Noch einmal ›Gedankentelegraphie‹.

Ich habe drei oder vier eigentümliche Erlebnisse zu erzählen. Wie mir scheint, gehören sie unter die Rubrik ›Gedankentelegraphie‹, worüber ich vor Jahren schon einen Aufsatz veröffentlichte.[5]

[5] Enthalten im ›Skizzenbuch‹; Band 3 der ›Humoristischen Schriften‹.

Vor etlichen Jahren machte ich mit Herrn George W. Cable eine Rundreise, um Vorträge zu halten. In Montreal wurde uns zu Ehren ein Empfang veranstaltet. Er begann um zwei Uhr nachmittags in einem langen Salon im Windsorhotel. Herr Cable und ich standen am einen Ende des Raumes, die Damen und Herren traten am anderen Ende ein, gingen die lange Wand linker Hand entlang, schüttelten uns die Hand, sagten ein oder zwei Worte und gingen weiter – die übliche Geschichte. Mein Auge ist wie ein Fernrohr, und plötzlich sah ich in dem Gedränge von Fremden, die sich weit da hinten zur Tür hineinschoben, ein bekanntes Gesicht. Ich dachte voll Ueberraschung und zugleich voll Freude bei mir selber: »’s ist Frau R.; ich hatte ganz vergessen, daß sie eine Kanadierin ist.« Sie war in meinen Jugendtagen in Carson City, Nevada, sehr befreundet mit mir gewesen. Seit zwanzig Jahren hatte ich nichts mehr von ihr gesehen oder gehört. Es war kein Anlaß vorhanden, sie mir in die Erinnerung zu bringen; sie hatte tatsächlich schon seit langer Zeit aufgehört für mich zu existieren und war mir völlig aus dem Gedächtnis entschwunden. Aber ich erkannte sie augenblicklich; ich sah sie so klar und deutlich, daß ich einige Kleinigkeiten an ihrem Anzug bemerken konnte; ich bemerkte sie tatsächlich und behielt sie im Gedächtnis. Ungeduldig wartete ich darauf, daß sie näher herankäme. Mitten unter all dem Händedrücken warf ich ab und zu einen schnellen Blick auf sie, und ich sah, wie sie in der langsam vorrückenden Reihe immer näher kam; als sie an der linken Wand war, konnte ich ihr Gesicht von vorne sehen. Als ich sie zuletzt bemerkte, war sie 25 Fuß von mir entfernt. Eine Stunde lang dachte ich fortwährend, sie müsse doch irgendwo im Salon sein und würde zuletzt noch zu mir kommen. Aber in dieser Erwartung hatte ich mich getäuscht.

Als ich am Abend den Vorlesungssaal betrat, sagte jemand zu mir: »Bitte, kommen Sie mit nach dem Wartesaal; es ist jemand da, der Sie kennt und Sie gerne sehen möchte. Ich werde Sie nicht vorstellen; Sie sollen wenn möglich die betreffende Person selber erkennen.«

Ich dachte bei mir selbst: »Es ist Frau R.; die Sache wird sehr einfach sein.«

Es saßen etwa zehn Damen im Saal; mitten unter ihnen, ganz wie ich’s erwartet hatte, Frau R. Sie war genauso angezogen, wie ich sie am Nachmittag gesehen hatte. Ich ging auf sie zu, gab ihr die Hand, begrüßte sie mit ihrem Namen und sagte:

»Ich erkannte Sie heute nachmittag im selben Augenblick als Sie den Saal betraten.«

Sie sah mich überrascht an und antwortete: »Aber ich war ja gar nicht beim Empfang. Ich komme gerade eben von Quebec an und bin noch keine Stunde hier in der Stadt gewesen.«

Nun war ich an der Reihe überrascht zu sein. Ich sagte:

»Es ist aber doch so. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß es genau so ist, wie ich sage. Ich sah Sie beim Empfang, und Sie waren genau so gekleidet wie jetzt. Als man mir vor einem Augenblick sagte, ich würde einen Bekannten in diesem Zimmer finden, da stieg Ihr Bild vor mir auf, in Kleidern und allem anderen genau so, wie ich Sie beim Empfang gesehen hatte.«

Dies sind die Tatsachen. Sie war weder beim Empfang noch irgendwo in der Nähe; trotzdem sah ich sie dort, klar und deutlich und unverkennbar. Darauf könnte ich einen Eid leisten. Wie soll man so etwas erklären? Ich dachte nicht etwa in dem Augenblick an sie; ich hatte seit Jahren nicht an sie gedacht. Aber ohne Zweifel hatte sie an mich gedacht. Flitzten vielleicht ihre Gedanken meilenweit durch die Lüfte zu mir und brachten mit sich das deutliche, hübsche Bild der Dame? Ich glaube es.

Dies war und bleibt mein einziges Ergebnis in Bezug auf Erscheinungen – ich meine Erscheinungen, die man in hellwachem Zustande sieht. Ich hätte vielleicht für einen Augenblick eingeschlafen sein können; dann wäre die Erscheinung ein Traumgebilde. Aber diese Möglichkeit kommt hier gar nicht in Frage; das Interessante dabei ist, daß es gerade in dem betreffenden Augenblick passierte – nicht früher und nicht später; dies ist ein Beweis dafür, daß der Ursprung in Gedankenübertragung zu suchen ist.

Mein nächstes Erlebnis wird wohl von den meisten Leuten als reines zufälliges Zusammentreffen erklärt werden:

Vor Jahren dachte ich manchmal daran, eine Vorlesungstour bei den Antipoden zu machen, gab aber die Idee stets wieder auf, teils wegen der Länge der Reise, teils weil meine Frau es nicht gut möglich machen konnte, mich zu begleiten. Ende Januar letzten Jahres kam nach langer Zwischenzeit plötzlich diese Idee mir wieder in den Kopf – und zwar mit aller Macht und anscheinend ohne jeden Anlaß. Woher kam sie? Was regte sie an? Hierauf komme ich gleich zu sprechen.

Ich war damals, wo ich jetzt bin – in Paris. Ich schrieb sofort an Henry M. Stanley in London und fragte ihn nach verschiedenen Einzelheiten in Bezug auf seine Australische Vorlesungstour, wer das Geschäftliche besorgt hätte, wie die Bedingungen gewesen wären u. s. w. Nach ein paar Tagen kam seine Antwort; sie begann:

»Für Australien und Neu-Seeland ist der Vorlesungsagent par excellence Herr R. S. Smythe in Melbourne.«

Dann teilt er seine Reiseroute, die Bedingungen, eine Aufstellung der Kosten für die Seefahrt und einiges andere mit und riet mir, an Herrn Smythe zu schreiben. Das tat ich auch – am 3. Februar. In den Eingangszeilen meines Briefes sagte ich ungefähr folgendes: er kennte mich zwar nicht persönlich, wir hätten aber einen gemeinsamen Freund in Stanley, und das würde wohl als Einführung genügen. Dann machte ich meinen Vorschlag und fragte, ob er mit mir zu denselben Bedingungen abschließen wollte wie mit Stanley.

Am 6. Februar gab ich meinen Brief an Herrn Smythe auf die Post, und drei Tage später bekam ich einen Brief von demselbigen Smythe, datiert: Melbourne, den 17. Dezember. Ich hätte mich auch nicht mehr gewundert, wenn ich einen Brief vom seligen George Washington gekriegt hätte. Der Brief begann ganz ähnlich wie der meinige – mit einer Selbsteinführung:

»Geehrter Herr Clemens! – Es ist so lange her, seit Archibald Forbes und ich einen so reizenden Nachmittag in Ihrem gemütlichen Hause in Hartford verbrachten, daß Sie dies wahrscheinlich gänzlich vergessen haben.«

Im weiteren Verlauf des Briefes hieß es:

»Ich biete Ihnen« – (hier folgten dieselben Bedingungen, die er Stanley bewilligt hatte) – »für eine Vorlesungstour von etwa drei Monaten bei den Antipoden.«

Da hatte ich also die Antwort auf die einzige wesentliche Frage meines Briefes drei Tage nachdem ich denselben abgesandt. Ich hätte mir die Mühe und das Porto sparen können – und ein paar Jahre vorher hätte ich sie mir auch gespart, denn da hätte ich mir gesagt, der plötzliche starke Antrieb, an einen Fremden auf der anderen Hälfte der Erdkugel brieflich einige Fragen zu richten, sei ein Zeichen, daß die Anregung von dem Fremden ausgehe, und er werde mir von selber auf meine Fragen antworten, wenn ich es einfach abwartete.

Herrn Smythes Brief reiste wahrscheinlich an meiner Nase vorbei nach Amerika, wodurch er drei Wochen Verspätung erhielt, und hinterließ im Vorbeifahren ein Gerüchlein von seinem Inhalt. Das tun Briefe oft.

Statt daß der ›Gedanke‹ in einem Augenblick von Australien herüberkommt, teilt der (anscheinend) empfindungslose Brief einem diesen Gedanken mit, während er unsichtbar im Postsack an einem vorbeistreift.

Nächstes Erlebnis: Einen Monat später – im März – war ich in Amerika. Ich verbrachte einen Sonntag in Irvington am Hudson bei Herrn John Brisben Walker, von der Zeitschrift ›The Cosmopolitan‹. Den nächsten Morgen fuhren wir nach New York und gingen, um zu frühstücken, in den Century Club. Er äußerte sich sehr lobend über den Charakter des Clubs, über die maßvolle Heiterkeit, die darin herrschte, und über die angenehme Lage des Hauses, und fragte mich, ob ich mich niemals bemüht hätte, Mitglied zu werden. Ich sagte nein, New Yorker Clubs wären für Mitglieder, die nicht am Ort wohnten, nur eine beständige Ausgabe, ohne daß man viel Nutzen oder Annehmlichkeit davon hätte.

»Und dabei fällt mir was ein!« rief ich. »Da ist der ›Lotos‹ – der erste New Yorker Club, bei welchem ich Mitglied wurde – meine allererste Liebe in dieser Art. Ich bin jetzt weit über zwanzig Jahre Mitglied gewesen und habe eigentlich doch nur selten mal Gelegenheit gehabt, vorzusprechen und die Leutchen zu sehen. Sie werden alt und grau, ohne daß ich was davon merke. Und dabei zahle ich fortwährend meinen Beitrag. Ich muß heute nachmittag auf ein paar Tage nach Hartford fahren; sobald ich aber zurück bin, will ich ganz im geheimen zu John Elderkin gehen und ihm sagen:

»›Gedenket des Veterans und erweiset ihm Ehren, um der alten Zeiten willen! Macht mich zum Ehrenmitglied und schafft meinen Beitrag ab. Wenn ihr so was wie Ehrenmitglied nicht habt, um so besser – schafft es zu meiner Ehre und Glorie!‹«

»Das wäre wirklich was Großartiges; ich will John Elderkin besuchen, sobald ich von Hartford zurück bin.«

Ich fuhr am Nachmittag mit dem letzten Schnellzug, telegraphierte aber vorher noch an Herrn F. G. Whitmore, er möchte mich am nächsten Tag besuchen. Bei seiner Ankunft fragte er:

»Bekamen Sie vor Ihrer Abreise aus New York einen Brief von Herrn John Elderkin, dem Sekretär des Lotosklubs?«

»Nein.«

»Dann hat er Sie gerade eben verfehlt. Hätte ich gewußt, daß Sie kommen, so hätte ich ihn hier behalten. Es ist was Schönes, und Sie werden stolz darauf sein: Der Vorstand hat Sie durch einstimmigen Beschluß zum lebenslänglichen Mitglied erhoben und den Jahresbeitrag gestrichen. Und Sie sollen am Abend des dreißigsten, zum fünfundzwanzigsten Stiftungsfest des Klubs anwesend sein, um Ihre Auszeichnung entgegenzunehmen. Es sollte mich nicht wundern, wenn sie bei dieser Gelegenheit was Großes aufstellen!«

Wie kam mir an jenem Tage im Century Club die Ehrenmitgliedschaft in den Kopf? Ich hatte nie zuvor daran gedacht. Ich weiß nicht, warum ich den Gedanken gerade in jenem Augenblick hatte und nicht schon früher, aber ich bin fest überzeugt, daß er in der Vorstandssitzung des ›Lotos‹ entsprang und im Augenblick, wo die Abstimmung vollzogen war, den geraden Weg durch die Luft in mein Gehirn nahm.

Und noch ein Beispiel: Ich weilte zwei oder drei Tage in Hartford als Gast des Rev. Joseph H. Twichell. Ich habe ein Vierteljahrhundert lang bei seinen Kindern die Würde eines Ehrenonkels bekleidet und fuhr jetzt mit ihm nach Farmington, um eine meiner Nichten zu besuchen, die in der berühmten Schule von Frau Porter war. Die Entfernung beträgt acht oder neun englische Meilen. Unterwegs erzählte ich zur Erläuterung irgend einer Behauptung folgende Anekdote:

Vor dritthalb Jahren kam ich mit meiner Familie auf der Reise nach Rom durch Mailand, wo wir Halt machten und im Continental abstiegen. Nach dem Essen ging ich hinunter und setzte mich auf einen Stuhl in den fliesenbelegten Hof, wo die üblichen Zitronenbäume in den üblichen Kübeln standen, und sagte zu mir selber: ›Hier ist’s wirklich gemütlich – gemütlich und ruhig, und kein Mensch kann mich stören; denn ich kenne in ganz Mailand keinen Menschen.‹

In diesem Augenblick stand ein junger Herr auf und streckte mir die Hand hin, wodurch meine im Selbstgespräch aufgestellte Behauptung allerdings ein bißchen zu Schaden kam. Er sagte etwa folgendes:

›Sie werden sich meiner nicht erinnern, Herr Clemens, aber ich erinnere mich Ihrer sehr gut. Ich war Kadett in West Point, als Sie mit Rev. Joseph H. Twichell vor einigen Jahren da waren und eine Vorlesung hielten. Ich bin jetzt Leutnant in der regulären Armee und heiße H. Ich bin mutterseelenallein in Europa auf einem bescheidenen kleinen Ausflug; mein Regiment steht in Arizona.‹

Wir kamen in ein freundliches Gespräch, und dabei erzählte er mir ein kleines Abenteuer, das er vor kurzem gehabt hatte, ungefähr in folgender Weise:

›Ich war in Bellagio, im großen Hotel dort, und vor zehn Tagen verlor ich meinen Kreditbrief. Ich wußte absolut nicht, was ich anfangen sollte. Ich war ein Fremder, kannte keinen Menschen in Europa, hatte keinen Soldo in der Tasche. Ich konnte nicht mal ein Telegramm nach London bezahlen, um mir für den verlorenen Kreditbrief einen Ersatz zu bestellen. Meine Hotelrechnung war eine Woche alt und mußte mir nächstens vorgelegt werden – vielleicht konnte das schon im allernächsten Augenblick geschehen. Ich hatte solche Angst, daß ich dachte ich verlöre den Verstand. Wie ein Verrückter lief ich fortwährend auf und ab, hin und her. Wenn jemand in meine Nähe kam, drückte ich mich schleunigst, denn mochte er aussehen wie er wollte, ich dachte immer, es wäre der Oberkellner mit der Rechnung.

›Zuletzt war ich in solcher verzweifelten Stimmung, daß ich entschlossen war alles zu tun, wobei ich auch nur eine schwache Aussicht auf Hilfe hatte, und so beging ich denn folgende Verrücktheit: Ich sah an einem kleinen Tisch in der Veranda eine Familie beim Frühstück sitzen und erkannte, daß es Amerikaner waren: Vater, Mutter und mehrere junge Töchter – jung, geschmackvoll gekleidet und hübsch, wie durchweg alle unsere Landsmänninnen. Ich ging stracks auf sie los, stellte mich ihnen mit meinem Namen vor, sagte ich sei Leutnant in der Armee, erzählte meine Geschichte und bat um Hilfe.

›Nun raten Sie mal, was der Herr tat? Aber Sie kommen in zwanzig Jahren nicht darauf. Er nahm eine Handvoll Goldstücke heraus und sagte mir, ich möchte nur ganz ungeniert zulangen. Ja, das tat er!‹

Am andern Morgen sagte der Leutnant mir, sein neuer Kreditbrief sei inzwischen angekommen; wir bummelten also zu Cook, und er ließ sich das Geld geben, das er brauchte, um den Wohltäter zu bezahlen. Dann schlenderten wir unter der großen Arkade entlang. Auf einmal sagte er: ›Da hinten sind sie; kommen Sie mit, ich will Sie vorstellen.‹ Ich wurde den Eltern und den jungen Damen vorgestellt; dann trennten wir uns, und ich sah weder ihn noch sie jemals w …

»Hier sind wir in Farmington,« unterbrach mich Twichell.

Wir stiegen aus und stapften durch den aufgeweichten Boden die hundert Schritte nach der Schule hin; unterwegs sprachen wir von der langentschwundenen Zeit, da wir und Warner in jene Gegend herausgestreift wären und wie schön die Zeit gewesen wäre.

Wir unterhielten uns mit meiner Nichte im Sprechzimmer; dann brachen wir auf. Vor dem Hause begegneten wir einer Doppelreihe von zwanzig oder dreißig jungen Damen aus Frau Porters Schule, die von einem Spaziergang nach Hause kamen. Wir traten zur Seite, als ob wir ihnen Platz machen wollten; in Wirklichkeit aber, um sie uns anzusehen. Auf einmal trat eine von ihnen aus der Reihe heraus und sagte:

»Sie kennen mich nicht, Herr Twichell; aber ich kenne Ihre Tochter, und das verschafft mir den Vorzug, Ihnen die Hand zu geben.«

Dann streckte sie ihre Hand mir hin und sagte:

»Und auch Ihnen möchte ich die Hand geben, Herr Clemens. Sie erinnern sich meiner nicht, aber Sie wurden mir vor dritthalb Jahren unter den Arkaden in Mailand von Leutnant H. vorgestellt.«

Was hatte mir nach so langer Zeit die Geschichte in den Sinn gebracht? War es wirklich die Nähe des jungen Mädchens oder war es nur ein eigentümlicher Zufall?

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