dessen in neue Liebe verstricktes Herz nach der Stein bangte und dem der gerade Weg nach Weimar der liebste gewesen wäre, den Freund: »Du führst mich ja einen bösen Weg. Wird's[150] sich auch lohnen?« Und »Warte nur!« entgegnete ihm Carl August, der seiner Freiheit froh war und kein so dringendes Gelüsten nach dem dumpfen, stickigen Weimar trug, »wenn wir oben sind, wirst du's sehen!«

Und ja, es lohnte sich! Goethe, von jeher für landschaftliche Reize empfänglich wie kein anderer, war hingerissen. Das hatte er nicht erwartet, und jeder, der zum erstenmal von den Terrassen der Dornburgschen Schlösser aus auf das in friedvoller Ruhe daliegende Saaletal herniederblickt, wird es verstehen, daß Goethe zeit seines Lebens mit immer gleicher Liebe an diesen Schlössern, dieser Landschaft hing. Damals ruhte er, alter lieber Gewohnheit folgend, nicht eher, als bis er den großen Eindruck, den die drei auf steilster Bergeslehne thronenden Schlösser auf ihn gemacht hatten, im Bilde festgehalten hatte. Die kleine Bleistiftzeichnung, die jetzt das Goethe-Nationalmuseum in Weimar mit vielen anderen von Goethes Hand als kostbarstes Vermächtnis aufbewahrt, schickte er, in Gedanken ja doch immer bei Charlotte von Stein weilend, sofort an diese nach Kochberg, und auf die Rückseite des Blattes schrieb er dazu die wenigen Worte

»Ich bin eben nirgend geborgen,
Fern an die Saale hier
Verfolgen mich manche Sorgen
Und meine Liebe zu dir.

Dornburg 16. Oktbr. 76.«

Diese kurzen Verse und die Zeichnung sind die ersten wirklichen Belege für Goethes Bekanntschaft mit Dornburg — vergeblich habe ich versucht, was die Legende so hübsch erzählt, durch Tatsachen zu erhärten, aber so ergiebig die Goethe-Literatur auch sonst ist, hier versagt sie. Der Briefwechsel mit Charlotte von Stein, der diese sehnsüchtigen Verse zwischen einen rührend hingebenden Abschiedsbrief an die »Madonna« und den leidenschaftlichen Hymnus des Dichters »An den Geist des Johannes Sekundus« stellt, und das Tagebuch mit den drei kargen Worten: »Dornburg. Camburg. Naumburg.« bleiben nach wie vor einzige Quelle. Aber gerade das Ungewisse — das auch Goethe selbst durch keine, auch nicht die kleinste Äußerung in seinen Schriften, Briefen und Gesprächen später aufzuhellen für gut befunden[151] hat — breitet, wie um so vieles in seinem Leben, auch um diese Episode den Schleier der Verklärung, und was ihm selbst in seinem hohen Alter vielleicht Legende dünkte, bleibt es nun auch für uns.

Hat Goethe damals, als er im Juli 1828 in seiner großen, bequemen Reisekalesche von Jena die Saale abwärts nach Dornburg fuhr und, von der untergehenden Sonne in rote Glut getaucht, die drei Schlösser vor ihm auftauchten, jener fernen Zeit gedacht?

Sicherlich. Denn wenn er in Wirklichkeit auch allein im Wagen saß, als Schatten begleiteten ihn doch der treue Lebensgefährte, dem sie jetzt in Weimar in der kühlen Fürstengruft soeben das letzte Lager bereitet hatten … und in Gedanken mögen die Lippen des greisen Dichters, während das große dunkle Auge in der von seligem Sonnenglanz erfüllten Weite hing, manch erinnerungsschweres Wort geformt haben, das dem toten Freunde und gemeinsam verlebten Stunden galt. Zwar jener erste Besuch auf Dornburg gehörte nun schon einer Welt, aus der fast alle, die sie einst belebten, längst ins Grab gesunken waren; aber da waren in den nun zurückliegenden fünfzig Jahren hundert andere gewesen, die ihn, allein und nicht allein, hierher geführt hatten, und sie alle spülte nun die Erinnerung wieder aus der Vergangenheit herauf, Fluch und Gnade in eins, und wunderlich vermengte sich in unbewußtem Nachdenken Altes, das er längst abgetan geglaubt, mit Neuem, das seine Seele jetzt bewegte.

Mit leisem Rauschen trieb neben ihm, im Getrappel der Pferde kaum vernehmbar, die Saale dahin, von grüner Wiese und schwankem Weidengebüsch sanft gehegt, nur manchmal, wenn sich aus den weichen Uferhängen starre Felsen drängten, in unwilligem Bogen ausweichend, dem Straße und Wagen folgen mußten. In den Ebereschen hingen schon rot die Beerendolden.

Er dachte nach. Ferne Zeiten dämmerten herauf, die Jahre, da sein Herz sich Tag und Nacht in heißer Sehnsucht nach der geliebten Frau in jenem stillen, großen Hause an der Ackerwand in Weimar verzehrte … fast ging es, trotz der sommerlichen Wärme des Julitages, wie ein erkältender Hauch über ihn hin.

[152]

Da war der erste Besuch des Hofes, Anno 1777 im Juli … die Herzogin kannte Dornburg noch nicht, und wie Knebel an den in Pyrmont weilenden Herder schrieb, soll sie geäußert haben: »Das ist der beste Tag, den ich noch hier gehabt habe. Es ist mir wie in einem schönen Traum.« Arme blasse Luise! Das Schicksal hat dir nicht viele solcher Tage in Weimar geschenkt, und oft genug magst du des heiteren »Frühstücks auf dem Fünfeck« gedacht haben, das ein »überherrlicher Morgen«, wie Goethe selbst damals in seinem Tagebuche jubelt, zu einer Stunde reinsten Glückes werden ließ … Später hatte dann der Herzog seinen jungen Minister ein paarmal zur Rekrutenaushebung ins Land geschickt, zur »Auslesung« — keine angenehme Aufgabe, besonders nicht für einen Dichter, dessen Phantasie gerade um die hoheitsvollen Gestalten einer Iphigenie, eines Orest schwingt. Ungefähres zuckte schmerzlich durch sein Hirn.

Wir Enkel, die wir in den reichen Schätzen seines Erbes leben und atmen dürfen, wir brauchen nur wieder die Briefe an Charlotte von Stein aufzuschlagen und finden Gewisses. Da schreibt er am 2. März 1779 aus Dornburg an die ferne Geliebte: »Knebeln können Sie sagen daß das Stück sich formt, und Glieder kriegt. Morgen hab ich die Auslesung, dann will ich mich in das neue Schloß sperren und einige Tage an meinen Figuren posseln … Jetzt leb ich mit den Menschen dieser Welt, und esse und trinke, spase auch wohl mit ihnen, spüre sie aber kaum, denn mein innres Leben geht unverrücklich seinen Gang.« Und zwei Tage später: »Auf meinem Schlößgen ist's mir sehr wohl, ich habe recht dem alten Ernst August gedankt, daß durch seine Veranstaltung an dem schönsten Platz, auf dem bösten Felsen eine warme gute Stätte zubereitet ist … Die Tage sind sehr schön, die Gegend immer allerliebst.« Mit dem »Schlößgen« meint Goethe das mittlere der drei Dornburgschen Schlösser, den Rokokobau. Denn nur dieses konnte damals bewohnt werden, da in dem alten Schloß eine Barchentspinnerei untergebracht und das dritte, das Stohmannsche Freigut, eben noch Freigut war und noch nicht dem Herzog gehörte.

Und noch einmal taucht Dornburg in den Briefen an Frau von Stein auf. Das ist 1782. Wieder zwingt den Dichter, wie er in seinem Tagebuch offenherzig schreibt, »das alberne Geschäft der Auslesung zum Militär«, vier Wochen im Lande herumzureiten.[153] Es ist März und die Frühlingsstürme blasen. So fürchtet er schon in Jena, daß das Zusammentreffen mit der Geliebten in Dornburg, das in Weimar verabredet worden war, nicht möglich sein werde. Und es wurde auch nichts daraus. Am 16. März geht dafür ein kurzer Brief aus Dornburg an sie ab, der seine bange Sehnsucht und Erwartung schildert — »jetzt da es Nacht wird sinckt mein Vertrauen nach und nach, und die Resignation tritt ein« — und ihr meldet, daß sein »Mieting« (das herrliche Gedicht auf Miedings Tod) fertig ist. Inzwischen war auch der Herzog auf Dornburg angelangt, mit Briefen von Frau von Stein, die dem Dichter Beruhigung brachten. Ein Sonntagsbrief Goethes an sie meint nun: »Jetzt ist mir's lieber daß Du nicht gekommen bist. Der halbgeschmolzene Schnee zwischen den schwarzen Bergen und Feldern gibt der Gegend ein leidig Ansehn. Du sollst sie im Sommer zum erstenmal besuchen.« Und am Abend des gleichen Tages läßt ihn die Sehnsucht noch einmal zur Feder greifen: »Es geht morgen ein reitender Bote nach Weimar, so kannst du dies zum guten Tag haben … Leb wohl, ich bin dein. Meine Seele schliest sich in sich selbst zusammen, wenn mir dein Anblick fehlt.« Der Tag wäre im übrigen still hingegangen, sie hätten geplaudert und gelesen, wären auch ein wenig spazieren gegangen. »Ich bin ganz leise fleißig, ich möchte nun Egmont so gar gerne endigen. Und seh es möglich.«

[154]

Das ist alles. Als Traum fliegt es durch die Erinnerung des sacht Dahinfahrenden, Verse aus Iphigenie, Worte aus Egmont, hier mit dem Blick auf die Saale und ihre Wälder und Felder geformt, klingen wie aus verschütteten Tiefen herauf. Die Schlußzeilen aus dem Mieding-Gedicht, hier einst gefunden, als der Märzsturm greulich die alten Felsen und Mauern umtobte, gewinnen neue Bedeutung, da ihr zauberischer Klang nun auch um ein anderes Grab schwingen darf:

»Fest steh dein Sarg in wohlgegönnter Ruh;
Mit lockrer Erde deckt ihn leise zu,
Und sanfter als des Lebens liege dann
Auf dir des Grabes Bürde, guter Mann!«

Und leise aufstöhnend deckt der alte Herr im Wagen, der so aufrecht sitzt und dessen volles Kinn so gravitätisch in der schneeigen Binde ruht, die Augen auf einen Moment mit der Hand … und denkt vielleicht auch daran, daß die, um die er hier in Dornburg und »soweit die Welt nur liegt« in zehrender Liebe gebangt hat, nie die Dornburger Gegend gesehen hat, die er ihr »im Sommer« einmal hatte zeigen wollen; daß auch sie seit fast zwei Jahren tot ist …

Und das Bild einer anderen Toten steigt aus der Erinnerung, das hübsche Bild Christianens, seiner Frau. Frohe Tage bringt es mit sich, die ihr helles Lachen, ihr heiteres Geplauder, ihre stete Fürsorge für ihn verklärten. Wie oft ist er mit ihr und August in Dornburg gewesen! Damals prangte sie noch in allem Glanz der Jugend, war eine »gute Kleine«, und August war noch ein »Bübechen«. Auch das ist lange her! Der Briefwechsel zwischen Goethe und Christiane, den erst Hans Gerhard Gräf, nach unbillig langer Sekretierung, »für die Guten und nicht für die Bösen« endlich zugänglich gemacht hat, erzählt mancherlei von diesen harmlosen Ausflügen. War Goethe in Jena, so fuhren die Geliebte (die Goethe, wie aus früheren Briefen an Schiller hervorgeht, schon längst als seine Frau betrachtete, wenn sie das in Wirklichkeit auch erst 1806 wurde) und der kleine August oft von Weimar hinüber zu ihm, und immer schloß sich dann eine jener »Partien« nach dem nahen Dornburg an, die Christiane etwa dann die kindlich-reizenden Worte finden ließen: »Ich danke Dir noch herzlich für das vergönnte Späßchen!« und die in August, als er schon wohlbestallter Assessor und ein Lebemann[155] dazu war, noch sehnende Erinnerungen weckten … Da heißt es dann in Goethes Tagebuch immer kurz und lakonisch: »Mit den Meinigen nach Dornburg« oder: »… wir fuhren abends nach Dornburg«; aber die wenigen Worte sprechen für sich, und die Innigkeit des Tones verrät deutlich die reine väterliche Freude, die dem Dichter solche Familienausflüge gemacht haben müssen, zumal das zwanglose Landleben in Dornburg und der Jahrmarkt im nahen Lobeda, dessen Besuch nie versäumt wurde, der lebenslustigen Christiane Gelegenheit genug geboten haben werden, ihre Frohnatur zu zeigen.

Ihre Frohnatur … und wieder finden sich willfährig Verse, die tröstend aus der Vergangenheit herüberklingen, als Schatten dem Träumenden den Blick verdunkeln wollen:

»Froh glänzend Auge, Wange frisch und roth,
Nie schön gepriesen, hübsch bis in den Tod.«

Ja, bis in den Tod, und was einst, als sie in »fürchterlichem Kampfe« starb, »Leere und Totenstille« in ihm ließ, das gestaltete dankbare Erinnerung zu »fröhlichem Vermächtnis«. Zu diesem fröhlichen Vermächtnis gehört auch Dornburg.

Und andere Tage gleiten dem Fahrenden durch den Sinn, Tage, da er, nun schon lange einsam geworden, allein in Dornburg weilte, nur in der Zwiesprach mit den stillen Pflanzen und den stillen Steinen Unterhaltung suchend, die ihm mit stummer Hingabe seine rätselnde Liebe lohnten. Wie war das doch damals gewesen, als er in Jena das Zettelchen des Kanzlers von Müller empfing, das ihn in kurzen, warmen Worten nach Dornburg lud? Zehn Jahre sind es gerade her, aber der Frühlingstag steht deutlich vor ihm. Wieder einmal war Dornburg ein Blütenmeer … »Blüthenburg«, erzählt der Kanzler von Müller in seinen Unterhaltungen mit Goethe, »sollte man Dornburg nennen, denn Dornen fanden wir keine, aber duftende herrliche Blüthen in Menge.« Müller war mit Julie von Egloffstein, Goethes »schöner Schülerin«, von Weimar nach Dornburg gefahren und erwartete den Dichter in dem »allerliebsten Feenschlößchen, das am schroffen Felsabhange wie durch Zauberei aufgerichtet scheint«. Ernst und feierlich kam Goethe durch die Hecken des kleinen Gartens geschritten. Im weißblauen Speisesaal wurde das Mittagsmahl eingenommen, »auf derselben Stelle,[156] wo einst vor sechzehn Jahren eine verwandte fröhliche Gesellschaft bei ähnlicher Lustfahrt im heitern Übermut auf rosenbestreuten Polstern unter Gitarrenspiel und Gesang sich niedergelassen und dem Genius des Orts manch geflügeltes Wort und Lied geopfert hatte«. Und in heiterem Geplauder verging der schöne Sonnentag und endete in ernstem philosophischen Gespräch. »Es war als ob vor Goethes innerem Auge die großen Umrisse der Weltgeschichte vorübergingen, die sein gewaltiger Geist in ihre einfachsten Elemente aufzulösen bemüht war. Mit jeder neuen Äußerung nahm sein ganzes Wesen etwas Feierlicheres an, ich möchte sagen, etwas Prophetisches.«

So kam der Abend, die Luft war schwer von Blütenduft, in den Fliederhecken begannen die Nachtigallen zu schlagen. Der Himmel stand über den Bergen des weiten Tals in rosiger Bläue. Da erhob sich Goethe. »Laßt mich, Kinder,« sprach er, plötzlich vom Sitze aufstehend, »laßt mich einsam zu meinen Steinen dort unten eilen; denn nach solchem Gespräch geziemt es dem alten Merlin, sich mit den Urelementen wieder zu befreunden.« Und in seinen hellgrauen Mantel gehüllt, den er als Abendgewand so liebte (auch als er im Frühherbst 1815 bei Willemers auf der Gerbermühle zu Besuch weilte, trug er, wie Marianne von Willemer erzählt, immer abends seinen »weiß flanellenen Hausrock«), stieg er ins Tal hinab, vorsichtig Schritt für Schritt die morschen Stufen prüfend, ernst und feierlich, wie er am Mittag gekommen, aber jetzt in der schon leise fallenden Dämmerung eine geisterhafte Erscheinung. Hin und wieder blieb er ein Weilchen stehen, bückte sich nach Steinen, ließ Blumen und Gräser durch die schöne weiße Hand gleiten. Und manchmal klang zu den Zurückgebliebenen, die ihm wie gebannt nachsahen, gedämpft der Klang des Hammers herauf, mit dem er den starren, schweigenden Fels prüfte oder kleine Gesteinteile für spätere Forschungen abschlug … und so entschwand er allmählich dem Blick, zerrann im Schatten der Berge, kein Mensch mehr, nein, ein Gott, der mit der Natur um ihre tiefsten Geheimnisse rang … Merlin der Alte, der Dichter des »Faust« und selbst eine faustische Erscheinung. »Wir aber fuhren,« so schließt Müller »unter traulichen Erinnerungsgesprächen durch das blühende Jenaische Tal froh und heiter nach Hause.«

Das war im April 1818 gewesen!

[157]

Jetzt schrieb man 1828. Wieder lag das Jenaische Tal in abendlichem Glanze, auf den Feldern wogte das gelbe Korn, und in dem unendlichen Himmel standen wie Pünktchen die Lerchen und erfüllten die laue Luft mit jubelndem Gesang. Statt des Flieders blühten auf den Terrassen der Dornburg-Schlösser die Rosen, man sah sie nicht, aber der Wind trug ihren Duft dem Wagen entgegen … den schwachen Duft der zarten weißen und den starken der üppigen roten. Da kamen wieder die Erinnerungen, verklungene Rosenzeit stand auf und bedrängte das Herz des einsamen Mannes. In diesem Herzen war es Herbst, später Herbst. Von der langen Fahrt ermüdet, die Seele dumpf erfüllt von den »düstern Funktionen« in Weimar, sank er für einen Augenblick in sich zusammen: Schatten, wohin er sah, schattenhaft die Jahre, die vergangen, schattenhaft die Gestalten, die ihnen Qual und tiefster Lebensrausch gewesen! Von vielen, vielen Toten er der einzig Lebende! Kam nun auch für ihn die Nacht? Ein kühler Hauch vom nahen Mühlenwehr, an dem sie grad vorüberrollten, ließ ihn leicht erschauern …

Die Pferde quälen sich den Berg hinauf, die Räder mahlen im Sande. Über dem Städtchen Dornburg schwanken die Abendschatten. Und schattenhaft auch das Schloß, das ehemalige Stohmannsche Freigut, als der Wagen endlich hält. Nur um die letzten Giebel hängt noch ein wenig blasse Sonne — so auch das alte Haus zu einem Symbol des eigenen Lebens gestaltend, denkt er. Goethes Sekretär John und der junge Hofgärtner Sckell empfangen ihn. Vor dem reichverzierten Renaissance-Portal stutzt sein Schritt, das Auge fesselt flüchtig ein lateinischer Spruch.

Wie lautet er?

»Gaudeat ingrediens laetetur et aede recedens
His qui praetereunt det bona cuncta deus. 1608.«

Gaudeat ingrediens … »Freudig trete herein!« murmeln seine Lippen, und wie ein leiser Trost tritt da vor das trauervolle Herz Hatems das Bild Suleikas.

Und an den Dienern vorbei, die Windlichter halten, schreitet Goethe, nun wieder ganz verhaltene Würde, gelassen über die Schwelle und verschwindet im Dunkel des Flurs.

[158]

Ruhe und Vergessen hat Goethe in Dornburg gesucht, beides hat er gefunden. Die Natur tat ein übriges und schickte ihrem Liebling wundervolle Sommertage. Hofgärtner Sckell — der über ein Menschenalter später diese Zeit in einem kleinen Buch mit dem Titel »Goethe in Dornburg. Gesehenes, Gehörtes und Erlebtes« geschildert hat — hatte ihm in dem neu erworbenen Schloß die sogenannte »Bergstube« im ersten Stock eingerichtet, die in der Südwestecke des winkligen Baues liegt. Das Zimmer ist heute wieder in genau dem gleichen Zustand wie damals, als Goethe es bewohnte. Das Eckfenster, aus dem der Dichter so gerne ins Tal geblickt hat, trägt auf seinem Rahmen unter Glas die Inschrift: »1828 vom 7. Juli bis den 12. September verweilte hier Goethe.«

Es ist ein ganz einfaches Zimmer, das in seiner Schmucklosigkeit lebhaft an Goethes Schlaf- und Arbeitszimmer in Weimar erinnert. Der Fußboden rohes Holz, die niedrige Balkendecke wie die Wände hellgrau getüncht. Auch die Möbel völlig schmucklos — ein brauner Arbeitstisch, ein Sekretär, ein paar Stühle, deren gestickte Polsterbezüge von Frau von Stein und Frau von Wolzogen stammen, zwischen den Fensterpfeilern ein Tischchen — das ist alles. Man betritt das ärmliche Gemach durch ein Empfangszimmer, das Kupferstiche und Büsten etwas wohnlicher gestalten. Aber auch dies Zimmer war nur für die Vertrauten, den Besuch vornehmer Gäste und Fremder nahm[159] Goethe in dem benachbarten Rokokoschlößchen oder im Garten entgegen. Hinter der »Bergstube«, durch eine niedrige Tür damit verbunden, die Schlafkammer. Ein schmales Bett, ein grünes Sofa, ein paar Stühle, ein Schrank, über dem Bett wenige selbstgeschnittene Silhouetten, das ist auch hier das ganze Mobiliar.

Und doch hat sich Goethe in dieser ärmlichen Umgebung glücklich gefühlt, sehr glücklich sogar. Er lebte ja auch eigentlich nicht in den engen Zimmern, sondern draußen in der Natur. Die Terrassen, der Garten, der »Hain«, das weite Saaletal, das war sein Reich. Wieder waren ihm die Pflanzen und die Steine die liebste Gesellschaft, in dem stillen, ungestörten Verkehr mit ihnen fand er die ersehnte Linderung für den großen Schmerz, den ihm der plötzliche Tod des fürstlichen Freundes bereitet hatte, gewann er die ruhige Kraft zu den strengen wissenschaftlichen Arbeiten, die auch hier seinen Tag ausfüllten, und tiefster Seelenrausch vor allem wurden ihm die lauen Augustnächte, wenn das weite Tal ihm zu Füßen im Licht des Vollmonds schwamm und die Berge mit silbernen Konturen gegen den geheimnisvoll durchleuchteten Himmel standen. In solchen Stunden fand sein beschwingter Mund Worte, die in ihrer schweren Süßigkeit an seiner jungen Jahre schönste Dichtungen gemahnen. Sehnsucht nach einer geliebten Frau tat auch diesmal das Ihre dazu. Als Goethe nämlich vor langen Jahren, es war im Herbst 1815, mit Marianne von Willemer und ihrem Mann in Heidelberg zusammen gewesen war, hatten sich die beiden Liebenden in einer dufterfüllten Vollmondsnacht versprochen, bei jedem zukünftigen Vollmond einander im Geiste nah zu sein. Der Hatem-Rausch war nun schon längst verflogen, die Zeit, von der die wundervollen Verse erzählen: »… und noch einmal fühlet Goethe Frühlingshauch und Sonnenbrand,« war längst im Spiegel des »West-Östlichen Diwan« eingefangen; aber die stille Neigung zu Suleika hatte der Jahre flüchtigen Lauf überdauert, und aufs neue erwachte sie, als Goethe nun in Dornburg, drei Tage vor dem Eintritt in sein achtzigstes Lebensjahr, nachts am Fenster seiner Bergstube stand und geblendeten Auges, aufs tiefste erschüttert, in die silberne Fülle des Mondes blickte … er war im Geiste bei der Frau, die er seit jenem frühlingshaften Heidelberger Herbste nie wieder gesehen[160] hatte. Vom 25. August 1828 stammt das Gedicht: »Dem aufgehenden Vollmond.« Es lautet:

»Willst du mich sogleich verlassen?
Warst im Augenblick so nah!
Dich umfinstern Wolkenmassen,
Und nun bist du gar nicht da.

Doch du fühlst wie ich betrübt bin,
Blickt dein Rand herauf als Stern!
Zeugest mir, daß ich geliebt bin,
Sei das Liebchen noch so fern.

So hinan denn! Hell und heller,
Reiner Bahn, in voller Pracht!
Schlägt mein Herz auch schmerzlich schneller,
Überselig ist die Nacht.«

Marianne erhielt das Gedicht am 23. Oktober von Weimar aus. Aber im Begleitbrief heißt es: »Mit dem freundlichsten Willkomm die heitere Anfrage: wo die lieben Reisenden am 25. August sich befunden? und ob sie vielleicht den klaren Vollmond beachtend des Entfernten gedacht haben? Beikommendes gibt, von seiner Seite, das unwidersprechlichste Zeugnis.«

Die Natur, die hier alles ist, war ihm wirklich alles. Er gab sich ihr ganz hin. Schon das erste Tagebuchblatt aus Dornburg meldet: »Früh in der Morgendämmerung das Thal und dessen aufsteigende Nebel gesehen. Bey Sonnenaufgang aufgestanden. Ganz reiner Himmel, schon zeitig steigende Wärme … Abends vollkommen klar. Heftiger Ostwind.« Ähnliches findet sich Tag für Tag, und immer wiederholt sich die Bemerkung: »Auf der Terrasse spaziert.« Sckell erzählt, daß er stets schon um 6 Uhr aufstand. Das Tagebuch bezeugt es. Wenn die Welt noch ganz still und keusch in feierlicher Schönheit dalag, empfand er lebendig das homerische Wort von der »heiligen Frühe«. Auch hier formt sich seelische Erschütterung zu Versen:

»Früh, wenn Tal, Gebirg und Garten
Nebelschleiern sich enthüllen,
Und dem sehnlichsten Erwarten
Blumenkelche bunt sich füllen;
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Wenn der Äther, Wolken tragend,
Mit dem klaren Tage streitet,
Und ein Ostwind, sie verjagend,
Blaue Sonnenbahn bereitet,

Dankst du dann, am Blick dich weidend,
Reiner Brust der Großen, Holden,
Wird die Sonne, rötlich scheidend,
Rings den Horizont vergolden.«

Genaueres über sein Leben in Dornburg geben die Briefe, die er hier geschrieben, darunter manche, die von der Schönheit eines lyrischen Gedichtes sind. Der fast Achtzigjährige war eben wieder ganz in poetischer Bewegung, wie immer, wo er so unmittelbar in und mit der Natur lebte wie hier. Rückhaltlos spricht er sich zu den alten Freunden Zelter, Heinrich Meyer, Soret und Knebel aus. »Seit fünfzig Jahren,« schreibt er bereits am 10. Juli an Zelter, »hab' ich an dieser Stätte mich mehrmals mit ihm (dem Großherzog) des Lebens gefreut, und ich könnte diesmal an keinem Orte verweilen, wo seine Tätigkeit auffallend anmutiger vor die Sinne tritt.« Und nun schildert er, was Carl August für Dornburg alles getan, und deutlich spürt man zwischen den Zeilen die tiefe, fast behagliche Freude des Genusses an all dem Schönen, was hier Natur und Kunst in edlem Wettstreit bieten, ja, er malt förmlich, und das Bild, das so von Dornburg entsteht, ist so plastisch, daß selbst jemand, der Dornburg und seine Schlösser nie gesehen hat, sich dem Reiz der Darstellung nicht entziehen kann.

Ein völliges Kunstwerk ist der große Brief vom 18. Juli an Friedrich August v. Beulwitz, den Generaladjutanten des neuen Großherzogs Carl Friedrich. In ihm erscheint die ganze Dornburger Zeit in poetischer Verklärung — das Tagebuch nennt ihn ja auch die »reflexive Relation meines hiesigen Aufenthalts«. Das lange und ausführliche Schreiben beginnt mit jenem alten Distichon, das über dem Portal des Stohmannschen Freiguts in den Stein gemeißelt ist; den lateinischen Worten läßt Goethe gleich die Übersetzung folgen:

»Freudig trete herein und froh entferne dich wieder!
Ziehst du als Wanderer vorbei, segne die Pfade dir Gott.«

Und er schildert dann, wie er nach Verlauf von einigen Tagen und Nächten der Trauer sich ins Freie gewagt und begonnen[162] hat, die Anmut dieses »wahrhaften Lustorts« still in sich aufzunehmen:

»Da sah ich vor mir auf schroffer Felskante eine Reihe einzelner Schlösser hingestellt, in den verschiedensten Zeiten erbaut, zu den verschiedensten Zwecken errichtet. Hier, am nördlichsten Ende, ein hohes, altes, unregelmäßig weitläufiges Schloß, große Säle zu kaiserlichem Pfalzlager umschließend, nicht weniger genugsame Räume zu ritterlicher Wohnung. Es ruht auf starken Mauern, zu Schutz und Trutz. Dann folgen später hinzugestellte Gebäude, haushälterischer Benutzung der umherliegenden Feldbesitzer gewidmet.

Die Augen an sich ziehend aber steht weiter südlich, auf dem solidesten Unterbau, ein heiteres Lustschloß neuerer Zeit zu anständigster Hofhaltung und Genuß in günstiger Jahreszeit. Zurückkehrend hierauf an das südliche Ende des steilen Abhanges, finde ich zuletzt das alte, nun auch mit dem Ganzen vereinigte Freigut wieder, dasselbe, welches mich so gastfreundlich einlud.

Auf diesem Weg nun hatte ich zu bewundern, wie die bedeutenden Zwischenräume, einer steil abgestuften Lage gemäß, durch Terrassengänge zu einer Art von auf- und absteigendem Labyrinthe architektonisch auf das schicklichste verschränkt worden, indessen ich zugleich die sämtlichen übereinander zurückweichenden Lokalitäten auf das vollkommenste grünen und blühen sah. Weithingestreckt, der belebenden Sonne zugewendete, hinabwärts gepflanzte, tiefgrünende Weinhügel; aufwärts, an Mauergeländern, üppige Reben, reich an reifenden, Genuß zusagenden Traubenbüscheln; hoch an Spalieren sodann eine sorgsam gepflegte, sonst ausländische Pflanzenart, das Auge höchstens mit hochfarbigen, am leichten Gezweige herabspielenden Glocken zu ergötzen versprechend; ferner vollkommen geschlossen gewölbte Laubwege, einige in dem lebhaftesten Flor durchaus blühender Rosen, höchlich reizend geschmückt; Blumenbeete zwischen Gesträuch aller Art.

Konnte mir aber ein erwünschteres Symbol geboten werden? deutlicher anzeigend, wie Vorfahr und Nachfolger, einen edlen Besitz gemeinschaftlich festhaltend, pflegend und genießend, sich von Geschlecht zu Geschlecht ein anständig bequemes Wohlbefinden emsig vorbereitend, eine für alle Zeiten ruhige Folge[163] bestätigten Daseins und genießenden Behagens einleiten und sichern? …

Von diesen würdigen landesherrlichen Höhen sehe ich ferner in einem anmutigen Tal so vieles, was, dem Bedürfnis des Menschen entsprechend, weit und breit in allen Landen sich wiederholt. Ich sehe zu Dörfern versammelte ländliche Wohnsitze, durch Gartenbeete und Baumgruppen gesondert; einen Fluß, der sich vielfach durch Wiesen zieht, wo eben eine reichliche Heuernte die Emsigen beschäftigt; Wehr, Mühle, Brücke folgen aufeinander, die Wege verbinden sich auf und ab steigend. Gegenüber erstrecken sich Felder an wohlbebauten Hügeln bis an die steilen Waldungen hinan, bunt anzuschauen nach Verschiedenheit der Aussaat und des Reifegrades. Büsche hier und da zerstreut, dort zu schattigen Räumen zusammengezogen. Reihenweis auch den heitersten Anblick gewährend seh' ich große Anlagen von Fruchtbäumen; sodann aber, damit der Einbildungskraft ja nichts Wünschenswertes abgehe, mehr oder weniger aufsteigende, alljährlich neu angelegte Weinberge.

Das alles zeigt sich mir wie vor fünfzig Jahren, und zwar in gesteigertem Wohlsein, wennschon diese Gegend von dem größten Unheil mannigfach und wiederholt heimgesucht worden. Keine Spur von Verderben ist zu sehen, schritt auch die Weltgeschichte hart auftretend gewaltsam über die Täler. Dagegen deutet alles auf eine emsig folgerechte, klüglich vermehrte Kultur eines sanft und gelassen regierten, sich durchaus mäßig verhaltenden Volkes …

Nun aber sei vergönnt, mich von jenen äußern und allgemeinen Dingen zu meinen eigensten und innersten zu wenden, wo ich denn aufrichtigst bekennen kann: daß eine gleichmäßige Folge der Gesinnungen daselbst lebendig sei, daß ich meine unwandelbare Anhänglichkeit an den hohen Abgeschiedenen nicht besser zu betätigen wüßte, als wenn ich, selbigerweise dem verehrten Eintretenden gewidmet, alles, was noch an mir ist, diesem wie seinem hohen Hause und seinen Landen von frischem anzueignen mich ausdrücklich verpflichte.«

Goethe selbst hat diesen Brief, der eben mehr als ein Brief, der eine Konfession, eine Dichtung ist, zusammen mit einer Zeichnung jenes Schloßportals aufbewahrt, und Eckermann erzählt in seinen Gesprächen mit Goethe ergreifend, wie dieser[164] ihm im März 1831 Brief und Zeichnung gezeigt, wie tief beides auf ihn gewirkt und wie der greise Dichter es dann wieder in einer besonderen Mappe fortgelegt hat, »um beides für die Zukunft zu erhalten«.

Goethe hätte nicht Goethe sein dürfen, wenn nicht die Einsamkeit, die er in Dornburg suchte, schließlich illusorisch geworden wäre. Alle Welt besuchte ihn hier, und vielleicht hat er deshalb die Morgen- und Abendstunden so geliebt, weil er da wirklich allein war und sich ganz den geliebten Naturstudien widmen konnte. Es entspricht aber seinem Wesen, das auch Anregung durch geistigen Gedankenaustausch in Wort und Schrift brauchte, daß er über die vielen Besuche keineswegs ungehalten war.

Auch darüber plaudert der ihn die ganze Zeit über betreuende Hofgärtner sehr hübsch in seinem kleinen Büchlein. Kam die Schwiegertochter mit Eckermann und den Enkeln von Weimar herüber, so war er sogar froh und überließ sich ganz dem großväterlichen Behagen. Reizend schildert Eckermann selbst so einen Besuch (»Er schien sehr glücklich zu sein,« meint der Getreue) und läßt dann Goethe selbst reden: »Ich verlebe hier so gute Tage wie Nächte. Oft vor Tagesanbruch bin ich wach und liege im offenen Fenster, um mich an der Pracht der jetzt zusammenstehenden drei Planeten zu weiden und an dem wachsenden Glanz der Morgenröte zu erquicken. Fast den ganzen Tag bin ich sodann im Freien und halte geistige Zwiesprache mit den Ranken der Weinrebe, die mir gute Gedanken sagen, und wovon ich auch wunderliche Dinge mitteilen könnte. Auch mache ich wieder Gedichte, die nicht schlecht sind, und möchte überall, daß es mir vergönnt wäre, in diesem Zustande so fortzuleben.«

Aber auch Besuche anderer Art erfreuten ihn. So brachte Soret den jungen Erbgroßherzog zu ihm, die Herzöge von Wellington erwiesen ihm ihre Reverenz, und mit dem Kanzler von Müller mag er, vielleicht ein wenig wehmütig, Erinnerungen an entschwundene Zeiten ausgetauscht haben. Fast immer hatte er, wie Sckell als getreuer Chronist erzählt, sechs bis zehn Personen zu Tisch, und oftmals hat es den braven Hofgärtner Mühe genug[165] gekostet, ein Menü zusammenzustellen, das Goethe befriedigte. Denn so wenig Goethe für sich selbst benötigte, so große Ansprüche stellte er, wenn es galt, Gäste zu bewirten.

Und so kam der Tag, da er sich wieder von Dornburg trennen mußte … auch den Greis rief noch die Pflicht.

Es war mittlerweile Herbst geworden, die Rosen waren verblüht, und auf die geliebte Bacchantin im Garten hinter dem kleinen Schloß sanken schon die ersten welken Blätter. Das Wetter war auch nicht mehr recht beständig, und das Tagebuch meldet immer häufiger Nebel und Regen. Trotzdem ist ihm der Abschied schwer geworden. Denn die Tage, die er in Dornburg verlebt hat, gehören zu den innerlich reichsten seines Alters. Das Abschiedsdistichon, das er dem lateinischen Portalspruch von 1608 nachempfunden hat, deutet ergreifend den Zustand seines Innern:

»Schmerzlich trat ich hinein, getrost entfern' ich mich wieder;
Gönne dem Herren der Burg alles Erfreuliche Gott.«

Tagelang wird gepackt. »Versuchte mich immer wieder abzulösen,« seufzt er im Tagebuch noch einen Tag vor der Abreise. Am 11. September verläßt er dann endlich Dornburg. Am gleichen Tage noch ist er in Weimar eingetroffen, »rüstig und ganz braun von der Sonne«, auch heiter und freien Gemüts, erzählt Eckermann; »blickte man aber tiefer, so konnte man eine gewisse Befangenheit nicht verkennen, wie sie derjenige empfindet, der in einen alten Zustand zurückkehrt, der durch mancherlei Verhältnisse, Rücksichten und Anforderungen bedingt ist.«

Noch zweimal war Goethe in Dornburg, 1829 und 1830. Beide Male im August. Fremde begleiteten ihn. Das letztemal mußte der Hofgärtner Sckell wieder für ein Mittagsmahl im kleinen Schlößchen sorgen, es gab sogar Sekt. Beim Abschied[166] hielt Goethe lange die Hand des treuen Mannes, mit dem ihn Erinnerung an schönste Zeit verband … trübe Ahnung bedrängte beider Herz. »Dort oben sehen wir uns wieder!« waren Goethes letzte Worte.

Noch einmal umfing das große strahlende Auge, rückwärts gewandt, die geliebte Landschaft, als der Wagen die Landstraße auf Jena zurollte, dann nahm eine Wegbiegung den Blick. Als Traum nahm Goethe mit in die Ewigkeit hinüber, was so oft ihm Entzücken im Leben gewesen.

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