3915
Die Helden weilten da nicht mehr,
Sie fuhren auf der wilden See
Mit fröhlichem Gemüte.
Jetzt meinten die guten Helden,
Es müsse ihnen wohl gehen.
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Da stieg nun ein Schiffsmann
Zu oberst auf den Mastbaum;
Die Meeresströmung trieb sie
Schnell nach jenem Hafen zu.
Und nun erschrak er sehr darüber,
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Als er den Berg erkannte;
Es ward ihm leid und bange.
Hinunter in das Schiff
Rief er also zu den Recken:
“Ihr Helden so schmuck,
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Nun wendet euch geschwind
Hin zu dem ewigen Wesen!
Es kostet uns das Leben,
Bleiben wir hier stecken.
Der Berg, den wir gesehen,
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Der liegt auf dem Lebermeer!1
Es sei denn, dass Gott uns rettet,
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Wir sterben hier allzusammen.
Wir fahren gegen den Stein zu,
Von dem ihr mich reden hörtet.
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Jetzt sollt ihr euch hinkehren
Zu Gott in wahrer Reue
Und aus dem Herzen tilgen,
Was ihr wider ihn getan.
Ich will euch, Helden, wissen lassen
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Von der Kraft des Felsen
Und von der Herrschaft,
Die er in seiner Art hat:
Treibt ein Schiff ihm entgegen
Innerhalb dreissig Meilen,
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So hat er in kurzer Zeit
Es an sich gezogen;
Das ist wahr und nicht erlogen.
Haben sie irgendwelches Eisen,
Das darf niemand weisen;
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Sie müssen gegen ihren Willen dran.
Wo ihr die Schiffe liegen seht,
Vor dem dunkeln Berge dort
Gleich an des Steines Kante,
Da müssen wir auch sterben
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Und vor Hunger verenden—
Es ist nicht abzuwenden,—
Wie alle anderen getan haben,
Die hierher segelten.
Nun bittet Gott, dass er
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Uns helfe und gnädig sei.
Wir sind nahe dem Felsen.”
Als der Herzog das vernahm,
Sprach der Fürst lobesam
Zu den Herren sonderlich:
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“Jetzt sollt ihr inniglich,
Meine lieben Notgesellen,
Zu unserm Herrn flehen,
Dass er uns gnädiglich
In sein Reich empfange
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Wir gehn an diesem Stein zugrunde.
Nun lobt ihn allzusammen
Mit Herzen und mit Zungen.
Es ist uns wohl gelungen,
Sterben wir auf dieser wilden See:
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Wir sind geborgen auf immerdar
Bei Gott in seinem Reich.
Nun freut euch allzugleich,
Dass wir ihm so nah gekommen.”
Als sie das vernahmen,
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Behielten sie es im Herzen.
Nun taten die guten Helden,
Wie der Fürst ihnen geraten:
Ordneten ihre Sachen schnell,
Gaben alles Gott anheim,
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Und beherzigten sein Gebot
Mit Beichte und mit Busse
Mit sehr grossem Eifer,
Wie man Gott gegenüber sollte.
Also machten sie sich bereit.
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Als die unglücklichen Männer
Ihre Gebete verrichteten
Und ihre Sachen ordneten,
Gab es ein jämmerlich Rufen,
Das sie zu Gott erhoben.
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Ihren Schöpfer sie baten,
Dass er ihre Seelen bewahre.
Jetzt waren die Helden gefahren
So nahe dem Felsen,
Dass sie deutlich sehen konnten
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Die Schiffe mit hohen Masten.
Der Fels zog die Helden
So geschwinde zu sich,
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Seine Kraft brachte das Schiff
So kräftiglich heran,
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Dass die andern Schiffe
Diesem entweichen mussten.
Es kam so gewaltsam
Dem Steine zugefahren,
Dass die Schiffe allesamt
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Auf einander stiessen.
Auch gaben die Mastbäume
Sich manchen harten Stoss.
Die Stösse waren so stark,
Dass manches Schiff zerbrach.
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So ward mancher Gast empfangen,
Der seitdem verendete
Und niemals wiederkehrte.
Es ist auch wirklich ein Wunder,
Dass diese nicht erschlagen wurden
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Durch die hohen Mastbäume,
Die, alt und morsch geworden,
Von andern Schiffen fielen
Auf ihr Schiff mit Gewalt.
Als diese herabstürzten,
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Konnte nichts mehr bestehn,
Was um das Schiff lag.
Dass das Schiff sich erhielt,
War ein grosses Wunder;
Es musste alles und jedes
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Fallen in das Meer.
Der Herzog und seine Männer
Mussten unerhörte Not leiden,
Da sie einen schrecklichen Tod
Öfters vor sich sahen.
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Doch kamen die kühnen Männer
Mit dem Leben davon;
Gottes Hilfe erschien ihnen.
Als das Schiff stehen blieb,
Taten sie, wie Leute noch tun,
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Die lange in einer Stätte gelegen
Und etwas Neues sehen mögen:
Die zieren Helden sprangen
Schnell aus dem Schiffe
Und gingen allesamt,
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Um das mannigfache Wunder
In den Schiffen zu besehen.
Sie standen dicht wie ein Wald
Um den Berg auf dem Meer.
Weder früher noch später
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Sah jemand so grossen Reichtum,
Als die mutigen Helden
In den Schiffen fanden,
So dass sie in langen Stunden
Ihn nicht überschauen konnten.
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Sie sahen den grössten Schatz,
Den jemand haben könnte.
Nie hat der weise Mann gelebt
Der ihn je in Acht nehmen
Oder vollauf beschreiben könnte.
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Silber, Gold und Edelsteine,
Purpur, Sammet, glänzende Seide,
Lag dort so mannigfaltig,
Dass niemand es beachten könnte.
Als sie das Wunder beschaut,
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Begannen sie weiter zu gehen.
Der Herzog und seine Männer
Stiegen auf den Felsen,
Ob sie irgendwo Land sähen.
Kein Auge konnte erspähen,
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Dass sie zu Lande kämen;
Das war den Recken leid.
Der Berg lag im weiten Meer;
Da mussten die Helden hilflos
Höchst jämmerlich ersterben
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Und am Hunger zugrunde gehen;
Den Recken war schwer zu Mute.
Da mussten die Helden
Vor dem Steine Angst erleiden.
Sie sagten allesamt,
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Sie würden es gütlich erdulden,
Da ihnen der mächtige Gott
Das harte Geschick verhängt,
Wie auch den andern allen,
Die vor ihnen gekommen waren
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Und das Leben verloren hatten.
Da sie die Not nicht meiden wollten,
Würden sie gerne den Tod
Um seine Huld erleiden,
Und würden die grosse Not
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Als Sündenbusse betrachten.
Der Herzog und seine Männer
Hatten Trost beim Kinde der Maid.
Nun schwebte das Gesinde
So lange Zeit auf dem Meer,
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Dass früher oder später im Leben
Sie nie solches Weh ertrugen,
Da es ihnen an Speise gebrach
Und an der guten Nahrung,
Die sie mitgebracht hatten
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Von dem Lande Grippia,
Woselbst die Weigande
Dieselbe tapfer erworben.
Am Hunger starben sie,
Die auf dem Schiffe waren,
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So dass keiner am Leben blieb
Von der ganzen Mannschaft
Ausser dem Herzog allein
Und sieben Mann mit ihm.
Die andern trug ein Greif fort,
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Wie sie nacheinander starben.
Die Lebenden handelten so:
Wen jeweilig der Tod nahm,
Den trugen die Helden lobesam
Bald aus dem Schiffsraume;
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Ihn legten die zieren Degen
Oben aufs Verdeck.
Das habt ihr nun öfters
Als Wahrheit sagen hören:
Die Greife kamen geflogen
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Und trugen sie ins Nest.
Auf diese Weise ward zuletzt
Dem Herzog und seinen Männern
Von den Greifen geholfen;
Also retteten sie sich.
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Die andern wurden zu Aase
Den Greifen und ihren Jungen.
Diesen war es schon gelungen,
Menschen in grosser Anzahl
Von dannen in ihre Neste
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Nach Gewohnheit zu tragen;
Davon die mutigen Helden,
Der Herzog und seine Mannen,
Wieder ans Land kamen.
Der Fürst litt Ungemach,
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Als er seine Gefährten sah
Vor Hunger verbleichen
Und so jämmerlich sterben,
Und er ihnen nicht helfen konnte.
Darum musst’ er manche Stunde
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Erleiden Jammersnot,
Indem sie der Tod
Vor seinen Augen hinwegnahm,
Bis der Recke lobesam
Nur sieben Mann übrig hatte.
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Auch diese behielten das Leben
Kaum vor Hungersnot:
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Sie hatten nur ein halbes Brot,
Das teilten die Helden unter sich.
Es war jämmerlich genug,
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Da sie nichts mehr hatten.
Da ergaben sie sich dem Herrn,
Mit Leib und Seele Gottes Händen;
Dann fielen die tapfern Helden
Zum Gebet nieder und baten
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Vor allem inniglich den Herrn,
Dass er ihnen gnädig sei
Und helfe aus der grossen Not;
Sie fürchteten sehr den Tod.
Als diese Unglücklichen
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Ihr Gebet verrichtet hatten,
Was später ihnen zu statten kam,
Sprach der Graf Wetzel also:
“Ich habe in diesen Stunden
Uns eine List erfunden,
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Wie sie nicht besser sein könnte.
Sollen wir je gerettet werden,
Muss es gewiss davon kommen,
Dass wir suchen und spähen
Und gar nicht aufhören.
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Bis wir in den Schiffen finden
Irgendwelche Art Häute;
Dann schlüpfen wir armen Leute
In unsre gute Rüstung.
Hat man uns dann eingenäht
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In die Häute,” sprach der Degen,
“So wollen wir uns legen
Oben auf das Schiffsverdeck.
So nehmen uns da die Greife
Und tragen uns von dannen.
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Sie können uns nichts anhaben,
Die Greife, wegen der Rüstung,
Die uns oft beschirmt hat;
Die mag uns noch einmal helfen.
Und haben wir uns versichert,
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Dass die alten auf Beute fort sind,
So schneiden wir uns aus
Und steigen zur Erde nieder.
Soll es aber anders werden,
Will es Gott, dass wir nicht entkommen,
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So mag es uns doch lieber sein,
Dass wir dort redlich tot liegen,
Als dass wir hier diese starke Not
So jämmerlich erleiden.”
1. The Liver Sea, called also das geronnene Meer, or the Curdled Sea; in Latin mare pigrum et concretum. For the literature of the curious saga see Bartsch, Herzog Ernst, Wien, 1869, p. cxlv.