Die Reisen in den Harz

»Bin so in Lieb zu ihr versunken,
Als hätt' ich von ihrem Blut getrunken.«

Goethe

Im Weimarer Park, nicht weit von Goethes Gartenhaus und der Ilm so nah, daß man ihr leises Rauschen gerade noch hören, den Schimmer des Wassers durch das Gezweig von Weide und Erle gerade noch sehen kann, steht an einer Weggabelung ein kleines Monument: der Schlangenstein. Martin Klauer, der Bildhauer, hat ihn auf Wunsch Carl Augusts nach antiken Vorbildern geschaffen, im Mai 1787 wurde der »Altar mit der Schlange« hier aufgestellt.

Derlei war damals Mode. Auch Goethe selbst hatte schon anno 77 in seinem Garten am Stern einen ähnlichen »Altar[24] des guten Glückes« errichtet. Nun fand er, aus Italien zurückkehrend, diesen neuen an nicht weniger vertrauter Stätte: mit der Inschrift »Genio huius loci« auf dem Säulenstumpf eine zarte Huldigung des fürstlichen Freundes für den Dichter. Denn wer konnte denn der »gute Geist dieses Ortes« sein, wenn nicht er, auf dessen schöpferische Ideen die ganzen Parkanlagen ringsum doch zurückgingen?

So wenigstens die eine Deutung der rätselhaften Worte. Andere meint, der Herzog hätte gewußt, daß Goethen mit dem heimlich-stillen Platze liebe Erinnerungen verknüpften, der seltsame Stein also ein »Denkmal des Glücks« im Goetheschen Sinne wäre wie so manches andere Monument im Park. Man denke nur an jene Steintafel in Goethes Garten, die Frau von Stein gilt! Sie allerdings ist beredter, die Lettern, die ihr eingegraben, erzählen rührende Legende:

»Hier im stillen gedachte der Liebende seiner Geliebten;
Heiter sprach er zu mir: Werde mir Zeuge, du Stein!
Doch erhebe dich nicht, du hast noch viele Gesellen;
Jedem Felsen der Flur, die mich, den Glücklichen, nährt,
Jedem Baume des Walds, um den ich wandernd mich schlinge:
Denkmal bleibe des Glücks! ruf' ich ihm weihend und froh.
Doch die Stimme verleih' ich nur dir, wie unter der Menge
Eine die Muse sich wählt, freundlich die Lippen ihm küßt.«

Wo sind sie, diese »Gesellen«? Diese unsichtbaren Geschwister von Schlangenstein und Charlotten-Tafel? Felsen der Flur und Bäume des Waldes, sind sie überall, wo Goethe jemals geweilt, sein guter Geist Ort und Stätte begnadet. Sie zu finden, braucht man sich nur ein wenig in seine Tagebücher und Briefe zu vertiefen, die so stark Beschwörung verklungener Leiden und Freuden hauchen. Wer, diese monumenta liebender Erinnerung fromm im Herzen tragend, durch die Landschaft wandert, die Goethe-Spuren kreuzen, der begegnet auf Schritt und Tritt solchen unsichtbaren »Denkmälern des Glücks«; er sieht in manche Baumesrinde geschnitten, in manche Felswand gegraben, auf manche Tapete geschrieben, in manches Fenster geritzt die drei geheimnisvollen Worte: Genio huius loci … sieht sie im Geiste, wie er sie auf dem »Felsenweg« im Park zu Weimar, von Ahnen hold bedrängt, am Schlangenstein in Wirklichkeit gesehen.

[25]

Von solchen nicht in Erz und Stein sich deutlich kündenden Stationen des Goethe-Weges soll hier die Rede sein.

Goethe im Harz …

Sofort setzt die Erinnerung ein: natürlich, »Harzreise im Winter«! Und doch ist diese Harzreise im Winter, die durch das wundervolle Gedicht des Achtundzwanzigjährigen und durch die Brahmssche Rhapsodie Ewigkeitsprägung erhalten hat, nur eine, die erste, und Goethe ist danach noch dreimal im Harz gewesen. Schon allein der Einfluß, den die drei Brockenbesteigungen auf Goethes »Faust« gehabt haben, sollte ein Wissen darum über das enge Gebiet der Forschung hinaus zumindest bei allen denen voraussetzen lassen, die immer wieder mit allen Sinnen den romantischen Zauber der Walpurgisnächte in den beiden Teilen des »Faust« erleben und empfinden, sei es im Theater, wenn all der Hexenspuk auf der halbhellen Bühne vorübertaumelt und Faust und Mephistopheles durch Glimmergründe zum Brocken hinaufsteigen, sei es in der Stille des abendlichen Zimmers bei der Lektüre, wenn das Auge zu der Stelle gelangt: »Harzgebirg. Gegend von Schierke und Elend,« sei es im Konzertsaal, wenn Mendelssohns Vertonung der »Ersten Walpurgisnacht« zu Musik werden läßt, was bisher nur als Wort in uns gebrannt …

Aber das Wissen darum ist spärlich. Nicht alle Harzreisen Goethes haben wie die erste des Winters 1777 dichterische Verklärung gefunden, und so viele und so reiche Zeiten seines Lebens der Dichter später sich und uns auch nacherzählt hat, gerade über die elf Jahre in Weimar, die bis zur Italienischen Reise reichen und die das Verhältnis zu Frau von Stein mit Duft überhaucht, hat er sich, ähnlich wie über die späteren Jahre mit Schiller, ausgeschwiegen. Nur die Schweizerreise von 1779 macht eine Ausnahme.

Wer sich in diese Zeit versenken will, ist auf die Tagebücher und die Briefe, vor allem auf die Briefe an Charlotte von Stein, angewiesen. Wie schön fügt sich, geht man erst einmal an diese »Arbeit« heran, ein Steinchen ans andere, um schließlich das wunderbare Mosaik zu ergeben, das Goethes Leben gerade in dieser strahlenden, von Jugend, Liebe, Sehnsucht[26] wirr verklärten Zeit, tausendfarbig auf Goldgrund widerspiegelt! Tag schließt sich an Tag, Woche an Woche, Jahr an Jahr, und über allem steht in milde schimmernder Gloriole: »Alles um Liebe.« Und da steigen dann auch, geweckt vom Willen zur Hingabe, aus der Vergessenheit die Epochen herauf, um die bisher ungewissestes Zwielicht zitterte. »Goethe im Harz« — solange eine Formel, die wenig oder nichts besagte und höchstens diesen oder jenen einmal zu den Gedichten greifen ließ, um dort die »Harzreise im Winter« nachzulesen — diese erstarrte Formel wird zu leidenschaftdurchglutetem Leben, das Stumme gewinnt Sprache und zieht den Freund der deutschen Landschaft in ähnliche Zauberkreise wie Anspruchsvollere die Schilderung der Italienischen Reise.

Es war Ende November 1777. Weimar lag bereits im Winterschlaf. Da unternahm der Herzog eine Jagd auf wilde Schweine im Eisenachschen. Goethe, über die erste wilde Zeit in Weimar schon längst hinaus und Charlotte von Stein, der »lieben Frau«, bereits ganz hingegeben, stand der Sinn nach anderem als lautem Jagdvergnügen; er hatte einen »wundersamen geheimen Reiseplan«, erwirkte sich kurzen Urlaub und wollte erst später wieder mit der Jagdgesellschaft zusammentreffen. Ihn bekümmerten nämlich — wie er selbst mehr als vierzig Jahre später in der »Campagne in Frankreich« erzählt — Briefe eines jungen Theologen aus Wernigerode, eines gewissen Plessing, den tiefste seelische Nöte quälten und der sich an Goethe, den berühmten Dichter des »Werther«, um Hilfe gewandt hatte. Ihn wollte er besuchen. Gleichzeitig wollte er einmal das Harzer Bergwesen aus eigener Anschauung kennen lernen, um das, was er dort sehen würde, nutzbringend für das in Verfall geratene Bergwerk in Ilmenau, das wieder in Gang gebracht werden sollte, zu verwenden. An diese »Reise auf den Harz« hatte er schon lange gedacht, jetzt verwirklichte er sie.

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Am 29. November bricht er auf, »in wunderbaar dunckler Verwirrung« seiner Gedanken, wie er an Frau von Stein schreibt. Weitere Briefe an diese, sein »lieb Gold«, das Tagebuch und die schon erwähnte nachträgliche, allerdings nicht ganz genaue Beschreibung des Besuchs bei Plessing in Wernigerode aus der »Campagne« geben ein fast lückenloses Bild dieser ersten Harzreise, das noch ergänzt wird durch die literarische Erklärung des Gedichts »Harzreise im Winter«, die Goethe 1821 im 3. Band von »Kunst und Altertum« auf den Kannegießerschen Deutungsversuch hin veröffentlichte.

Ein »bizarres Abenteuer« nennt er selbst in dieser Erklärung die Reise, und bizarr genug war sie. Ganz alleine reitet er los, in Nacht und Schnee hinein, immer in stiller Seelenzwiesprache mit der geliebten Frau, die an allem teilnehmen muß; heißt Weber, ist ein Maler, hat Jura studiert, beträgt sich höflich gegen jedermann und ist überall wohl aufgenommen, hat auch bisweilen Heimweh. Notizbuchblätter, in heftigstem Mitteilungsdrang den Briefen schnell noch nachgesandt, geben die Stationen im einzelnen an: Nordhausen, Sachswerben, Ilefeld sind die ersten. Im regnerischen Elbingerode, hoch zwischen Rübeland und Dreiannenhohne gelegen, formen sich die ersten Verse des unsterblichen Gedichts:

»Dem Geier gleich,
Der, auf schweren Morgenwolken
Mit sanftem Fittich ruhend,
Nach Beute schaut,
Schwebe mein Lied!«

Der Besuch der Baumannshöhle, in der er bei Fackellicht bewundert, wie die »schwarzen Marmormassen, aufgelöst, zu weißen kristallinischen Säulen und Flächen wiederhergestellt« sind, läßt ihn das Begonnene, wieder ans Tageslicht zurückgekehrt, »mit ganz frischem Sinn« fortsetzen … auf Klippen sitzt er herum und zeichnet und dichtet. Und schreibt inzwischen nach Weimar, als ob er in der Einsamkeit der Harzberge sich so recht besonnen hätte: »Ich hab' Sie wohl sehr lieb.« Träumt von der Grünen Stube, träumt von heimlicher Stunden verschwiegenem Glück, und ein Handschuh Charlottens, heimlich auf die Reise mitgenommen, muß ihm den Duft der geliebten Frau vor die sehnsüchtig erregten Sinne zaubern …

[28]

Dann, am 3. Dezember ist er in Wernigerode, bei Mr. Plessing. Die köstliche Erzählung dieses abendlichen Besuchs in der »Champagne« deutet reizvollst den »damaligen liebevollen Zustand seines Innern«; das Abenteuerliche — Goethe gibt sich nicht zu erkennen, hört sich selbst aus Plessings Munde seines Schweigens wegen anklagen, muß sich gleichsam selbst entschuldigen, lüftet aber trotz alledem nicht die behagliche Maske — verleiht dem Ganzen die Spannung einer Novelle, und die winkligen Gassen Wernigerodes tief im Schnee, darüber der sternenklare Winterhimmel, ergeben ein Bild von bezauberndem Reiz! Daß Goethe den armen Plessing nun im Stiche läßt, ihn nicht mehr am andern Tage wieder aufsucht, sondern fortreitet, ist wieder ganz er selbst. Für ihn war die Sache eben abgetan. Wie tief er aber doch die flüchtige Episode seelisch empfand, das bezeugt die Fortsetzung des Gedichts:

»Ist auf deinem Psalter,
Vater der Liebe, ein Ton
Seinem Ohre vernehmlich,
So erquicke sein Herz!
Öffne den umwölkten Blick
Über die tausend Quellen
Neben dem Durstenden
In der Wüste!«

Und das Notizbuch registriert weiter: »Über Ilsenburg auf Goslar. Bei Schefflern eingekehrt. Ingrimmig Wetter.« Die Briefe ergänzen: »Ein ganz entsezlich Wetter hab ich heut ausgestanden. Was die Stürme für Zeugs in diesen Gebürgen ausbrauen ist unsäglich, Sturm, Schnee, Schloßen, Regen, und[29] zwey Meilen an einer Nordwand eines Waldgebürgs her …« In Goslar aber ist er »wieder in Mauern und Dächern des Alterthums versenckt«. Von den Harzbewohnern sagt er: »Wie sehr ich wieder, auf diesem dunklen Zuge, Liebe zu der Klasse Menschen gekriegt habe, die man die niedere nennt, die aber gewiß vor Gott die höchste ist. Da sind doch alle Tugenden beisammen, Beschränktheit, Genügsamkeit, grader Sinn, Treue, Freude über das leidlichste Gute, Harmlosigkeit, Dulden, Ausharren.« Er besucht die Bergwerke am Rammelsberg, die Hüttenwerke an der Oker, fährt in Klausthal in die Gruben ein, wo er beinahe von herabstürzender Wacke erschlagen wird. Er empfindet es als seltsam, »aus der Reichsstadt, die in und mit ihren Privilegien vermodert, hier heraufzukommen, wo von unterirdischem Segen die Bergstädte fröhlich nachwachsen« und schläft sich am 9. Dezember in Altenau von all dem Erlebten der letzten Tage »unendlich« aus.

Nun jedoch, wo er sich immer »tiefer ins Gebürg gesenckt«, seine Sehnsucht, den Brocken zu besteigen, der Erfüllung nahe ist, nehmen die Briefe an Frau von Stein fast hymnischen Charakter an: »Was soll ich vom Herren sagen mit Federspulen, was für ein Lied soll ich von ihm singen? im Augenblick wo mir alle Prose zur Poesie und alle Poesie zur Prose wird.«

Am 10. Dezember erklimmt er den Brocken, vom Torfhaus aus, über Schnee und Eis hinweg — allein geleitet vom Förster aus dem Torfhaus. Das Notizbuch meldet: »Was[30] ist der Mensch daß du sein gedenkest.« Es war ein halsbrecherisches Unternehmen — und war ein Erlebnis von Ewigkeitswert. Nun lüftet er auch das Geheimnis, in dem er sich selbst vor der geliebten Frau geborgen hatte, waren doch sogar alle Briefe an sie ohne Ortsangabe gewesen! »Ich will Ihnen entdecken (sagen Sie's niemand), daß meine Reise auf den Harz war, daß ich wünschte den Brocken zu besteigen, und nun, Liebste, bin ich heut oben gewesen …«

Über Klausthal, Andreasberg, Lauterberg, Duderstadt — immer in Nebel, Kot und Regen —, schließlich über Mühlhausen gelangt er am 15. Dezember, also nach reichlich vierzehn Tagen, nach Eisenach, wo er die herzogliche Jagdgesellschaft vollzählig antrifft. Aber die Jagd war aus, und zwei Tage später ist er schon wieder in Weimar. Wo er das Gedicht vollendet hat, ist ungewiß, vielleicht noch unterwegs, vielleicht auch erst in Weimar. Wie stark der Eindruck der Brockenbesteigung aber gewesen sein muß, das gibt der psalmenartige Schluß der »Harzreise im Winter« ergreifend wieder — es ist, als ob der Brockensturm darin sein uraltes Lied singt, vom leisen Säuseln bis zum wütenden Orkan, es ist, als ob man die Donner einer Beethovenschen Sinfonie hörte:

»Mit dem beizenden Sturm
Trägst du ihn hoch empor;
Winterströme stürzen vom Felsen
In seine Psalmen,
Und Altar des lieblichsten Danks
Wird ihm des gefürchteten Gipfels
Schneebehangner Scheitel,
Den mit Geisterreihen
Kränzten ahnende Völker.
Du stehst mit unerforschtem Busen
Geheimnisvoll offenbar
Über der erstaunten Welt
Und schaust aus Wolken
Auf ihre Reich und Herrlichkeit,
Die du aus den Adern deiner Brüder
Neben dir wässerst.«

Für die zweite Harzreise, im September 1783, sechs Jahre später also, unternommen, fließen die Quellen spärlicher. Keine[31] spätere Aufzeichnung, nichts Dichterisches, kein Tagebuch legen Zeugnis davon ab; wir sind allein auf die Briefe an Frau von Stein angewiesen. Nur ein Bericht des Zellerfelder Oberberghauptmanns v. Trebra gibt noch Ergänzungen.

Fritz von Stein
Statue von M. Klauer
in Schloß Tiefurt

Am 6. September tritt er die Reise an, diesmal mit Fritz von Stein, Lottes Lieblingssohn, zusammen, den Goethe Anfang 1783 zu sich genommen hatte und erzog. Es ist nicht recht ersichtlich, ob es anfangs eine Art Dienstreise war und erst später zur Vergnügungsreise wurde, oder ob Goethe sie unternommen hatte, um einmal, viel belästigt, wie er damals war, auszuspannen und im Harz seinen geognostischen Liebhabereien zu frönen. Er besuchte zunächst in Langenstein die Frau von Branconi, die »schöne Frau«, wie sie allenthalben hieß, die er 1779 in Lausanne kennen gelernt hatte. Sie war die Geliebte des Herzogs Carl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig. Frau von Stein war ein wenig eifersüchtig auf sie, und Goethe neckt sie in einem Briefe, daß sie »immer Sturm und leidig Wetter gemacht« hätte, solange er bei der schönen Frau gewesen wäre …

In Halberstadt will er dann die Herzogin erwarten, aber ein kleiner Abstecher von zwei Tagen führt ihn und Fritz erst nach Blankenburg, von wo aus sie bei schönstem Herbstwetter das Bodetal besuchen: »Wallfahrt nach dem Rostrapp«. Goethe wünscht, daß Frau von Stein dabei gewesen wäre, als er »mit Fritzen auf einem großen in den Fluß gestürzten Granitstück« zu Mittag gegessen habe … wie heimlich und reizend mutet das an, wenn man selbst das Bodetal genau kennt und dort in frühen Jahren selbst mit einem väterlichen Freunde auf den blankgewaschenen Steinen herumgeklettert ist! Nun wird es ja zu Goethes Zeiten noch etwas unwirtlicher ausgesehen haben, als in meinen Knabenjahren, und einen »Waldkater«, wo man Forellen frisch aus der Bode essen konnte, wird es auch noch nicht gegeben haben!

Tags drauf waren die beiden dann »im Rübelande«, haben die Marmorbrüche und die Mühle besichtigt, Goethe hat, Erinnerungen[32] auffrischend, Fritz die Baumannshöhle gezeigt, und immer hat er Frau von Stein an den schönsten Stellen »sehnlich« zu sich gewünscht … »hier im stillen gedachte der Liebende seiner Geliebten«, mag er nun von uralter Steinbrücke herab auf das Dahinschießen des Wassers gestarrt und kleinen Glitzerwellen Grüße aufgetragen haben nach dem stillen Kochberg, oder mag er in manchem Felsen, mancher Klippe »Gesellen« jenes Steins begrüßt haben, der im Garten am Stern über seinem Lieblingssitze in den Rasenhang eingelassen war … Denkmäler des Glücks! Und nach kurzem zweiten Aufenthalt in Halberstadt, wo inzwischen die Herzogin eingetroffen war, geht's dann im 17. September nach Klausthal und Zellerfeld, wo Goethe sich »recht in seinem Elemente« befindet; er freut sich, daß er mit seinen »Spekulationen über die alte Kruste der neuen Welt« auf dem rechten Wege ist, und »füttert sich mit Steinen an«. Am 21. September erklettern sie, vom Oberberghauptmann von Trebra aus Zellerfeld geleitet, vom Torfhause aus den Brocken; der alte Förster Degen vom Torfhaus erkennt Goethe, den er 1777 durch Schnee und Eis auf den Brocken geführt hat. Er meint: »Nun! da kommen Sie denn doch noch einmal, in einer besseren Jahreszeit den Brocken zu besuchen,« und fährt fort: »Sie würden dorten, als Sie mitten im Winter von mir begehrten, daß ich Sie auf den Brocken führen sollte, mich mit allen Ihren guten Worten doch gewiß nicht beredet haben, Ihr Führer zu sein, wenn nicht eben durch den gar zu starken Frost eine harte Rinde über den tiefen Schnee gezogen gewesen wäre, die uns tragen konnte.«

Nun, diesmal war der Aufstieg nicht so gefährlich und beschwerlich, und »oben auf dem Gipfel auf den alten Klippen«, wo Goethe wohl die ersten wirklichen Eindrücke für die Brockenszenerie des »Faust« empfing, hat er sich nach Charlottes ferner Wohnung umgesehen und ihr »die Gedancken der lebhafftesten Liebe« zugeschickt — derweilen ihr Knabe, der Sohn eines anderen und ihm doch lieb wie sein eigener, um ihn herumsprang. Auch hier also: Genio huius loci!

Damit hatte die zweite Harzreise ihr Ende erreicht. Denn Göttingen, wo Caroline Michaelis, die spätere Frau Schlegels und Schellings, ihn flüchtig sah und sehr bewunderte, und Cassel, wo Goethe am Hof Besuche machte, gehören nicht mehr hierher.

[33]

Und zum dritten: Ein Jahr später! Erholungs-, Dienst- und Forschungsreise in eins. Denn Goethes geognostische Studien hatten inzwischen immer festere Gestalt angenommen, waren aus früher Spielerei zu ernster wissenschaftlicher Betätigung geworden: der Geist, der alle Gründe und Abgründe des Seins durchdrang, rätselte am Realsten, Gegenständlichsten, am Boden der alten Mutter Erde.

Hofrat Kraus war diesmal der Begleiter, Georg Melchior Kraus, auf Goethes Betreiben, der ihn schon 1769 in Frankfurt a. M. kennengelernt hatte, seit 1780 Direktor der neu gegründeten Weimarer Zeichenschule. Er sollte das, was Goethe auf dieser dritten Harzreise interessant dünkte, im Bilde festhalten, und durch die Zeichnungen von Kraus, die leider bis auf wenige, die in einem Werke Trebras veröffentlicht sind, unzugänglich sind, erhält diese Reise noch mehr wissenschaftlichen Charakter.

Diesen bezeugt auch das ernsthaft geführte »Geognostische Tagebuch der Harzreise«. Hauptquelle sind aber auch hier die Briefe an Frau von Stein, diese unerschöpflichste Fundgrube, und diese Quelle ist diesmal besonders interessant, weil das Verhältnis zwischen Goethe und Lotte von Stein sich schon dem Punkte näherte, wo es kein Darüberhinaus mehr gab; der Siedepunkt war so gut wie erreicht, und das unsagbar herrliche Gedicht, das Goethe von dieser Reise aus, aus Braunschweig, an die Geliebte richtet, jenes:

»Gewiß, ich wäre schon so ferne, ferne,
Soweit die Welt nur offen liegt, gegangen,
Bezwängen mich nicht übermächt'ge Sterne,
Die mein Geschick an deines angehangen,
Daß ich in dir nun erst mich kennen lerne.
Mein Bitten, Trachten, Hoffen und Verlangen
Allein nach dir und deinem Wesen drängt,
Mein Leben nur an deinem Leben hängt«

spricht doch am deutlichsten für das schon zwiespältige Gefühl, das ihn in gleicher Weise von dieser Frau entfernte wie wieder zu ihr hintrieb, und das erst in der Flucht nach Karlsbad zwei Jahre später Erlösung fand.

Am 8. August begann die Reise. Der Tag, an sich nichts weiter als ein Reisetag wie viele andere auch, wurde von der[34] allergrößten Bedeutung für Goethes Dichten: entstand doch an ihm die »Zueignung«! Schon der erste Briefzettel an Frau von Stein, aus Dingelstädt, »Abends 10 Uhr«, berichtet: »Zwischen Mülhausen und hier ist uns seine Axe gebrochen und wir haben müssen liegen bleiben. Um mich zu beschäfftigen und meine unruhigen Gedancken von Dir abzuwenden, habe ich den Anfang des versprochenen Gedichtes gemacht, ich schicke es an Herders, von denen erhältst Du es.« Dies Gedicht waren »Die Geheimnisse«, und die herrlichen Anfangsstrophen hat Goethe später eben als »Zueignung« vor seine Werke gesetzt.

Im übrigen brachte die Reise Goethe eigentlich nur Bekanntes und Vertrautes. Erinnerung gibt ihm auf Schritt und Tritt unsichtbares Geleit. Aber diese Erinnerung gilt noch immer — im Gegensatz zur letzten Harzreise von 1805, wo der Bruch mit Frau von Stein schon fast wieder geheilt war — der fernen Geliebten in Weimar, und ist also auch von immer neu erregender Süßigkeit. So heißt es einmal in den Briefen an Charlotte: »Ich freue mich die Berge wiederzusehen, die ich schon vor Jahren mit Sehnsucht zu Dir im Herzen bestiegen habe.« Und ein andermal: »Wie Deine Liebe mir nah ist, mag ich nicht sagen. Vor sieben Jahren schrieb ich Dir auch von hier …«

Das war in Elbingerode.

Der Weg ist diesmal recht einfach. Über Zellerfeld und Goslar geht es nach Braunschweig, wo Goethe bei Hofe zu tun hat, längere Tage, und von Braunschweig über Goslar, den Brocken, das Bodetal nach einem neuerlichen Besuch bei Frau von Branconi, »la fée de Langenstein dont tu — schreibt er an Frau von Stein — ne seras pas jalouse«, zurück nach Weimar zu »sa douce, son adorable amie«. Hauptpunkte sind auf dieser Reise eigentlich nur der Brocken und das Bodetal mit dem Roßtrappfelsen. Den Brocken besteigen die beiden Reisenden von Goslar aus am 4. September, — es ist das dritte- und letztemal, daß Goethe oben ist. Sie finden diesmal schon ein Brockenhaus vor, und Goethe zeichnet sich in das Fremdenbuch mit dem folgenden Spruche aus dem »Astronomicon« des Manilius ein:

»Quis coelum posset nisi coeli munere nosse
Et reperire Deum nisi qui pars ipse Deorum est.

d. 4. Sept. 1784

Goethe

Der Roßtrapp-Felsen im Bode-Thal
»… ie resterai encore quelques jours avec Krause entre les rochers du Rosstrapp …«.
Goethe an Frau von Stein am 31. August 1784

[36]

Im Bodetal, das sie von Elbingerode-Rübeland aus, dem Flußlauf abwärts folgend, hinabwanderten, haben sie dann »alle Felsen der Gegend angeklopft«, und »Krause hat ganz köstliche Dinge gezeichnet«. Über »den Roßtrapp« enthalten die Briefe nichts mehr. Auch der schöne Brief an Herder aus Elbingerode, der, alles in allem, in dem Jubellaut gipfelt: »… die Tage sind herrlich,« verrät nur Hoffnungen: »Morgen und übermorgen geht's an der Bude hinunter, wir werden an den Fall gelangen, wo dieses Flüßchen hinter dem Roßtrapp hinabstürzt. Zwischen diesen Felsen hoff ich noch viel für meine Spekulation, es ist ein Durchschnitt, der sehr lehrreich ist.« Über all dies erzählt das »Geognostische Tagebuch« trotz seiner Kürze und Trockenheit mehr, und wer zwischen den Zeilen zu lesen versteht und das Bodetal bei Treseburg kennt, der wird sich mit einiger Phantasie ausmalen können, wie Goethe und Kraus sich durch die zerklüfteten Schluchten und Engpässe hinquälten. Ab und zu halten die beiden inne. Dann fliegen Felleisen und Mantelsack ins Gras. Kraus greift zu seiner Skizzenmappe. Goethe aber, immer noch jugendlich schlank, in Reiserock und Dreispitz, schreitet gelassen zwischen den wirren Felstrümmern hin und her, beklopft gebückt Wand um Wand, und sein Hammer lockt aus dem starren Granit Hall und sprühende Funken. Ist es ein Mensch oder ist es mehr als ein Mensch, der da den stummen Bergen ihr letztes Geheimnis entreißen will? … »Werde mir Zeuge, du Stein!« Wer hat's gesprochen? Niemand. Nachhall des Herzens äfft uns. Aber doch sind diese Steine, diese wilden Felsen längs der Bode Zeugen dessen, daß ein Großer sie einst angerührt, bei ihrem dumpfen Erklingen vielleicht an die Frau gedacht hat, die er, ach! so bald verlassen sollte, um sie nie wiederzufinden.

»Lebe tausendmal wohl!« — das ist das letzte Wort, das sie damals aus dem Harz erhielt. Es wohnt noch jetzt im Echo der heiligen Harzberge.

Und 1805. Schiller ist im Mai gestorben. Goethe, schon zu Beginn des Jahres schwer krank, kränkelt von neuem. Wird sichtlich alt. Die Hälfte seines Daseins habe ihm Schillers Tod entrissen, klagt er dem neuen Freunde Zelter. Da besucht ihn[37] im Juni der Philologe Friedrich August Wolf aus Halle und muntert ihn ein wenig auf. Die Badekur im nahen Lauchstädt, wo ihn Christiane, sein »kleiner Hausgeist«, pflegt, scheint die Erholung zu vollenden, und als Christiane am 12. August nach Weimar zurückkehrt, fährt Goethe mit seinem Sohne August nach Halle zu Wolf. Der Besuch wird Wohltat, die Zerstreuung ist Medizin für Goethe. Und ob er nun, als er nach Halle reiste, schon an einen Abstecher in den Harz gedacht, oder ob der immer unternehmungslustige Wolf ihn erst dazu angeregt hat — gleichviel: nach kurzem Aufenthalt in der Saalestadt fuhren die drei heiter und guter Dinge los. »Mein humoristischer Reisegefährte,« erzählt Goethe selbst später in den Annalen, »erlaubte gern, daß mein vierzehnjähriger Sohn August Theil an dieser Fahrt nehmen durfte, und dieses gereichte zur besten geselligen Erheiterung.«

So gewinnt diese vierte und letzte Harzreise Goethes eine hübsche Beigabe: Vaterfreude verklärt sie. Diese Vaterfreude spiegeln deutlich die Briefe an Christiane, die Mutter. Lassen sie auch die leichten Schatten der Erinnerung erkennen, die dieser hellen Sommertage Glanz hie und da verdunkelt haben mögen? Denn wie anders sah er die Berge wieder, die er einst im ersten Rausche junger Liebe erstiegen! Achtundzwanzig Jahre waren es her, daß er abenteuerlustig mitten im Winter auf den Brocken geklettert war; jetzt sah er ihn von weitem, von Thale aus, winken … er lockte ihn nicht mehr. Mehr als die Berge reizten ihn diesmal seltsame Menschen. Ihnen galt ja auch die Reise. Goethe selbst hat sie ausführlich, wie gesagt, in seinen Annalen geschildert; stellenweise gehört diese 1822 abgefaßte Schilderung zum Schönsten, was wir in Prosa überhaupt von Goethe besitzen; besonders gegen Ende blüht die Harzlandschaft noch einmal in so wundervollen Farben auf, daß man nur bedauert, daß der Dichter nicht auch auf die Harzreisen von 1783 und 1784 noch einmal eingegangen ist. Aber auch hier mag er wohl nicht an etwas haben rühren wollen, was er für immer begraben hatte … die Wunde, die er Frau von Stein geschlagen hatte, schmerzte wohl am tiefsten ihn!

Ja, ein wie anderer war er geworden, als er diese vierte Harzreise antrat. Ein Leben lag hinter ihm. Die italienische Reise hatte ihn von der Frau getrennt, die ihm einst Inhalt und Sinn[38] des Lebens gewesen, eine andere hatte ihm den Sohn geboren, der jetzt im Wagen neben ihnen saß. Diese erhielt jetzt liebevolle Briefe, an jene diktierte er nur einen höflichen Bericht. Freier als diesen beiden gegenüber äußerte er sich zu den Freunden: zu seinem Herzog und zu Zelter, und zwei ausführliche Briefe an Carl August sind es denn auch, die die beste Ergänzung zu der Schilderung in den Annalen bilden.

Man fuhr zunächst von Halle nach Magdeburg, wo Goethe der Dom mit seinen alten Kaiserstatuen besonders interessierte, dann nach Helmstädt, wo man den Sonderling Beireis, einen regelrechten Vorfahren späterer Hoffmannscher Gestalten, besuchte, besah sich in Harbke den schönen Veltheimschen Park mit seinen seltenen ausländischen Hölzern, kehrte auf dem Gute des »tollen Hagen« ein, ging gerne und willig in dem winkligen, stimmungsvollen Mittelalter Halberstadts mit seinem Dom und seinen noch nahen Gleim-Erinnerungen auf und landete endlich im Bodetal.

Goethe sah es nun zum dritten Male, und nach der Schilderung, die er gibt, scheint es nie so stark auf ihn gewirkt zu haben wie gerade diesmal. Sah er mit anderen Augen? Wirkten die Erinnerungen, die ihn mit dieser schönsten Stelle des Harzes verknüpften, verklärend? Hörte er vielleicht als Echo den geliebten Namen, den er einst so oft in diese Berge und Täler gerufen? Sah er sich wieder mit Fritz von Stein auf den Steinen der Bode sitzen … wer will es wissen? Vor langen, langen Jahren hatte er einmal »im Rübelande«, hart unter der Baumannshöhle, auf einer Brücke gestanden und in das eilig dahinstürzende Wasser der »Bude« geschaut; damals trugen die Wellen Grüße nach Weimar; jetzt stand er am »Hammer« in Thale, ruhig strömte der Fluß in seinem niederen Geröllbett dahin, so ruhig und gelassen, als ob es gar keine Eile, keine Aufregung gäbe, staute sich am Wehr und wurde stiller, dunkler Spiegel. Die großen, dunklen Dichteraugen sahen und begriffen es: Abbild des Lebens, das verrauscht und stille wird wie dieser Fluß.

Da rief ein Klang ihn, kam von irgendwo: »Lebe tausendmal wohl!« Wem hatte einst der Abschiedsgruß gegolten? Erinnerung stöhnte auf. Da war sie wieder, die schlanke Silhouette, die er nicht vergessen konnte, da das schmale Gesicht, da der Blick der heißen Frauenaugen, da das Lächeln,[39] das wehrlos machte … Vorbei, vorbei! Jetzt saß im Fenster an der Ackerwand, zu dem er so oft hinaufgebetet hatte, eine alte Frau, vergrämt und verbittert, und sann verlorenem, verspieltem Glücke nach … eine fremde Frau, die nicht ihn und die nicht er verstand. Sie wohnten beide längst auf anderen Sternen. Und da quälte ihn der Klang im Ohr, und er wandte sich.

Über Ballenstedt, Aschersleben, Cönnern ging's wieder nach Halle zurück. Im Wagen lärmte der halbwüchsige August. Noch einmal wurde Lauchstädt kurze Station. Dann aber konnte Christiane, freudestrahlend, wieder Vater und Sohn umfangen. Und da war auch Goethes letzte Harzreise aus.

An der Stelle aber, wo sein Auge zum letzten Male jenes unvergleichliche Panorama, das Roßtrappe und Hexentanzplatz mit dem Bodetal zusammen bilden, umfangen hat, steht ein Stein. Man sieht ihn nicht, denn er ist nicht sichtbar. Es ist ein imaginärer Stein. Manche sehen die Worte, die darauf stehen. Auch sie lauten: Genio huius loci!

Für uns aber gilt, was Goethe einmal — drei Jahre später — an die Malerin Caroline Bardua schrieb: »Der Brocken wird noch eine Weile auf seinen Füßen stehen bleiben, und die Spur des Roßtritts auch nicht so bald verlöschen …« Nein, so bald nicht, und mit ihnen wird die Erinnerung an Goethe dauern, dem sie Erschütterung und tiefstes Erlebnis gewesen.

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