2 From ‘Agathon,’ Book 16, Chapter 3: The Philosophy of the sage Archytas.3

Je mehr ich diesen grossen, alles umfassenden Gedanken4 durchzudenken strebe, je völliger fühle ich mich überzeugt, dass sich die ganze Kraft meines Geistes in ihm erschöpft, dass er alle seine wesentlichen Triebe befriedigt, dass ich mit aller möglichen Anstrengung nichts Höheres, Besseres, Vollkommeneres denken kann, und—dass eben dies der stärkste Beweis seiner Wahrheit ist. Von dem Augenblick an, da mir dieser göttlichste aller Gedanken, in der ganzen Klarheit, womit er meine Seele durchstrahlt, so gewiss erscheint, als ich mir selbst meiner vernünftigen Natur bewusst bin, fühle ich, 337 dass ich mehr als ein sterbliches Erdenwesen, unendlich mehr als der blosse Tiermensch bin, der ich äusserlich scheine; fühle, dass ich durch unauflösliche Bande mit allen Wesen zusammenhange, und dass die Tätigkeit meines Geistes, anstatt in die traumähnliche Dauer eines halb tierischen Lebens eingeschränkt zu sein, für eine ewige Reihe immer höherer Auftritte, immer reinerer Enthüllungen, immer kraftvollerer, weiter gränzender Anwendungen eben dieser Vernunft bestimmt ist, die mich schon in diesem Erdenleben zum edelsten aller sichtbaren Wesen macht.

Von diesem Augenblick an fühle ich, dass der Geist allein mein wahres Ich sein kann, dass nur seine Geschäfte, sein Wohlstand, seine Glückseligkeit, die meinigen sind; dass es Unsinn wäre, wenn er einen Körper, der ihm bloss als Organ zur Entwicklung und Anwendung seiner Kraft und zu Vermittlung seiner Gemeinschaft und Verbindung mit den übrigen Wesen zugegeben ist, als einen wirklichen Teil seiner selbst betrachten, und das Tier, das ihm dienen soll, als seinesgleichen behandeln wollte; aber mehr als Unsinn, Verbrechen gegen das heiligste aller Naturgesetze, wenn er ihm die Herrschaft über sich einräumen, oder sich in ein schnödes Bündnis gegen sich selbst mit ihm einlassen, eine Art von Centaur aus sich machen, und die Dienste, die ihm das Tier zu leisten genötigt ist, durch seiner selbst unwürdige Gegendienste erwiedern wollte.

Von diesem Augenblick an, da mein Rang in der Schöpfung, die Würde eines Bürgers der Stadt Gottes, die mich zum Genossen einer höhern Ordnung der Dinge macht, entschieden ist, gehöre ich nicht mir selbst, nicht einer Familie, nicht einer besondern Bürgergesellschaft, nicht einer einzelnen Gattung, noch dem Erdschollen, den ich mein Vaterland nenne, ausschliesslich an: ich gehöre mit allen meinen Kräften dem grossen Ganzen an, worin mir mein Platz, meine Bestimmung, meine Pflicht, von dem einzigen Oberherrn, den ich über mir erkennen darf, angewiesen ist. Aber eben darum, und nur darum, weil in diesem Erdenleben mein Vaterland der mir unmittelbar angewiesene Posten, meine Hausgenossen, Mitbürger, Mitmenschen, diejenigen sind, auf welche sich meine Tätigkeit sich zunächst beziehen soll, erkenne ich mich verbunden, alles mir Mögliche zu ihrem Besten zu tun und zu leiden, sofern keine höhere Pflicht dadurch verletzt wird. Denn von diesem Augenblick 338 an sind Wahrheit, Gerechtigkeit, Ordnung, Harmonie und Vollkommenheit, ohne eigennützige Rücksicht auf mich selbst, die höchsten Gegenstände meiner Liebe; ist das Bestreben, diese reinsten Ausstrahlungen der Gottheit in mir zu sammeln und ausser mir zu verbreiten, mein letzter Zweck, die Regel aller meiner Handlungen, die Norm aller Gesetze, zu deren Befolgung ich mich verbindlich machen darf. Mein Vaterland hat alles von mir zu fordern, was dieser höchsten Pflicht nicht widerspricht: aber sobald sein vermeintes Interesse eine ungerechte Handlung von mir forderte, so hörten für diesen Moment alle seine Ansprüche an mich auf, und wenn Verlust meiner Güter, Verbannung und der Tod selbst auf meiner Weigerung stände, so wäre Armut, Verbannung und Tod der beste Teil, den ich wählen könnte.

Kurz, Agathon, von dem Augenblick an, da jener grosse Gedanke von meinem Innern Besitz genommen hat und die Seele aller meiner Triebe, Entschliessungen und Handlungen geworden ist, verschwindet auf immer jede Vorstellung, jede Begierde, jede Leidenschaft, die mein Ich von dem Ganzen, dem es angehört, trennen, meinen Vorteil isolieren, meine Pflicht meinem Nutzen oder Vergnügen unterordnen will. Nun ist mir keine Tugend zu schwer, kein Opfer, das ich ihr bringe, zu teuer, kein Leiden um ihrentwillen unerträglich. Ich scheine, wie du sagtest, mehr als ein gewöhnlicher Mensch; und doch besteht mein ganzes Geheimnis bloss darin, dass ich diesen Gedanken meines göttlichen Ursprungs, meiner bohen Bestimmung, und meines unmittelbaren Zusammenhangs mit der unsichtbaren Welt und dem allgemeinen Geist, immer in mir gegenwärtig, hell und lebendig zu erhalten gesucht habe, und dass er durch die Länge der Zeit zu einem immerwährenden leisen Gefühl geworden ist. Fühle ich auch (wie es kaum anders möglich ist) zuweilen das Los der Menschheit, den Druck der irdischen Last, die an den Schwingen unseres Geistes hängt, verdüstert sich mein Sinn, ermattet meine Kraft,—so bedarf es nur einiger Augenblicke, worin ich den schlummernden Gedanken der innigen Gegenwart, womit die alles erfüllende Urkraft auch mein innerstes Wesen umfasst und durchdringt, wieder in mir erwecke, und es wird mir, als ob ein Lebensgeist mich anwehe, der die Flamme des meinigen wieder anfacht, wieder Licht durch meinen Geist, Wärme durch mein Herz verbreitet, und mich 339 wieder stark zu allem macht, was mir zu tun oder zu leiden auferlegt ist.

Und ein System von Ideen, dessen Glaube diese Wirkung tut, sollte noch eines andern Beweises seiner Wahrheit bedürfen als seine blosse Darstellung? Ein Glaube, der die Vernunft so völlig befriedigt, der mir sogar durch sie selbst aufgedrungen wird, und dem ich nicht entsagen kann ohne meiner Vernunft zu entsagen; ein Glaube, der mich auf dem geradesten Wege zur grössten sittlichen Güte und zum reinsten Genuss meines Daseins führt, die in diesem Erdenleben möglich sind; ein Glaube, der, sobald er allgemein würde, die Quellen aller sittlichen Übel verstopfen, und den schönen Dichtertraum vom goldnen Alter in seiner höchsten Vollkommenheit realisieren würde;—ein solcher Glaube beweiset sich selbst, Agathon! und wir können alle seine Gegner getrost auffordern, einen vernunftmässigern und der menschlichen Natur zuträglichern aufzustellen. Wirf einen Blick auf das, was die Menschheit ohne ihn ist,—was sie wäre, wenn sich nicht in den Gesetzgebungen, Religionen, Mysterien und Schulen der Weisen immer einige Strahlen und Funken von ihm unter den Völkern erhalten hätten,—und was sie werden könnte, werden müsste, wenn er jemals herrschend würde,—was sie schon allein durch blosse stufenweise Annäherung gegen dieses vielleicht nie erreichbare Ziel werden wird: und alle Zweifel, alle Einwendungen, die der Unglaube der Sinnlichkeit und die Sophisterei der Dialektik gegen ihn aufbringen können, werden dich so wenig in deiner Überzeugung stören, als ein Sonnenstäubchen eine vom Übergewicht eines Centners niedergedrückte Wagschale steigen machen kann.

Ich kenne nur einen einzigen Einwurf gegen ihn, der beim ersten Anblick einige Scheinbarkeit hat; den nämlich, dass er zu erhaben für den grossen Haufen, zu rein und vollkommen für den Zustand sei, zu welchem das Schicksal die Menschen auf dieser Erde verurteilt habe. Aber, wenn es nur zu wahr ist, dass der grösste Teil unsrer Brüder sich in einem Zustande von Rohheit, Unwissenheit, Mangel an Ausbildung, Unterdrückung und Sklaverei befindet, der sie zu einer Art von Tierheit zu verdammen scheint, worin dringende Sorgen für die blosse Erhaltung des animalischen Lebens den Geist niederdrücken und ihn nicht zum Bewusstsein seiner eignen Würde und 340 Rechte kommen lassen: wer darf es wagen, die Schuld dieser Herabwürdigung der Menschheit auf das Schicksal zu legen? Liegt sie nicht offenbar an denen, die aus höchst sträflichen Bewegursachen alle nur ersinnlichen Mittel anwenden, sie so lange als möglich in diesem Zustande von Tierheit zu erhalten? —Doch, diese Betrachtung würde uns jetzt zu weit führen! —Genug, wir, mein lieber Agathon, wir kennen unsre Pflicht: nie werden wir, wenn Macht in unsre Hände gegeben wird, unsre Macht anders als zum möglichsten Besten unsrer Brüder gebrauchen; und wenn wir auch sonst nichts vermögen, so werden wir ihnen, so viel an uns ist, zu jenem ‘Kenne dich selbst’ behilflich zu sein suchen, welches sie unmittelbar zu dem einzigen Mittel führt, wodurch den Übeln der Menschheit gründlich geholfen werden kann. Freilich ist dies nur stufenweise, nur durch allmähliche Verbreitung des Lichtes, worin wir unsre wahre Natur und Bestimmung erkennen, möglich: aber auch bei der langsamsten Zunahme desselben, wofern es nur zunimmt, wird es endlich heller Tag werden; denn so lange die Unmöglichkeit einer stufenweise wachsenden Vervollkommnung aller geistigen Wesen unerweislich bleiben wird, können wir jenen trostlosen Zirkel, worin sich das Menschengeschlecht, nach der Meinung einiger Halbweisen, ewig herumdrehen soll, zuversichtlich für eine Chimäre halten. Bei einer solchen Meinung mag wohl die Trägheit einzelner sinnlicher Menschen ihre Rechnung finden: aber sie ist weder dem Menschen im ganzen zuträglich, noch mit dem Begriffe, den die Vernunft sich von der Natur des Geistes macht, noch mit dem Plane des Weltalls vereinbar, den wir uns, als das Werk der höchsten Weisheit und Güte, schlechterdings in der höchsten Vollkommenheit, die wir mit unsrer Denkkraft erreichen können, vorzustellen schuldig sind; und dies um so mehr, da wir nicht zweifeln dürfen, dass die undurchbrechbaren Schranken unsrer Natur, auch bei der höchsten Anstrengung unsrer Kraft, uns immer unendlich weit unter der wirklichen Vollkommenheit dieses Plans und seiner Ausführung züruckbleiben lassen.

Auch der Einwurf, dass der Glaube einer Verknüpfung unsers Geistes mit der unsichtbaren Welt und dem allgemeinen System der Dinge gar zu leicht die Ursache einer der gefährlichsten Krankheiten des menschlichen Gemütes, der religiösen und dämonistischen 341 Schwärmerei, werden könne, ist von keiner Erheblichkeit. Denn es hängt ja bloss von uns selbst ab, dem Hange zum Wunderbaren die Vernunft zur Grenze zu setzen, Spielen der Phantasie und Gefühlen des Augenblicks keinen zu hohen Wert beizulegen, und die Bilder, unter welchen die alten Dichter der Morgenländer ihre Ahnungen vom Unsichtbaren und Zukünftigen sich und andern zu versinnlichen gesucht haben, für nichts mehr als das, was sie sind, für Bilder übersinnlicher und also unbildlicher Dinge anzusehen. Verschiedenes in der Orphischen Theologie, und das Meiste, was in den Mysterien geoffenbaret wird, scheint aus dieser Quelle geflossen zu sein. Diese lieblichen Träume der Phantasie sind dem kindischen Alter der Menschheit angemessen, und die Morgenländer scheinen auch hierin, wie in allem Übrigen, immer Kinder bleiben zu wollen. Aber uns, deren Geisteskräfte unter einem gemässigtern Himmel und unter dem Einfluss der bürgerlichen Freiheit entwickelt, und durch keine Hieroglyphen, heilige Bücher und vorgeschriebene Glaubensformeln gefesselt werden,—uns, denen erlaubt ist, auch die ehrwürdigsten Fabeln des Altertums für—Fabeln zu halten, liegt es ob, unsre Begriffe immer mehr zu reinigen, und überhaupt von allem, was ausserhalb des Kreises unsrer Sinne liegt, nicht mehr wissen zu wollen, als was die Vernunft selbst davon zu glauben lehrt, und als für unser moralisches Bedürfnis zureicht.

Die Schwärmerei, die sich im Schatten einer unbeschäftigten Einsamkeit mit sinnlich-geistigen Phänomenen und Gefühlen nährt, lässt sich freilich an einer so frugalen Beköstigung nicht genügen; sie möchte sich über die Grenzen der Natur wegschwingen, sich durch Überspannung ihres innern Sinnes schon in diesem Leben in einen Zustand versetzen können, der uns vielleicht in einem andern bevorsteht; sie nimmt Träume für Erscheinungen, Schattenbilder für Wesen, Wünsche einer glühenden Phantasie für Genuss; gewöhnt ihr Auge an ein magisches Helldunkel, worin ihm das volle Licht der Vernunft nach und nach unerträglich wird, und berauscht sich in süssen Gefühlen und Ahnungen, die ihr den wahren Zweck des Lebens aus den Augen rücken, die Tätigkeit des Geistes einschläfern, und das unbewachte Herz wehrlos jedem unvermuteten Anfall auf seine Unschuld preisgeben. Gegen diese Krankheit der Seele ist Erfüllung unsrer Pflichten im bürgerlichen und häuslichen Leben das 342 sicherste Verwahrungsmittel; denn innerhalb dieser Schranken ist die Laufbahn eingeschlossen, die uns hienieden angewiesen ist, und es ist blosse Selbsttäuschung, wenn jemand sich berufen glaubt, eine Ausnahme von diesem allgemeinen Gesetze zu sein.

3. Agathon is a Greek of the 4th century B.C. Brought up amid the religious influences of Delphi, he becomes an idealist and a dreamer of fine dreams. He goes to Athens, takes part in politics, is banished and sold into slavery. At Smyrna he is bought by the sophist Hippias, who tries to convert him to a sensualistic philosophy. He falls in love with the beautiful hetæra Danaë, but on learning the story of her other loves, he leaves Smyrna in disgust and goes to Syracuse, where he has divers adventures at the court of the tyrant Dionysius. At last, finding his way to Tarentum, he makes the acquaintance of the sage Archytas, who expounds to him the true philosophy.

4. The ‘great thought’ is that the human mind is connected with the invisible world and with the general system of things.

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