I.

Das Etablissement heißt Hochberghaus. Es liegt in Böhmen, eine kleine Tagereise von Wien und da es zum österreichischen Kaiserreich gehört, so ist es natürlich eine Kuranstalt. Das Reich besteht aus lauter Kurorten; es versorgt die ganze Welt mit Gesundheit. Die Quellen sind alle medizinisch. Ihr Wasser wird auf Flaschen gefüllt und über die ganze Erde versandt; die Einheimischen selbst trinken Bier. Dies sieht aus wie Aufopferung – aber Ausländer, die einmal Wiener Bier getrunken haben, sind anderer Meinung darüber. Besonders wenn es jenes Pilsener war, das man in einem kleinen Keller in einem dunklen Hintergäßchen im ersten Bezirk bekommt – der Name ist mir entfallen, aber das Lokal ist leicht zu finden: man frage nach der Griechischen Kirche; hat man sie gefunden, so gehe man rechter Hand gerade aus – das nächste Haus ist die kleine Bierschänke. Sie liegt fern von allem Verkehr und Lärm; hier ist ewiger Sonntag. Die Wirtschaft besteht aus zwei kleinen Zimmern mit niedrigen Decken, die von mächtigen Gewölbepfeilern getragen werden; Gewölbe und Pfeiler sind weiß getüncht, sonst könnte man die Räume für Kerkerzellen im Donjon einer Bastille halten. Die Einrichtung ist einfach und billig, Schmuck fehlt gänzlich – und doch ist hier ein Himmel für die aufopferungsvollen Biertrinker, denn das Bier ist unvergleichlich – wirklich, es giebt seinesgleichen nicht auf der ganzen Welt! Im ersten Zimmer wird man zwölf bis fünfzehn Damen und Herren von bürgerlichem Stande finden, im zweiten ein Dutzend Generäle und Botschafter. Man kann viele Monate in Wien leben, ohne von diesem Ort zu hören. Aber hat man einmal davon gehört und seine Reize erprobt – so wird man der Kneipe als Stammgast verfallen sein.

Indessen, dies alles sage ich nur so nebenbei – es ist nur eine flüchtige Bemerkung zum Zeichen der Dankbarkeit für genossenes Glück; mit meinem Aufsatz hat es nichts zu thun. Mein Aufsatz betrifft Kurorte. Alle ungesunden Leute sollten ihren Wohnsitz in Wien aufschlagen und von dieser Basis auf von Zeit zu Zeit nach den umliegenden Kurorten, je nach Bedürfnis, Ausflüge machen: einen Ausflug nach Marienbad, um das Fett loszuwerden; einen Ausflug nach Karlsbad, um den Rheumatismus loszuwerden; einen Ausflug nach Kaltenleutgeben, um die Wasserkur zu gebrauchen und alle übrigen Krankheiten loszuwerden. ’s ist alles so bequem zur Hand. Man kann in Wien stehen und einen Zwieback nach Kaltenleutgeben hineinwerfen; man braucht bloß eine Dreißigzentimeterkanone dazu. Man kann zu jeder Tageszeit dorthin eilen; man fährt mit phänomenal langsamen Zügen und braucht trotzdem kaum eine Stunde und ist dem Dunst und der Hitze der Stadt entronnen und hat dafür waldige Berge und schattige Waldwege und weiche kühle Lüfte und Vogelmusik und Ruhe und Frieden eines Paradieses.

Und man hat noch eine Masse anderer Kurorte zur Verfügung, die man bequem von Wien aus erreichen kann – lauter reizende Plätzchen; Wien liegt im Mittelpunkt einer schönen Welt von Bergen, wo hier und da ein See und Wälder sich finden; in der That, keine andere Großstadt ist so glücklich gelegen.

Es ist, wie ich schon sagte, Ueberfluß an Kurorten vorhanden. Zu diesen gehört Hochberghaus. Es liegt einsam auf dem Gipfel eines dichtbewaldeten Berges und ist ein Gebäude von bedeutender Größe. Es nennt sich die Appetit-Anstalt, und Leute, die ihren Appetit verloren haben, kommen hierher um ihn sich wieder herstellen zu lassen. Als ich ankam, nahm Professor Haimberger mich mit sich in sein Sprechzimmer und fragte:

»Es ist sechs Uhr; wann aßen Sie zuletzt?«

»Um zwölf.«

»Was aßen Sie?«

»Beinahe gar nichts.«

»Was war auf dem Tisch?«

»Die üblichen Sachen.«

»Rippchen, Hühner, Gemüse u. s. w.?«

»Ja. Aber sprechen Sie nicht davon – ich kann’s nicht vertragen.«

»Sind Sie der Sachen überdrüssig?«

»O, über alle Maßen. Ich möchte, ich hörte niemals wieder was davon.«

»Der bloße Anblick von Essen beleidigt Sie, nicht wahr?«

»Mehr als das, er empört mich.«

Der Doktor dachte eine Weile nach; dann zog er eine lange Speisekarte hervor und ließ langsam sein Auge daran heruntergleiten.

»Ich denke,« sagte er dann, »was Sie essen müssen, ist … aber hier, suchen Sie sich selber was aus!«

Ich warf einen Blick auf die Liste, und mein Magen schlug einen Purzelbaum. Von allen barbarischen Gelagen, die jemals ausgesonnen wurden, war dieses das gräßlichste. Ganz oben stand:

›Kutteln, zäh, halbgar, halbverfault, mit Knoblauch angemacht‹; halbwegs die Karte hinunter las ich: ›Junge Katze; alte Katze; Katzenklein‹ und ganz unten stand: ›Matrosenstiefel, mit Talg weich gemacht – roh aufgetragen.‹ Die großen Zwischenräume der Speisekarte wiesen Gerichte auf, die darauf berechnet waren, einem Kannibalen die Kehle zuzuschnüren. Ich sagte:

»Herr Doktor, es ist nicht angebracht, mit einem so ernsten Fall, wie der meinige ist, seinen Scherz zu treiben. Ich kam hierher, um Appetit zu kriegen, nicht um das bißchen, was ich noch davon übrig habe, loszuwerden.«

Er sagte ernst: »Ich scherze nicht; warum sollte ich scherzen?«

»Aber ich kann solche Greuel nicht essen.«

»Warum nicht?«

Er sagte das mit einer Unbefangenheit, die jedenfalls bewunderungswürdig war, mochte sie nun echt oder nur gut gespielt sein.

»Warum nicht? Weil – ja, Herr Doktor, seit Monaten habe ich selten einmal andere feste Nahrung verdauen können als Rühreier und Eierkuchen. Ihre unaussprechlichen Gerichte …«

»O, Sie werden Sie mit der Zeit sogar gerne essen. Sie sind sehr gut. Und Sie müssen sie essen. Das ist eine Vorschrift hier, und zwar eine strenge. Ich kann durchaus nicht erlauben, daß davon abgegangen wird.«

Ich sagte lächelnd: »Nun, dann Herr Doktor werden Sie den Abgang des Patienten zu erlauben haben. Ich reise.«

Er sah betroffen aus und sagte in einem Ton, der der Sache ein anderes Aussehen gab:

»Ich bin gewiß, Sie werden mir ein solches Unrecht nicht anthun. Ich habe Sie in gutem Glauben aufgenommen – Sie werden dieses Vertrauen nicht zu Schanden machen. Diese Appetit-Anstalt ist meine ganze Existenz. Wenn Sie fortgingen mit dem Appetit, wie Sie ihn jetzt haben, so könnte das bekannt werden und Sie sehen selber ein, daß dann die Leute sagen würden, wenn meine Kur in Ihrem Fall fehlgeschlagen hätte, so könnte sie auch in anderen Fällen fehlschlagen. Sie werden nicht fortgehen; Sie werden mir das nicht anthun!«

Ich bat um Entschuldigung und sagte, ich wollte bleiben.

»Das ist recht! Ich war sicher, Sie würden nicht gehen; Sie hätten damit meiner Familie das Essen vor dem Munde weggenommen.«

»Würde die sich was daraus machen? Ißt sie denn diesen verteufelten Kram?«

»Sie? Meine Familie?« Seine Augen waren voll freundlichen Erstaunens. »Natürlich nicht.«

»O, also nicht! Und Sie?«

»Ganz gewiß nicht.«

»Ich verstehe; ’s ist wieder ’mal der Fall des Arztes, der seine eigene Medizin nicht nimmt.«

»Ich brauch’ es nicht … Es ist sechs Stunden her, daß Sie gefrühstückt haben. Wollen Sie Ihr Abendessen jetzt haben – oder später?«

»Ich bin nicht hungrig, aber ›jetzt‹ ist ebenso gut wie sonst ’ne Zeit und es wäre mir lieb, wenn ich damit fertig wäre und es vom Halse hätte. Es ist so ziemlich meine gewohnte Stunde, und Regelmäßigkeit wird von allen ärztlichen Autoritäten empfohlen. Ja, ich will versuchen, jetzt ein bißchen zu knabbern – ein kleiner Spazierritt wäre mir lieber gewesen.«

Der Professor reichte mir das abscheuliche ›Menu‹.

»Suchen Sie sich selber was aus – oder wollen Sie es später haben?«

»O, du lieber Gott! Weisen Sie mir mein Zimmer an. Ich vergaß Ihre strenge Vorschrift.«

»Warten Sie noch einen Augenblick, ehe Sie sich endgiltig entscheiden. Es ist noch eine andere Vorschrift da: Wenn Sie jetzt etwas wählen, wird Ihre Bestellung sofort ausgeführt werden; wenn Sie aber warten, so müssen Sie warten bis es mir beliebt. Sie können von der ganzen Speisekarte kein Gericht ohne meine Einwilligung bekommen.«

»Schon recht. Zeigen Sie mir mein Zimmer und schicken Sie die Köchin zu Bett; ich habe es ganz und gar nicht eilig.«

Der Professor führte mich eine Treppe hinauf und brachte mich in eine sehr einladende und behagliche Wohnung, bestehend aus Wohnzimmer, Schlafstube und Baderaum.

Die Vorderfenster gewährten eine weite Aussicht über grüne Lichtungen und Thäler, über waldbedeckte Hügelkuppen – eine vornehme Einsamkeit, unberührt von der Qual der lärmenden Welt. Im Wohnzimmer waren eine Anzahl Gestelle voller Bücher. Der Professor sagte, er wolle mich jetzt mir selber überlassen; dann fuhr er fort:

»Rauchen und lesen Sie soviel Sie mögen, trinken Sie soviel Wasser, wie Sie Lust haben. Wenn Sie Hunger bekommen, so klingeln Sie und bestellen Sie was und ich werde entscheiden, ob Sie es bekommen dürfen oder nicht. Ihr Zustand ist ein hartnäckiger böser Fall und ich denke die ersten vierzehn Gerichte, die auf der Karte stehen, sind ohne Ausnahme nicht stark genug für die Verhältnisse. Ich bitte Sie um die Gefälligkeit, sich einzuschränken und keins von ihnen zu bestellen.«

»Mich einschränken – sagten Sie nicht so? Seien Sie darum ohne Sorgen. Bei mir werden Sie Geld sparen! Der Gedanke, eines kranken Mannes verlorenen Appetit mit solchem Raubvogelfraß zurückschmeicheln zu wollen ist heller Wahnsinn!«

Ich sagte dies voll Bitterkeit, denn es brachte mich außer mir, daß er so ruhig und kalt von seinen herzlosen neuen Mordmethoden sprach. Der Doktor sah mich bekümmert, aber nicht beleidigt an. Er legte die Speisekarte auf das Nachttischchen, das am Kopfende meines Bettes stand, ›so daß es bequem zur Hand sein möchte‹ und sagte:

»Ihr Fall ist durchaus nicht der schwerste, der mir bis jetzt vorgekommen ist; aber immerhin ist er schlimm und erfordert kräftige Behandlung; ich werde Ihnen deshalb verbunden sein, wenn Sie die Selbstbeherrschung üben, die ersten vierzehn zu überschlagen und erst von Nr. 15 an zu beginnen.«

Hierauf ging er, und ich fing sofort an mich auszuziehen, denn ich war hundemüde und sehr schläfrig. Ich schlief fünfzehn Stunden und wachte am nächsten Morgen um zehn herrlich erquickt auf. Wiener Kaffee! Das war das erste, woran ich dachte – dieser unerreichbare Wonnetrank, dieser prachtvolle Kaffeehauskaffee, mit dem verglichen aller andere europäische Kaffee und aller amerikanische Hotelkaffee bloß eine flüssige Armseligkeit ist. Ich klingelte und bestellte welchen; auch Wiener Brot dazu – diese köstliche Erfindung. Der Aufwärter sprach mit mir durch das Schiebefenster in der Thür und sagte – aber man weiß schon, was er sagte. Er verwies mich auf die Speisekarte. Ich gestattete ihm zu gehen – ich hätte ihn nicht weiter nötig.

Nach dem Bade zog ich mich an und gedachte einen Spaziergang zu machen – und kam bis an die Thür. Sie war von außen verschlossen. Ich klingelte und der Diener kam und setzte mir auseinander, das sei wieder eine andere Vorschrift. Der Patient müsse eingeschlossen bleiben, bis er die erste Mahlzeit eingenommen habe. Es war mir vorher am Ausgehen nicht übermäßig viel gelegen gewesen; aber nun war es etwas anderes! Ein Mensch, der eingeschlossen ist, wünscht immer dringend, auszugehen. Bald begann ich es schwierig zu finden, die Zeit totzuschlagen. Um zwei Uhr war ich sechsundzwanzig Stunden ohne Nahrung gewesen. Eine Zeitlang war ich immer hungriger geworden; jetzt merkte ich, daß ich nicht nur Hunger hatte, sondern daß mein Hunger sogar mit einem sehr kräftigen Adjektiv bezeichnet werden mußte. Indessen war ich doch nicht hungrig genug, um es mit der Speisekarte aufnehmen zu können.

Ich mußte mir irgendwie die Zeit vertreiben. Ich dachte an Lesen und Rauchen. Ich that es; Stunde auf Stunde. Die Bücher waren alle von derselben Art: von Schiffbrüchen; von Menschen, die sich in Wüsten verirrt hatten; von Leuten, die in verschüttete Bergwerksschächte eingeschlossen waren; von Leuten, die in belagerten Städten verhungert waren. Ich las von allen ekelerregenden Speisen, womit jemals hungerleidende Menschen ihre Gier nach Essen gestillt haben. Während der ersten Stunden machten diese Geschichten mir übel; dann folgten Stunden, wo sie nicht mehr solchen Eindruck auf mich machten; dann kamen Stunden, wo ich mich ab und zu darüber ertappte, daß ich bei der Beschreibung irgend welcher leidlich höllenmäßigen Gerichte mit den Lippen schmatzte. Als ich fünfundvierzig Stunden lang ohne Essen gewesen war, lief ich munter an die Klingel und bestellte das zweite Gericht auf der Speisekarte: eine Art Knödel mit Füllungen von Kaviar und Theer.

Es wurde mir verweigert. Während der nächsten fünfzehn Stunden machte ich alle Augenblicke ’mal einen Besuch bei der Klingel und bestellte ein Gericht, das weiter unten auf der Karte stand. Immer wieder abgeschlagen! Aber ich überwand stracks ein Vorurteil nach dem andern; ich machte sichere Fortschritte; ich kroch mit tödlicher Sicherheit näher an Nr. 15 heran, und mein Herz schlug schneller und schneller, meine Hoffnungen stiegen höher und höher.

Schließlich, als seit sechzig Stunden keine Nahrung über meine Lippen gekommen war – da war der Sieg mein und ich bestellte Nr. 15:

»Weich gekochte Kücken, fertig zum Auskriechen – mit den Eiern; sechs Dutzend, heiß und duftig!«

In fünfzehn Minuten waren sie da; und mit ihnen kam, vor Freude sich die Hände reibend, der Doktor. Er sagte in großer Erregung:

»Das ist ’ne Kur! Das ist ’ne Kur! Ich wußte, sie würde mir gelingen. Lieber Herr, mein großes System schlägt niemals fehl – niemals! Sie haben Ihren Appetit wieder – Sie wissen, Sie haben ihn; sagen Sie’s und machen Sie mich glücklich!«

»Her mit Ihrem Fraß! Ich kann alles essen, was auf der Speisekarte steht!«

»O, das ist edel, das ist prächtig! Aber ich wußte, es gelänge mir; das System ist unfehlbar. Wie sind die Vögel?«

»So was Köstliches war noch niemals auf der Welt – und doch mache ich mir sonst im allgemeinen nicht viel aus Geflügel. Aber unterbrechen Sie mich nicht, bitte! Ich kann meinen Mund nicht entbehren, wirklich, ich kann’s nicht.«

Da sagte der Doktor:

»Die Kur ist vollständig. Da ist kein Zweifel mehr dran und keine Gefahr mehr vorhanden. Lassen Sie das Geflügel stehen; jetzt kann ich Ihnen ein Beefsteak anvertrauen.«

Das Beefsteak kam – ein ganzer Korb voll – mit Kartoffeln, und Wiener Brot und Kaffee; und dann hielt ich eine Mahlzeit, die all meiner umständlichen Vorbereitungen wert war! Und Thränen der Dankbarkeit troffen mir die ganze Zeit über die Sauce hinein – Dankbarkeit gegenüber dem Doktor, daß er mir ein kleines bißchen einfachen gesunden Menschenverstandes eingetrichtert hatte, der so viele, viele Jahre mir gefehlt hatte.

Share on Twitter Share on Facebook