1385
Der schönste Tag folgt dieser schönen Nacht.
Mit jedem folgenden find’t jedes sich beglückter,
Indem es sich im andern glücklich macht.
Durch überstandne Not geschickter
Zum weiseren Gebrauch, zum reizendern Genuss
1390
Des Glücks, das, sich mit ihm so unverhofft versöhnte,
Gleich fern von Dürftigkeit und stolzem Überfluss;
Glückselig, weil er’s war, nicht weil die Welt es wähnte,
Bringt Phanias in neidenswerter Ruh
335
Ein unbeneidet Leben zu,
1395
In Freuden, die der unverfälschte Stempel
Der Unschuld und Natur zu echten Freuden prägt.
Der bürgerliche Sturm, der stets Athen bewegt,
Trifft seine Hütte nicht—den Tempel
Der Grazien, seitdem Musarion sie ziert.
1400
Bescheidne Gunst, durch ihren Witz geleitet,
Gibt der Natur, so weit sein Landgut sich verbreitet,
Den stillen Reiz, der ohne Schimmer rührt.
Ein Garten, den mit Zephyrn und mit Floren
Pomona sich zum Aufenthalt erkoren;
1405
Ein Hain, worin sich Amor gern verliert,
Wo ernstes Denken oft mit leichtem Scherz sich gattet;
Ein kleiner Bach, von Ulmen überschattet,
An dem der Mittagsschlaf uns ungesucht beschleicht;—
Im Garten eine Sommerlaube,
1410
Wo, zu der Freundin Kuss, der Saft der Purpurtraube,
Den Thasos schickt, ihm wahrer Nektar deucht;
Ein Nachbar, der Horazens Nachbarn gleicht,
Gesundes Blut, ein unbewölkt Gehirne,
Ein ruhig Herz und eine heitre Stirne—
1415
Wie vieles macht ihn reich!—denkt noch Musarion
Hinzu, und sagt, was kann zum frohen Leben
Der Götter Gunst ihm mehr und Bessers geben?
Die Weisheit nur, den ganzen Wert davon
Zu fühlen, immer ihn zu fühlen,
1420
Und, seines Glückes froh, kein andres zu erzielen;
Auch diese gab sie ihm. Sein Mentor war
Kein Cyniker mit ungekämmtem Haar,
Kein runzlichter Cleanth,2 der, wenn die Flasche blinkt,
Wie Zeno spricht und wie Silenus trinkt;
1425
Die Liebe war’s—wer lehrt so gut wie sie?
Auch lernt’ er gern, und schnell, und sonder Müh,
Die reizende Philosophie,
Die, was Natur und Schicksal uns gewährt,
Vergnügt geniesst, und gern den Rest entbehrt;
336 1430
Die Dinge dieser Welt gern von der schönen Seite
Betrachtet; dem Geschick sich unterwürfig macht;
Nicht wissen will, was alles das bedeute,
Was Zeus aus Huld in rätselhafte Nacht
Vor uns verbarg, und auf die guten Leute
1435
Der Unterwelt, so sehr sie Toren sind,
Nie böse wird, nur lächerlich sie find’t
Und sich dazu—sie drum nicht minder liebet;
Den irrenden bedaurt, und nur den Gleisner flieht;
Nicht stets von Tugend spricht, noch, von ihr sprechend, glüht,
1440
Doch ohne Sold und aus Geschmack sie übet;
Und, glücklich oder nicht, die Welt
Für kein Elysium, für keine Hölle hält,
Nie so verderbt, als sie der Sittenrichter
Von seinem Tron—im sechsten Stockwerk—sieht,
1445
So lustig nie als jugendliche Dichter
Sie malen, wenn ihr Hirn von Wein und Phyllis glüht.
1. Phanias is at first a crabbed misanthrope. The lovely Musarion takes him in hand and teaches him her art of love as a philosophy of the Graces.
2. The Stoic Cleanthes is one of the characters of the poem.