II.

Vor dreißig Jahren machte Haimberger eine lange Reise in einem Segelschiff. An Bord waren fünfzehn Passagiere. Die Kost wies die übliche tagtägliche Einförmigkeit auf: Um 7 Uhr früh eine Tasse schlechten Kaffee im Bett; um 9 Frühstück: schlechter Kaffee mit kondensierter Milch, dumpfige Brötchen, Wasserzwiebäckchen, gesalzener Fisch. Um 1 Uhr Gabelfrühstück: kalte Zunge, kalter Schinken, kaltes Pökelfleisch, dumpfige kalte Brötchen, Wasserzwiebäckchen; um 5 Hauptmahlzeit: dicke Erbsensuppe, gesalzener Fisch, warmes Pökelfleisch mit Sauerkraut, gekochtes Schweinefleisch mit Bohnen, Pudding; von 9 bis 11 Abendessen: Thee mit kondensierter Milch, kalte Zunge, kalter Schinken, Pfeffergurken, Schiffszwieback, marinierte Austern, marinierte Schweinsfüße, geröstete Rippchen.

Als das Ende der ersten Woche herankam, hatte man aufgehört zu essen; statt dessen wurde nur an den Speisen herumgepickt. Die Passagiere kamen freilich zu Tische, aber dies thaten sie teils um die Zeit hinzubringen, teils weil die Weisheit der Menschengeschlechter uns anempfiehlt, regelmäßig in unseren Mahlzeiten zu sein. Sie waren der derben und einförmigen Kost leid, hatten kein Interesse daran, keinen Appetit darauf. Den lieben langen Tag lungerten sie auf dem Schiff herum: halb hungrig, von ihrem knurrenden Magen gequält, verdrießlich, mundfaul, elend. Drei von ihnen waren ausgemachte Magenkranke; diese wurden im Lauf von drei Wochen zu reinen Schatten. Dann war da noch ein bettlägeriger Invalide; der lebte von gekochtem Reis; er konnte nicht einmal den Anblick der gewöhnlichen Speisen vertragen.

Auf einmal ging das Schiff unter; Passagiere und Mannschaft retteten sich in offenen Boten. Wie üblich waren die Nahrungsmittel knapp. Die Vorräte wurden gering und immer geringer. Da besserten sich die Appetite. Als nichts mehr übrig war außer rohem Schinken und als die tägliche Ration davon auf 55 Gramm für die Person herunterkam, da waren die Appetite vorzüglich. Nach Verlauf von 14 Tagen kauten die Magenleidenden, der Invalide und die zartestbesaiteten Damen der Gesellschaft voll Wonne an alten Matrosenstiefeln und beklagten sich über dies Essen bloß, weil es so wenig davon gab. Und das waren dieselben Leute, die auf dem Schiff das ewige Pökelfleisch und das Sauerkraut und die anderen Unverdaulichkeiten nicht hatten ausstehen können!

Ein englisches Schiff errettete sie aus ihrer Not. Binnen zehn Tagen waren alle fünfzehn in so guter Verfassung, wie an dem Tage, da sie schiffbrüchig wurden.

»Sie hatten von ihrem Abenteuer keinen Schaden genommen,« fügte der Professor hinzu. »Verstehen Sie, was das sagen will?«

»Ja.«

»Verstehen Sie’s wirklich?«

»Ja – ich glaube doch.«

»Nein, Sie verstehen es nicht. Sie zögern. Sie können sich nicht zum Verständnis der Bedeutung aufschwingen. Ich will es noch einmal sagen – mit besonderer Betonung: Nicht ein einziger von ihnen erlitt irgend welchen Schaden.«

»Nun beginne ich zu verstehen. Ja, das war in der That merkwürdig.«

»Ganz und gar nicht. Es war vollkommen natürlich. Es war gar kein Grund vorhanden, warum sie Schaden nehmen sollten. Sie hatten die Appetitskur der Mutter Natur durchgemacht – die beste und weiseste Kur auf der Welt.«

»Brachte dieses Erlebnis Sie auf Ihre Idee?«

»Ja, es brachte mich darauf.«

»Es war für die Leute eine wertvolle Lehre.«

»Warum meinen Sie das?«

»Nun, ganz einfach: Es scheint doch, daß es für Sie eine solche war.«

»Darum handelt es sich hier nicht. Ich bin kein Narr!«

»Ich verstehe. Waren die anderen Narren?«

»Sie waren Menschen.«

»Ist das dasselbe?«

»Warum fragen Sie? Sie wissen es selbst. In Bezug auf seine Gesundheit – und auf alles übrige – ist der Durchschnittsmensch das Produkt seiner Umgebung und seiner abergläubischen Vorurteile; das Endergebnis ist: er wird ein Esel. Er kann nicht drei oder vier für ihn neue Umstände sich zusammenreimen und einen Schluß daraus ziehen; das geht über seine Kräfte. Er kann nicht selbst Beobachtungen machen, er muß alles aus zweiter Hand beziehen. Wenn die fälschlich so benannten niederen Tiere so albern wären wie der Mensch – sie wären alle binnen einem Jahr vom Erdboden verschwunden.«

»Diese Passagiere ließen sich’s also nicht zur Lehre dienen?«

»Keine Ahnung! Sie gingen auf dem englischen Schiff wieder zu ihren regelmäßigen Mahlzeiten und sehr bald pickten sie wieder anstatt zu essen – appetitlos, von den Speisen angeekelt, verdrießlich, elend, halbhungrig, den ganzen Tag auf ihre mißhandelten Mägen fluchend und schimpfend und dabei winselnd und wehklagend. Und das alles ganz überflüssigerweise, denn ihre Mägen waren die Mägen von Narrenvolk.«

»So ist also, wenn ich Sie recht verstehe, Ihr Verfahren …«

»Ganz einfach: Essen Sie nichts bevor Sie hungrig sind! Wenn das Essen Ihnen nicht mehr schmeckt, Ihnen keine Befriedigung, kein Vergnügen, kein Behagen mehr gewährt, so essen Sie nicht eher, als bis Sie sehr hungrig sind. Dann wird es Ihnen Vergnügen machen und außerdem gut thun.«

»Und habe ich keine regelmäßigen Stunden für die Mahlzeiten einzuhalten?«

»So lange Sie mit einem schlechten Appetit zu kämpfen haben – nein! Haben Sie den Feind untergekriegt, so ist Regelmäßigkeit nicht von Uebel, d. h. so lange der Appetit gut bleibt. Sobald er wieder ins Schwanken gerät, greifen Sie wieder zum Heilmittel – und dieses ist: Hungern – lange oder kurze Zeit je nach dem Erfordernis des einzelnen Falles.«

»Die beste Kost, scheint mir – ich meine die gesündeste …«

»Jede Kost ist gesund. Die eine ist gesunder als die andere – aber alle gewöhnlichen Gerichte sind gesund genug für die Leute, die darauf angewiesen sind. Mag eine Kost fein oder derb sein, sie wird gut schmecken und nahrhaft sein, wenn man auf seinen Appetit acht giebt und jedesmal, wenn er schwächer wird, ein kleines Fasten einschiebt. Nansen war an feine Kost gewöhnt, aber als monatelang seine Mahlzeiten nur auf Bärenfleisch beschränkt waren, da machte ihm das weder Schaden an der Gesundheit noch Unbehagen, weil sein Appetit infolge der Schwierigkeit, sich das Bärenfleisch regelmäßig zu beschaffen, in gutem Stande gehalten wurde.«

»Aber Aerzte entwerfen sorgfältig überdachte und auserlesene Zusammenstellungen von Speisen für Kränkliche.«

»Sie können’s nicht anders. Der Patient ist voll von ererbten Vorurteilen und hungert nicht aus freien Stücken. Er denkt, das würde ihn ganz bestimmt ins Grab bringen.«

»Es würde ihn aber doch schwach machen, nicht wahr?«

»Aber ohne Gefahr. Nehmen Sie die Kranken unter unseren Schiffbrüchigen. Sie lebten vierzehn Tage lang von ein paar Schnipfeln rohen Schinkens, lutschten ’mal an einem Matrosenstiefel und hungerten die ganze Zeit. Es machte sie schwach, aber es that ihnen nichts. Es brachte sie in eine gute Verfassung, so daß sie von einer herzhaften Kost herzhaft essen konnten; sie gewannen dadurch die Grundlage für eine kräftige Gesundheit. Aber sie waren nicht verständig genug, sich’s zu nutze zu machen, sie ließen die Gelegenheit vorübergehen, sie blieben kränklich – es geschah ihnen recht! Kennen Sie den Kniff aller Badeärzte?«

»Worin besteht er?«

»Es ist mein System in einer Verkleidung – verschleiertes Hungern. Traubenkur, Brunnenkur, Moorbadekur – ’s ist alles dasselbe. Die Trauben, der Brunnen, das Moorbad – sie geben der Sache einen Anstrich und helfen auch ein bißchen, die Hauptarbeit aber macht das Hungern, wovon der Patient nichts weiß. Einer ist an vier Mahlzeiten gewöhnt und zwar zu späten Stunden, an den beiden Enden seines Tages – nun sehen Sie sich ’mal an, was er in einem Kurort zu thun hat: Er steht auf um sechs Uhr in der Frühe. Ißt ein Ei. Trampelt zwei Stunden lang mit den anderen Narren einen Spazierweg auf und nieder. Ißt einen Schmetterling. Schlürft ein Glas von einem gefilterten Gesöff, das wie Raubvogelatem riecht. Spaziert nochmals zwei Stunden, aber allein; wenn man ihn anredet, sagt er ängstlich: ›Mein Brunnen! – Ich bin dabei, meinen Brunnen abzulaufen; bitte, stören Sie mich nicht!‹ – und stapft weiter. Ißt ein gezuckertes Rosenblatt. Ruht sich stundenlang in der Stille und Einsamkeit seines Zimmers; darf nicht lesen, darf nicht rauchen. Nun kommt der Doktor und befühlt sein Herz, seinen Puls, und beklopft seine Brust und seinen Rücken und seinen Magen und horcht mit einem Kindertrompetchen darauf herum. Dann befiehlt er des Patienten Bad: ›einen halben Grad Réaumur kälter als gestern.‹ Nach dem Bade wieder ein Ei. Ein Glas Gesöff um drei oder vier Uhr nachmittags, und feierliche Promenade mit den anderen Krüppeln. Diner um sechs: ein halbes Spätzle und eine Tasse Thee. Wieder Spazierengehen. Um halbneun Abendessen: noch einen Schmetterling. Um neun zu Bett. Dieses ›Regime‹ sechs Wochen lang – denken Sie sich’s mal aus. Es hungert einen Menschen aus und bringt ihn in eine prachtvolle Verfassung. Es hätte dieselbe Wirkung in London, New York, Jericho – überall.«

»Wie lange dauert es hier bei Ihnen, bis eine Person wieder in guter Verfassung ist?«

»Es sollte nur einen oder zwei Tage erfordern; thatsächlich dauert es aber eine bis sechs Wochen; je nach dem Charakter und der Geistesanlage der Patienten.«

»Wie kommt das?«

»Sehen Sie dahinten die Schar von Damen, die Fußball spielen, boxen und über die Zäune springen? Sie sind sechs oder sieben Wochen hier gewesen. Sie waren mickrige arme Gespenstergestalten, als sie kamen. Gewohnheitsmäßig nibbelten sie viermal täglich zu festgesetzten Stunden an Leckereien und Delikatessen und hatten Appetit auf gar nichts. Ich fragte sie aus und schloß sie darauf in ihre Zimmer ein, um zu hungern – die schwächsten für neun oder zehn Stunden, die anderen für zwölf bis fünfzehn. Es dauerte nicht lange, so begannen sie zu betteln; und sie litten in der That beträchtlich. Sie jammerten über Uebelkeit, Kopfschmerzen u. s. w. Aber dann hätten Sie sie sollen essen sehen, als die Zeit um war! Sie konnten sich nicht erinnern, daß ihnen jemals das Verzehren einer Mahlzeit ein solches Entzücken bereitet hätte – so drückten sie sich wörtlich aus. Damit hätte denn nun ihre Kur zu Ende sein sollen – aber nein! Sie konnten nach Belieben an jeder Mahlzeit meines Hauses teilnehmen und sie wählten ihre gewohnten vier. Nach einem oder zwei Tagen hatte ich einzuschreiten. Der Appetit nahm wieder ab. Ich ließ sie eine Mahlzeit überschlagen. Das brachte sie wieder auf den Damm. Dann fingen sie wieder mit ihren vier Mahlzeiten an. Ich bat sie, sie möchten doch lernen, von selber eine zu überschlagen, ohne auf mich zu warten. Bis vor vierzehn Tagen konnten sie das nicht; sie hatten wirklich dazu nicht Mut genug; aber schließlich brachten sie’s doch dazu und jetzt denke ich, sie sind in Sicherheit. Sie überschlagen alle Augenblicke einmal aus eigenem Antrieb eine Mahlzeit. Sie sind jetzt prächtig bei Gesundheit und ich glaube, sie könnten ruhig nach Hause reisen, aber sie haben noch kein vollkommenes Vertrauen zu sich selber und deshalb warten sie noch eine Weile.«

»Giebt es auch andere Fälle verschiedener Natur?«

»O ja. Zuweilen lernt einer die ganze Kunst in einer Woche – lernt seinen Appetit zu regulieren und dadurch in vorzüglicher Ordnung zu halten – lernt häufig einmal eine Mahlzeit zu überschlagen, ohne sich was daraus zu machen.«

»Aber warum muß man eine ganze Mahlzeit überschlagen? Warum läßt man nicht einen Teil weg?«

»Das wäre ein schwächliches Verfahren und ein unzulängliches! Wenn der Magen nicht kräftig nach Nahrung verlangt – sozusagen darnach schreit – so ist es besser, ihn nicht zu belästigen, sondern ihm eine wirkliche Ruhe zu gönnen. Es giebt Menschen, die mehr essen können als andere und dabei doch gedeihen. Es giebt allerhand Sorten von Menschen und allerhand Sorten von Appetiten. Ich werde Ihnen nachher einen Herrn vorstellen, der sich’s angewöhnt hatte, täglich an acht Mahlzeiten herumzunibbeln. Das waren für die ihm eigentümliche Art von Appetit zwei zu viel. Ich habe ihn auf täglich sechs heruntergebracht und er ist wohl und munter und freut sich seines Lebens … Wieviele Mahlzeiten halten Sie jeden Tag?«

»Früher – zweiundzwanzig Jahre lang – anderthalb; während der beiden letzten Jahre zwei und eine halbe: Kaffee und ein Brötchen um neun; Frühstück um eins, Hauptmahlzeit um halb acht oder acht.«

»Früher ein und eine halbe Mahlzeit – das heißt: Kaffee und ein Brötchen um neun, Hauptmahlzeit abends, zwischendurch nichts – ist’s nicht so?«

»Ja.«

»Warum fügten Sie eine Mahlzeit hinzu?«

»Meine Familie hatte den Gedanken. Sie waren besorgt um mich. Sie dachten, ich brächte mich selber ins Grab.«

»Sie fanden die ganzen zweiundzwanzig Jahre lang anderthalb Mahlzeiten genug?«

»Vollkommen!«

»An Ihrem gegenwärtigen jämmerlichen Zustand ist die Extramahlzeit schuld. Lassen Sie sie aus. Sie versuchen öfter zu essen als Ihr Magen es verlangt. Sie gewinnen dabei nichts, Sie verlieren. Sie nehmen jetzt in einem Tage bei zwei und einer halben Mahlzeit weniger Nahrung zu sich als früher in anderthalb.«

»Das stimmt – bedeutend weniger; denn in jenen alten Tagen war meine Hauptmahlzeit ein recht umfangreiches Ding.«

»Setzen Sie sich jetzt für ein paar Tage auf eine einzige Mahlzeit: abends, bis Sie eines guten, gesunden, regelmäßigen, vertrauenswerten Appetits sicher sind, dann halten Sie sich beständig zu Ihren anderthalb und hören Sie ganz und gar nicht auf Ihre Familie. Haben Sie irgend ein gewöhnliches Unwohlsein, besonders wenn es mit Fieber verbunden ist, so essen Sie während vierundzwanzig Stunden überhaupt nichts. Das wird Sie kurieren. Es wird sogar den hartnäckigsten Schnupfen kurieren. Kein Schnupfen überdauert ein streng durchgeführtes vierundzwanzigstündiges Fasten.«

»Ich weiß es. Ich habe es oft an mir selbst erfahren.«

Dekoration

Share on Twitter Share on Facebook