Mein Eintritt in die Litteratur.

Ich hatte in meinen Jugendtagen schon ein kleines Ding – es war ›Der hüpfende Frosch‹ – in einer Zeitung des Ostens veröffentlicht, aber ich war der Meinung, daß dies nicht zähle. Meiner Ansicht nach konnte eine Person, die in einer gewöhnlichen Zeitung was erscheinen ließ, keinen Anspruch erheben, für eine litterarische Person im eigentlichen Sinne zu gelten: sie mußte höher hinauf; sie mußte in einer Zeitschrift erscheinen. Dann würde einer eine litterarische Person sein; dann würde er auch zugleich berühmt sein – einfach berühmt. Nach diesen beiden Dingen strebte mein Ehrgeiz mit starker Sehnsucht.

Dies war 1866. Ich machte einen Beitrag fertig und sah mich sodann um, welche Zeitschrift wohl die beste wäre, um meinen Ruhm aufblitzen zu lassen. Ich wählte die bedeutendste, die es in New York gab. Mein Beitrag wurde angenommen. Ich unterzeichnete ihn ›Mark Twain‹, denn dieser Name war an der Küste des Stillen Ozeans schon so ziemlich unter den Leuten und ich gedachte ihn jetzt mit diesem einzigen Anlauf über die ganze Welt zu verbreiten. Der Artikel erschien in der Dezember-Nummer und ich saß einen ganzen Monat und lauerte auf das Januarheft; denn dieses mußte die Liste der Mitarbeiter des Jahrgangs enthalten; mein Name würde darunter und ich würde berühmt sein und könnte das Bankett geben, dessen Veranstaltung ich plante.

Ich gab das Bankett nicht. Ich hatte die Worte ›Mark Twain‹ nicht ganz deutlich geschrieben; es war für die Buchdrucker im Osten ein neuer Name und sie setzten dafür ›Mike Swain‹ oder ›Mac Swain‹ – genau erinnere ich mich nicht mehr. Jedenfalls wurde ich nicht berühmt und gab kein Festmahl. Ich war eine litterarische Person, aber was für eine – eine begrabene, eine lebendig begrabene!

Mein Artikel betraf den Brand des Schnellseglers ›Hornet‹, der am 3. Mai 1866 auf der Fahrt unterging. Es waren damals 31 Mann an Bord, und ich befand mich in Honolulu, als die 15 Ueberlebenden, zu Gespenstern abgemagert, dort ankamen, nachdem sie mit Lebensmitteln für zehn Tage versehen in offenem Boot eine 43tägige Reise unter der sengenden Tropensonne gemacht hatten. Ein recht bemerkenswerter Ausflug; aber der Kapitän, der ihn leitete, war auch ein bemerkenswerter Mann, sonst würde kein einziger lebend angekommen sein. Er war ein Neuengländer vom besten Seemannsschlag der tüchtigen alten Zeit – Kapitän Josiah Mitchell.

Ich befand mich auf den Sandwichinseln, um Briefe für die Wochenausgabe der ›Union‹ von Sacramento zu schreiben, eine reiche und einflußreiche Tageszeitung, die zwar meine Artikel nicht nötig hatte, sich’s aber leisten konnte, wöchentlich 20 Dollars für nichts auszugeben. Die Eigentümer waren liebenswürdige und allgemein beliebte Leute; ohne Zweifel sind sie jetzt längst tot, aber in mir lebt wenigstens noch ein Mensch, der ihnen eine dankbare Erinnerung zollt; denn es lag mir sehr viel daran, die Inseln zu sehen, und sie erhörten meine Bitte und verschafften mir die Gelegenheit, obwohl nur kümmerliche Aussicht vorhanden war, daß sie irgend welchen Nutzen davon hätten.

Ich war mehrere Monate auf den Inseln gewesen, als die Schiffbrüchigen ankamen. Ich war bettlägerig in meinem Zimmer und nicht imstande auszugehen. Hier bot sich eine großartige Gelegenheit mein Blatt gut zu bedienen – und ich konnte sie mir nicht zunutze machen! Natürlich ärgerte mich das schmählich. Aber zum guten Glück war damals Excellenz Anson Burlingame in Honolulu, auf dem Wege zur Uebernahme seines Postens in China, wo er den Vereinigten Staaten so gute Dienste leistete. Er kam zu mir, besorgte eine Tragbahre und ließ mich nach dem Krankenhaus tragen, wo die Schiffbrüchigen lagen. Ich brauchte nicht einmal eine Frage zu stellen; das besorgte er alles selber und ich hatte nichts weiter zu thun als die Notizen zu machen. Es war so recht bezeichnend für ihn, daß er sich die Mühe machte. Er war ein großer Mann und großer Amerikaner und es lag in seiner prächtigen Natur, sich nicht auf den Standpunkt seiner hohen Würde zu stellen, sondern einen freundlichen Dienst zu erweisen, wenn er nur konnte.

Um sechs Uhr abends waren wir mit der Arbeit fertig. Ich aß nichts, denn es war keine Zeit zu verlieren, wenn ich die anderen Berichterstatter schlagen wollte. Es kostete mich vier Stunden, meine Notizen in richtige Ordnung zu bringen, dann schrieb ich die ganze Nacht durch und noch ein bißchen länger. Der Erfolg war der, daß ich am Morgen um neun einen langen und umständlichen Bericht von den Erlebnissen der Hornet-Mannschaft fertig hatte, während die Korrespondenten der San Franciscoer Blätter nur eine kurze Schilderung der hauptsächlichsten Vorfälle schicken konnten – denn sie blieben nicht die Nacht auf. Der Schoner, der in unregelmäßigen Zwischenräumen den Postverkehr mit San Francisco besorgte, sollte ungefähr um neun segeln; als ich zum Dock kam stieß er gerade vom Quai ab. Mein dickleibiger Brief wurde von starker Hand hinübergeworfen und fiel richtig an Bord – und damit war mein Sieg gewonnen. Das Schiff landete zur rechten Zeit in San Francisco; mein vollständiger Bericht schlug wie eine Bombe ein und wurde von Mr. Cash, dem damaligen Vertreter des New York-Herald, an die New Yorker Zeitungen telegraphiert.

Als ich einige Zeit darauf nach Kalifornien zurückkehrte, reiste ich nach Sacramento und präsentierte meine Rechnung für allgemeine Berichterstattung zu 20 Dollars die Woche. Sie wurde bezahlt. Dann kam ich mit einer Rechnung für ›Spezialdienst beim Hornetfall‹: drei Spalten enggesetzte Nonpareilleschrift zu 100 Dollars die Spalte. Der Kassierer fiel zwar nicht in Ohnmacht, aber es fehlte nicht viel daran. Er ließ die Verleger rufen und sie kamen und sagten kein Wort. Sie lachten nur nach ihrer lustigen Art und sagten, es sei Spitzbüberei, aber es schade nichts; es sei eine großartige Leistung (ob sie meine Rechnung oder den Hornetartikel meinten, weiß ich nicht). »Zahlen Sie aus; ’s ist alles in Ordnung.« Die besten Zeitungsverleger, die es jemals gab!

Die Ueberlebenden von der ›Hornet‹ kamen am 15. Juni bei den Sandwichinseln an. Sie waren bloß noch Haut und Knochen; die Kleider schlotterten um sie herum, und saßen ihnen wie eine Flagge, die bei Windstille am Stock herunterhängt. Aber sie wurden im Hospital gut gepflegt und die Einwohner von Honolulu versahen sie mit allen Leckerbissen, die ihnen gut thun konnten; sie bekamen schnell wieder Kräfte und bald waren sie so gut wie hergestellt. Nach vierzehn Tagen reisten die meisten von ihnen nach San Francisco; ich ging mit demselben Schiff, einem Segler. Kapitän Mitchell von der ›Hornet‹ war auch dabei, desgleichen die beiden einzigen Passagiere, die auf der ›Hornet‹ gewesen waren. Es waren zwei junge Studenten, Brüder, aus Stamford, Connecticut: Samuel und Henry Ferguson. Die ›Hornet‹ war ein Schnellsegler erster Klasse; die Kajüte der jungen Leute war geräumig und bequem, gut ausgerüstet mit Büchern und auch mit eingemachten Fleischspeisen, Gemüsen und Früchten, um die Schiffskost aufzubessern. Als das Schiff in der ersten Januarwoche aus dem New Yorker Hafen auslief sprachen alle Anzeichen dafür, daß die vierzehn- oder fünfzehntausend Meilen bis zum Ziel in schneller und angenehmer Fahrt würden zurückgelegt werden. Sobald die kalten Breiten im Rücken lagen und das Schiff in Sonnenwetter eintrat, wurde die Reise zu einem Sonntagspicknick. Das Schiff flog südwärts unter einer Wolke von Segeln, die keine Aufmerksamkeit erforderten, da tagelang keine einzige Aenderung daran nötig war. Die jungen Leute lasen, schlenderten auf dem geräumigen Deck herum, ruhten und träumten im Schatten der Segel, speisten mit dem Kapitän; und wenn er sein Tagewerk gethan hatte, spielten sie ›Whist mit ’nem Blinden‹ mit ihm bis zur Schlafenszeit. Nach dem Schnee und Eis und den Stürmen von Kap Horn trollte das Schiff wieder nordwärts, bis es in Sommerwetter kam, und wieder war die Spazierfahrt ein Picknick. Bis zum frühen Morgen des 3. Mai.

Vermutliche Lage des Schiffes: 112° 10´ w. L., 2° n. Br. Kein Wind, kein Seegang – tote Stille. Temperatur tropisch d. h. sengend, blasenziehend von einer Art, daß jemand, der noch nicht selber in solcher Hitze geröstet worden ist, sich keinen Begriff davon machen kann. Auf einmal ein Schrei: »Feuer!« Ein gewissenloser Matrose war gegen alle Vorschriften mit einem offenen Licht in die Vorratskammer gegangen, um etwas Firnis aus einem Faß zu holen. Es kam, wie es kommen mußte, und des Schiffes Stunden waren gezählt.

Es war nicht viel Zeit zu verlieren, aber der Kapitän wußte sie vortrefflich anzuwenden. Die drei Boote wurden ausgesetzt, das Langboot und zwei Seitenhanger. Daß die Zeit sehr knapp und der Wirrwarr und die Aufregung sehr beträchtlich waren, geht schon daraus hervor, daß beim Aussetzen der Boote das eine durch einen Zusammenstoß einen ziemlich bedeutenden Leck bekam und daß dem zweiten ein Ruder durch die Seite gerannt wurde. Vor allem sorgte der Kapitän dafür, daß vier kranke Matrosen auf Deck gebracht und vorläufig auf einer sicheren Stelle niedergelegt wurden – unter ihnen ein Portugiese. Dieser hatte die ganze Reise über keinen einzigen Tag gearbeitet, sondern vier Monate lang in seiner Hängematte gelegen und eine Eiterbeule gepflegt. Als wir im Krankenhaus von Honolulu unsere Notizen machten und ein Matrose Herrn Burlingame diesen Nebenumstand berichtete, hob der Dritte Steuermann, der im Bett nebenan lag, mit aller Anstrengung seinen Kopf hoch und berichtigte mit schwacher Stimme, aber feierlich und im Tone der Ueberzeugung:

»Er züchtete Eiterbeulen. Er hatte ’ne ganze Familie von solchen Dingern. Er that es bloß, damit er nicht auf Wache brauchte.«

Alles was an Lebensmitteln schnell zu erreichen war, wurde von den Leuten und den beiden Passagieren zusammengerafft und auf das Deck geworfen wo der Portugiese lag; dann eilten sie fort, um mehr zu holen. Der Matrose, der es Herrn Burlingame erzählte, fügte hinzu:

»Wir brachten auf diese Weise für die 31 Mann 32 Tagesrationen zusammen.«

Der Dritte Steuermann richtete wiederum seinen Kopf in die Höhe und verbesserte auch diese Angabe, indem er voller Bitterkeit sagte:

»Der Portugiese, der da Schildwache spielte, aß zweiundzwanzig davon auf, während niemand auf ihn acht gab. Ein verdammter Windhund!«

Das Feuer verbreitete sich mit rasender Geschwindigkeit. Rauch und Flammen trieben die Männer zurück, sie mußten halbverrichteter Dinge von der Aufgabe, Lebensmittel zusammenzutragen, Abstand nehmen, und als sie die Boote bestiegen, hatten sie nur zehn Tagesrationen für jeden in Sicherheit gebracht.

Jedes Boot hatte einen Kompaß, einen Quadranten, ein Exemplar von ›Bowditch’s Navigator‹ und einen ›Nautical Almanac‹; die vom Kapitän und vom Ersten Steuermann kommandierten Boote hatten Chronometer. Die Gesamtzahl der Leute betrug 31. Der Kapitän stellte ein Verzeichnis sämtlicher vorhandenen Lebensmittel auf und erhielt folgendes Ergebnis: 4 Schinken, beinahe 30 Pfund gesalzenes Schweinefleisch, eine halbe Kiste Rosinen, 100 Pfund Brot, 12 Zweipfundsdosen mit Austern, Pfahlmuscheln und verschiedenem Eingemachten, ein Fäßchen mit 4 Pfund Butter, 12 Gallonen[1] Wasser in einem 40 Gallonen haltenden Faß, 4 Korbflaschen von je 1 Gallone Inhalt mit Wasser gefüllt, 3 Flaschen Branntwein (Eigentum der Passagiere), einige Pfeifen, Zündhölzer und etwa 100 Pfund Tabak. Keine Arzneimittel. Natürlich mußte die ganze Gesellschaft sofort auf knappe Rationen gesetzt werden.

[1] 1 Gallone = ungefähr 4½ l.

Der Kapitän und die beiden Passagiere führten Tagebücher. Auf unserer Ueberfahrt nach San Francisco gerieten wir mitten auf dem Stillen Ocean in eine Windstille und kamen vierzehn Tage lang nicht einen Klafter vorwärts; dies setzte mich instand, eine Abschrift von den Tagebüchern zu machen. Das von Samuel Ferguson geführte ist das vollständigste; ich will einiges daraus mitteilen. Als die nachstehende Eintragung gemacht wurde, hatte das dem Untergang geweihte Schiff ungefähr vor 120 Tagen den Hafen verlassen und alle Mann an Bord suchten sich mit den üblichen Zerstreuungsmitteln die viele überflüssige Zeit zu vertreiben; an ein Unglück dachte kein Mensch.

2. Mai. 1° 28´ n. Br. 111° 38´ w. L. Wieder ein heißer trägemachender Tag. Einmal versprachen indessen die Wolken Wind und es kam wirklich eine leichte Brise – gerade genug, um uns in Fahrt zu halten. Zu erwähnen ist heute nichts, als daß sich große Mengen Fische um unser Schiff zeigen; am Vormittag wurden 9 Boniten gefangen und mehrere große Thunfische bemerkt. Nach dem Essen bekam der Obersteuermann einen großen Burschen an die Angel; er konnte ihn nicht halten und reichte die Leine dem Kapitän zu, der am Bug stand. Dieser hielt fest und brachte mit einem Ruck den Fisch heraus – aber, schnapp! weg war Leine und Haken und alles. Auch sahen wir, gemächlich hinter unserm Stern herschwimmend, einen gewaltigen Haifisch, der 9 oder 10 Fuß lang gewesen sein muß. Wir stellten ihm mit allen möglichen Angeln und mit einem Stück Schweinefleisch nach; aber er hatte keine Lust anzubeißen. Ich vermute er hatte mit den über Bord geworfenen Köpfen und anderen Ueberresten der Boniten seinen Appetit gestillt.

Die Eintragung vom nächsten Tag betrifft die Katastrophe. Die drei Boote stießen ab, ruderten ein kleines Stück hinweg und hielten dann. Die beiden beschädigten hatten jedes einen bösen Leck; einige von den Leuten mußten fortwährend das Wasser ausschöpfen, andere verstopften die Löcher, so gut sie konnten. Der Kapitän, die beiden Passagiere und elf Mann waren im Langboot; sie hatten einen Teil der Lebensmittel und des Wassers und es war kein Platz übrig, denn das Boot war nur 21 Fuß lang, 6 breit und 3 tief. Der Obersteuermann und 8 Mann waren in dem einen von den kleinen Booten, der Zweite Steuermann und 7 Mann im anderen. Die Passagiere hatten von ihren Kleidern bloß die Mäntel gerettet, dazu die Sachen, die sie auf dem Leibe trugen. Das Schiff in seinem Flammenmantel und mit der gewaltigen Säule von schwarzem Qualm, die sich gen Himmel erhob, bot in der Einsamkeit des Weltmeers einen großartig malerischen Anblick und Stunde auf Stunde saßen die von ihrem Obdach Vertriebenen und starrten auf dieses Bild. Inzwischen berechnete der Kapitän die ungeheure Entfernung, die zwischen ihm und dem nächsten erreichbaren Land lag und setzte dann die Rationen fest, die ihnen in ihrer Not zur Verfügung standen: einen halben Zwieback zum Frühstück, einen Zwieback und ein bißchen Büchsenfleisch zum Mittag, einen Zwieback als Abendessen; zu jeder dieser Mahlzeiten ein paar Schluck Wasser. Und so begann der Hunger bereits zu nagen, während das Schiff noch brannte.

4. Mai. Das Schiff brannte die ganze Nacht lichterloh und wir hegen einige Hoffnung, daß irgend ein Schiff den Feuerschein gesehen hat und auf uns zu hält. Wir haben indessen bis heute Vormittag keins bemerkt und uns deshalb entschlossen, alle zusammen Nord zum West zu halten; es liegen einige Inseln 18° oder 19° n. Br. und 114° oder 115° w. L. und wir hoffen in der Zwischenzeit von einem Schiff aufgelesen zu werden. Das Schiff sank plötzlich um 5 Uhr in der Frühe. Wir finden die Sonne sehr heiß, sie versengt uns die Haut; aber wir alle wollen nach Kräften versuchen, unser Leben zu retten.

Sie thaten nunmehr etwas sehr Natürliches: sie warteten noch etliche Stunden auf das Schiff, das möglicherweise den Feuerschein gesehen hatte und natürlich nur langsam durch die fast totenstill daliegende See herankommen konnte. Endlich gaben sie diese Hoffnung auf und setzten ihren Plan fest. Ein Blick auf die Karte wird dem Leser zeigen, daß ihr Kurs leicht zu bestimmen war. Die Albemarleinsel (von der Galapagosgruppe) liegt genau östlich beinahe 1000 Meilen entfernt; das im Tagebuch ziemlich unbestimmt als ›einige Inseln‹ bezeichnete Land (die Revilla-Gigedo-Inseln) liegen, nach der Schätzung der Schiffbrüchigen, in einer nur sehr unsicher bestimmten Richtung ungefähr 1000 Meilen nördlich und 100 oder 150 Meilen westlich; Acapulco, an der mexikanischen Küste, liegt ziemlich genau nordöstlich, nicht ganz 1000 Meilen entfernt. Man wird sagen: »Felseninseln, die einsam im Weltmeer liegen, können ihnen nichts nützen; mögen sie doch auf Acapulco und das Festland zuhalten!« Es sieht allerdings aus, als ob dies der natürliche Kurs sei, aber wenn man die Tagebücher liest, so errät man sofort, daß eine solche Fahrt ganz unvernünftig gewesen wäre – in der That, der reine Selbstmord! Hätten die Boote auf Albemarle zugehalten, so wären sie den ganzen Weg über in den Doldrums[2] gewesen; und das hätte sicheren Untergang in den Fluten bedeutet, denn die Winde sind dort völlig verrückt, blasen aus allen Richtungen der Windrose gleichzeitig und außerdem noch von obenher. Hätten die Boote versucht, Acapulcos zu erreichen, so wären sie auf halbem Wege aus den Doldrums herausgekommen – vorausgesetzt, sie hätten diesen Punkt erreicht – und wären dann in kläglicher Lage gewesen, denn dort hätten ihnen die nordöstlichen Passatwinde gerade in die Zähne geweht, und die Boote waren so mangelhaft aufgetakelt, daß sie nicht binnen 8 Strichen des Kompasses segeln konnten. Sie steuerten also sehr vernünftigerweise nordwärts mit einer kleinen Abweichung nach Westen. Ihre Lebensmittel reichten bei knapper Einteilung nur für zehn Tage; das Langboot hatte die beiden anderen im Schlepptau; sie konnten nicht mit Sicherheit darauf rechnen, in den Doldrums ein nennenswertes Stück vorwärts zu kommen – und sie hatten noch vier- bis fünfhundert Meilen in den Doldrums vor sich. Diese Doldrums sind der wirkliche Aequator, ein tausend oder zwölfhundert Meilen breiter wogender, brüllender, regengepeitschter Belt, der den Erdball umgürtet.

[2] Mit ›Doldrums‹ bezeichnet man den Teil des Oceans nahe dem Aequator, wo häufig Windstillen, Böen und schwache, unstätige Winde vorkommen.

Die erste Nacht hindurch regnete es stark, und alle wurden durchnäßt, aber sie füllten dadurch ihr Wasserfaß. Die Brüder saßen am Heck beim Kapitän, der das Ruder führte. Das Boot war gedrängt voll; kein einziger bekam viel Schlaf.

Der nächste Morgen war stürmisch, böig und regnerisch. Schwerer und gefährlicher ›kurzer‹ Seegang. Man wundert sich, wie solche Boote ihn überstehen konnten. Es gilt als ein verzweifeltes Wagestück, wenn ein Mann mit einem Hund in einem Nachen von der Größe eines Langboots den Atlantischen Ocean durchquert – und es ist auch wirklich eins. Aber dieses Langboot war überladen mit Menschen und Sachen und nur drei Fuß tief.

Natürlich dachten wir oft an alle Lieben zu Hause; wir freuten uns als uns einfiel, daß heute Abendmahlssonntag ist und daß unsere Freunde Gebete für uns zum Himmel senden, obwohl sie von unserer Gefahr nichts wissen.

Der Kapitän gönnte sich während der ersten drei Tage und Nächte nicht einmal ein Nickerchen, aber in der vierten Nacht nahm er ein paar Augen voll Schlaf. Ungefähr um 10 Uhr änderte er den Kurs und steuerte ost-nordöstlich, in der Hoffnung die Felseninsel Clipperton zu erreichen. Verfehlte er sie, so machte das nichts aus; er würde es dann näher nach den anderen Inseln haben, die das ursprüngliche Ziel bildeten. Ich will hier gleich erwähnen, daß er den Felsen nicht fand.

Am 8. Mai war den ganzen Tag kein Wind, glühend sengte die Sonne; sie griffen zu den Riemen. Delphine waren in Menge sichtbar, aber sie konnten keinen einzigen fangen.

Ich glaube wir alle beginnen uns mehr und mehr der furchtbaren Lage bewußt zu werden, worin wir uns befinden … Ein Schiff braucht oftmals eine volle Woche, um durch die Doldrums zu kommen – wie lange also erst eine Nußschale wie die unsrige? … Wir sitzen so gedrängt, daß wir uns nicht ausstrecken können, um ’mal einen guten Schlaf zu thun.

Dieser letzterwähnte Umstand wurde natürlich mit der Zeit immer beschwerlicher, aber es liegt in der menschlichen Natur, solche Unannehmlichkeiten nur im Anfang besonders zu erwähnen. Diese Qual dauerte noch fünf Wochen – dessen müssen wir uns erinnern, da der Tagebuchschreiber nichts davon sagt; unsere Betten werden uns dadurch um so weicher vorkommen.

Henry befindet sich gut; aber er brütet mehr über unsere Lage als mir lieb ist … Wir fingen zwei Delphine, sie schmeckten gut … Der Kapitän glaubte, der Kompaß sei nicht in Ordnung, aber der seit lange unsichtbar gewesene Polarstern trat hervor – ein willkommener Anblick! – und bestätigte die Angabe des Kompasses.

10. Mai. 7° 0´ 13´´ n. Br., 111° 32´ w. L. Wir haben also in den 6 Tagen, seitdem wir das Schiff verließen, ungefähr 300 Meilen nach Norden gemacht. Heute treiben wir den ganzen Tag in Kalmen. Dabei werden wir von der Hitze gebraten. Wie der Kapitän sagt: alles Romantische ist längst entschwunden; wir kommen nur sehr langsam vorwärts; vom hintersten Boot kommen schlimme Nachrichten; die Leute sind unverständig, sie haben all ihr Büchsenfleisch, das vom Schiff mitgenommen wurde, aufgegessen und werden jetzt unzufrieden. Nicht so die Leute des Obersteuermanns; diese stehen offenbar unter den Augen eines Mannes.

11. Mai. Wir liegen still! Oder noch schlimmer: wir verloren in der letzten Nacht mehr Fahrt, als wir gestern gemacht hatten – wir sind drei volle Meilen von den mühsam zurückgelegten 300 wieder zurückgekommen.

Der Hahn der von dem brennenden Schiff in unser Boot gerettet wurde, lebt noch immer und kräht jeden Morgen, wenn der Tag anbricht; das heitert uns wirklich auf … Wovon hat er die ganze Woche über gelebt? Haben die hungernden Männer ihn von ihren armseligen Bissen noch mitgefüttert? … Des Zweiten Steuermanns Boot hat wieder kein Wasser mehr – ein Zeichen, daß sie mehr trinken, als sie dürfen. Der Kapitän sprach ziemlich scharf zu ihnen.

Noch immer lugten sie hoffnungsvoll nach Schiffen aus. Der Kapitän war ein bedächtiger Mann und ließ sie bei ihrem Glauben; er selbst wußte ohne Zweifel, daß ihr Ausspähen im Grunde nur Zeitvergeudung war.

In diesen Breiten sind am Horizont oftmals aufrechtstehende Wölkchen, die genau wie Schiffsegel aussehen … Ich hatte drei Flaschen Branntwein von unserem Privatvorrat in Sicherheit gebracht; sie leisteten uns in diesen Tagen gute Dienste. Der Kapitän giebt jedem Mann von der Wache zwei Eßlöffel voll, halb Branntwein, halb Wasser … Die Leute halten regelmäßig Wache – vier Stunden Dienst, vier Stunden Ruhe … Der Obersteuermann ist ein ausgezeichneter Offizier. Ich bot ihm eine Flasche Branntwein an, aber er lehnte sie ab; er sagte, er könnte auch im hintersten Boot Ruhe halten und wir hätten nicht genug für alle.

13. Mai. Heute nacht brachte der Ruf: Ein Schiff! uns alle auf die Beine. Es schien, als ob die Signallaterne eines Schiffes sich aus der See erhebe. In atemloser Hoffnung standen wir, die Hand über den Augen haltend, und das Herz stak uns in der Kehle. Dann brach die Hoffnung zusammen: das Licht war ein aufgehender Stern. Ich dachte heute oft an unsere Leute daheim; wie enttäuscht werden sie nächsten Sonntag sein, wenn sie kein Telegramm von uns aus San Francisco bekommen.

Es sollte noch manche Woche dauern bis dies Telegramm ankam; aber dann kam es wie ein Blitz aus dem Himmel, wie ein freudenbringendes Wunderzeichen – ein Lebenszeichen von lieben Menschen, die schon als tot betrauert waren. Am 13. Mai verzeichnet Ferguson, daß die Tagesration auf einen Viertel-Zwieback für jede Mahlzeit heruntergesetzt ist; dazu haben sie täglich ungefähr ein Viertelliter Wasser. Und noch liegt mehr als ein Monat vor ihnen! Doch da sie dies nicht wissen, so sind sie ›alle ziemlich vergnügt‹.

Am 14. Mai versetzt ein Ereignis sie in einen Freudentaumel von Hoffnung: es kommt ein Landvogel! Er ruht sich eine Weile auf der Raa aus und sie können ihn in aller Bequemlichkeit ansehen und können ihn beneiden und ihm für die Botschaft danken. Als neuer Gesprächsstoff ist dieser Vogel unermeßlich wertvoll: eine Abwechselung für die Zungen, die bis zu tödlicher Ermüdung immer und immer wieder dieselbe Frage besprechen: »Werden wir jemals wieder Land sehen – und wann?« Ist der Vogel von Clipperton-Rock? Sie hoffen es und sie glauben von Herzen gern, was sie wünschen. Wie sich später herausstellte, war der Vogel kein Bote des Heils gewesen; er hatte sie gefoppt.

Am 17. Mai vermerkt Kapitän Mitchell in seinem Logbuch: »Nur noch ein halber Scheffel Zwieback übrig!« – Und sie haben noch einen Monat über die See zu wandern!

Es regnete die ganze Nacht und den ganzen Tag; ein unbehaglicher Zustand für sie alle. Ein Schwertfisch jagte einen Boniten; das arme Ding suchte Rettung unter dem Steuerruder des Langboots. Der große Schwertfisch schoß fortwährend um das Boot herum, zum nicht geringen Schrecken aller Insassen. Den Leuten lief das Wasser im Munde zusammen, denn das Tier hätte ein ganzes Festessen gegeben; aber niemand wagte natürlich die Bestie anzurühren, denn sie hätte ja sofort das Boot in Grund gebohrt, wenn sie belästigt worden wäre. Die Vorsehung behütete den armen Boniten vor dem wilden Schwertfisch. Das war recht und billig. Dann kam die Vorsehung den schiffbrüchigen Seeleuten zu Hilfe: sie fingen den Boniten. Das war ebenfalls recht und billig. Aber dabei kam der Schwertfisch zu kurz. Er machte sich davon; wahrscheinlich dachte er über diese knifflichen Fragen nach.

Die Mannschaft in allen drei Booten ist allem Anschein nach wohlauf; der schwächste von den Kranken, der so lange Zeit an Bord keinen Dienst hatte thun können, ›ist prächtig wiederhergestellt‹. Es ist der vom Dritten Steuermann verabscheute Portugiese, der die ›ganze Familie von Eiterbeulen gezüchtet hatte.‹

Am 19. Mai ließ der Kapitän die beiden kleinen Boote herankommen und erklärte, eins von ihnen müsse auf eigene Hand weiterfahren; das Langboot könne nicht länger alle beide schleppen. Der Zweite Steuermann weigerte sich, aber der Obersteuermann war bereit; er war überhaupt stets bereit, wenn eine Männerarbeit zu thun war. Er übernahm das hinterste Boot; sechs von den Leuten erklärten sich bereit darin zu bleiben, zwei von seiner eigenen Mannschaft kamen mit ihm; im ganzen waren also acht, den Obersteuermann eingerechnet, neun Mann im Boot. Er segelte ab und kam gegen Sonnenuntergang den anderen außer Sicht. Dem Tagebuchschreiber that es leid, daß er ging; das war natürlich: sie hätten besser den Portugiesen missen können.

Jetzt nach 32 Jahren lebt meine Abneigung gegen diesen Portugiesen wieder auf. Seit langer Zeit weiß ich nicht einmal mehr, wie er aussieht – aber einerlei, ich hasse ihn wieder inbrünstig wie nur je.

Wasser wird jetzt kostbar werden, denn da wir jetzt aus den Doldrums herauskommen, so kriegen wir höchstens ab und zu einen Regenschauer mit einem Passatwind.

Am 20. Mai erreichen sie 12° 0´ 9´´ n. Br. Sie müßten jetzt völlig aus den Doldrums heraus sein – aber sie sind noch drin. Keine Brise; die langersehnten Passatwinde wollen immer noch nicht kommen. Sie schauen immer noch sehnsüchtig nach einem Segel aus, aber sie haben nur ›Visionen von Schiffen, die sich zu nichts verflüchtigen‹. Am Nachmittag fängt der Zweite Steuermann einen Tölpel, einen Vogel, der hauptsächlich aus Federn besteht; ›aber da sie kein anderes Fleisch haben, so ist es willkommen‹.

Am 21. Mai erreichen sie endlich die Passatwinde. Der Zweite Steuermann fängt noch drei Tölpel und giebt dem Langboot einen ab. Zum ›Mittagessen‹ giebt es eine halbe Kanne kleingeschnittenes Fleisch, das unter die Leute verteilt wird und ihnen ›einige Kraft giebt‹. Ein Mann muß fortwährend Wasser schöpfen, denn der Leck, den das Boot beim Aussetzen bekam, war schlecht zugestopft. Der nächste Tag war ein recht ereignisvoller.

22. Mai. Diese Nacht hatten wir den Wind von vorne, so daß wir ost-südöstlich, dann wieder west-nordwestlich zu steuern hatten, und so immer abwechselnd. Heute morgen weckte uns plötzlich der Ruf: »Segel voraus!« Und wirklich, wir konnten es sehen! Wir machten uns vom Boot des zweiten Steuermanns frei und steuerten so, daß wir auf dem Schiff bemerkt werden mußten. Es war ungefähr um halb sechs in der Frühe. Nachdem wir ungefähr 20 Minuten lang in höchster Aufregung auf das Segel zu gehalten hatten, erkannten wir, daß wir das Boot des Obersteuermanns vor uns hatten. Natürlich freuten wir uns, sie zu sehen und zu vernehmen, daß alle gesund waren; aber es war doch für uns alle eine bittere Enttäuschung! Jetzt, wo wir unter den Passatwinden sind, können wir, wie es scheint, unmöglich so scharf nördlich halten, um die Inseln zu erreichen. Wir haben beschlossen, unser Bestes zu thun, um den von Schiffen befahrenen Strich der See zu erreichen. Infolgedessen wurde es notwendig, auch das andere Boot seinem Schicksal zu überlassen. So geschah es denn auch, aber erst nach recht unerquicklichen Auseinandersetzungen und nachdem wir noch einmal Wasser und Lebensmittel geteilt und den Matrosen Cox aus ihrem Boot in das unsrige genommen hatten. Mit ihm sind wir jetzt fünfzehn! Die Leute vom Boot des zweiten Steuermanns verlangten, wir sollten sie alle bei uns aufnehmen und ihr Boot treiben lassen. Es war ein sehr schmerzlicher Abschied.

Durch den westlichen Kurs verbessern sich unsere Aussichten, von einem Schiff aufgenommen zu werden, aber jeden Tag schmelzen unsere spärlichen Vorräte so sehr zusammen. Wenn wir nicht die Fische, Delphine und Vögel gehabt hätten, so weiß ich nicht, wie wir so weit hätten kommen können. Vorgestern erbot ich mich, das Morgen- und Abendgebet zu lesen und that das gestern abend zum erstenmal. Die Leute, obwohl verschiedenen Nationen und Glaubensbekenntnissen angehörend, sind sehr aufmerksam und nehmen die Hüte ab. Möge Gott meinen schwachen Bemühungen Erfolg verleihen!

24. Mai. 14° 18´ n. Br. Zum Mittagessen auf den Mann fünf Austern und drei Löffel voll Saft, einen Becher Wasser und ein Stück Zwieback von der Größe eines Silberdollars. Wir werden sichtlich immer schwächer – habe Gott Gnade mit uns allen!

26. Mai. 15° 50´ n. Br. Wir haben einen fliegenden Fisch und einen Tölpel gefangen, mußten sie aber roh essen! Die Leute werden immer schwächer und, wie mir vorkommt, mutlos; sie sagen jedoch sehr wenig.

Und so kommt zu all den anderen erdenkbaren und undenkbaren Schrecknissen noch das Schweigen hinzu – das stumme Vorsichhinbrüten, das einem Verzweiflungsausbruch vorausgeht! Ferguson hofft, ›die anderen Boote sind nach Westen verschlagen und aufgefischt worden.‹ (Man sollte von ihnen auf dieser Welt niemals wieder ein Wort hören!)

Sonntag, den 27. Mai. 16° 0´ 5´´ n. Br.; 117° 22´ w. L. nach dem Chronometer. Unser vierter Sonntag! Als wir das Schiff verließen, reichten nach unserer Berechnung unsere Vorräte etwa für 10 Tage und jetzt hoffen wir bei strenger Einteilung noch für eine weitere Woche damit auszukommen.[3] Vorige Nacht fiel wieder ein fliegender Fisch ins Boot, und heute auch einer – beide waren nur klein. Keine Vögel. Ein Tölpel ist ein großer Fang für uns, und ein recht großer giebt ein kleines Mittagessen für uns fünfzehn ab – d. h. natürlich was wir in unserm Langboot ein Mittagessen nennen. Versuchte heute morgen den ganzen Gottesdienst zu lesen, fand es aber zu viel für meine Kräfte; bin zu schwach, werde schläfrig und kann nicht scharf aufpassen; ich ließ daher die zweite Hälfte für heute abend übrig. Ich vertraue auf Gott, daß Er die Gebete hören wird, die heute zu Hause für uns zu Ihm emporsteigen und daß Er sie gnädigst erhört, indem Er uns in unserer tiefen Not Hilfe und Beistand sendet.

[3] Es lagen noch 19 Tage vor ihnen! M. T.

Am 29. Mai wurde der Hungerriemen abermals ein paar Löcher enger zugezogen: die Brotportion wurde von der bisherigen Menge – ein Stückchen Zwieback jedesmal von der Größe eines Silberdollars – auf die Hälfte herabgesetzt und von den täglichen drei Mahlzeiten wurde eine ausgelassen. Des Kapitäns Logbuch verzeichnet die Vorräte: Eine halbe Gallone Brotschnitzel, der dritte Teil von einem Schinken, drei kleine Büchsen Austern und zwanzig Gallonen Wasser.

Trotzdem erhält sich in den Tagebüchern der hoffnungsvolle Ton. Das ist bemerkenswert! Das Boot ist jetzt, unter 16° 44´ n. Br. und 119° 20´ w. L., mehr als 200 Meilen westlich von den Revilla-Gigedo-Inseln; diese zu erreichen, davon kann bei der mangelhaften Segeltüchtigkeit des Bootes nicht die Rede sein, denn die Passatwinde wehen genau aus Westen. Das nächste für ein solches Boot erreichbare Land ist die ›Amerikanische Inselgruppe‹, die 650 Meilen westwärts liegt! Trotzdem ist keine Rede davon, den Kampf aufzugeben, ja es ist nicht einmal eine Entmutigung zu bemerken. Und dabei heißt es am 30. Mai: »Jetzt haben wir noch: eine Büchse Austern; drei Pfund Rosinen; eine Büchse Suppe; den dritten Teil von einem Schinken; dreiachtel Gallonen Brotschnitzel.«

Sechshundertundfünfzig Meilen Wegs mit einem Hut voll Lebensmitteln! Und zum Glück wissen sie nicht, daß sie nicht 650 Meilen, sondern 2200 noch zurückzulegen haben.

Der letzte Mai ist da. Und an diesem Tage ist ein Unglück zu verzeichnen: Gestern waren noch drei Pinten Brotschnitzel übrig, heute morgen wird der kleine Sack offen gefunden und es fehlen ein paar Stücke Zwieback!

Es thut uns weh, jemanden wegen einer so schurkischen Handlung im Verdacht haben zu müssen, aber es ist keine Frage, daß dieses schwere Verbrechen begangen worden ist. In zwei Tagen wird es mit den übrigen Brocken sicherlich zu Ende sein. Gott gebe uns die Kraft, die amerikanische Gruppe noch zu erreichen.

Wie der dritte Steuermann mir in Honolulu erzählte, erinnerten die Matrosen sich in jenen Tagen voll bitteren Aergers, daß der Portugiese 22 Rationen gefressen hatte, als er auf dem Schiffsdeck lag; nun verwünschten sie ihn und thaten einen Schwur, wenn es zu Kannibalismus käme, so solle er zuerst für die anderen leiden. Samuel Ferguson bemerkt vom Kapitän: »Er ist ein guter Mann und hat sich sehr freundlich gegen uns benommen – beinahe wie ein Vater. Er erzählte: wenn ihm das Kommando des Schiffes etwas früher angeboten wäre, so hätte er seine beiden Töchter mit an Bord genommen.« Man schaudert, wenn man daran denkt, mit wie knapper Not die Mädchen dem Schiffbruch entgingen!

An diesem letzten Mai vermerkt der Kapitän in seinem Logbuch:

Die beiden Mahlzeiten täglich bestehen jetzt aus folgendem: 14 Rosinen und ein Stück Zwieback von der Größe eines Pennys zum Abendessen; ein Becher Wasser, ein Stück Schinken und ein Stück Brot, beide von der Größe eines Pennys, zum Frühstück.

Hierzu ist zu bemerken, daß die Angabe ›von der Größe eines Pennys‹ sich nicht nur auf den Umfang sondern auch auf die Dicke bezieht. Der Schinken wurde nach Samuel Fergusons Tagebuch so dünn geschnitten, wie es nur mit einem ganz scharfen Messer möglich war.

1. Juni. Diese Nacht und heute ist das Wetter sehr böig und es ist kein Zweifel, daß nur des Kapitäns Bedachtsamkeit – nächst Gottes fürsorglichem Schutz – uns während dieser 24 Stunden vor dem Untergang bewahrt hat. Es ist über alle Begriffe wunderbar, wie jeder Bissen, der über unsere Lippen kommt, uns gesegnet ist. Ich muß täglich an das Wunder mit den Fischen und Broten denken. Henry benimmt sich prachtvoll; dies ist ein großer Trost für mich. Wie es kommt, weiß ich selbst nicht, aber ich hege große Zuversicht und hoffe, daß unsere Trauerzeit bald enden wird, obwohl wir die befahrene Schiffsstraße nur kreuzen und sehr bald weit davon weg sein werden. Unsere Haupthoffnungen setzen wir auf einen Walfischfänger oder ein Kriegsschiff, oder auf irgend einen Australier. Die Inseln, auf die wir steuern, sind im ›Bowditch‹ angegeben, aber nach meiner Karte soll es zweifelhaft sein, ob sie an der betreffenden Stelle wirklich vorhanden sind. Gebe Gott, daß sie da seien!

Zweifelhaft! Es war schlimmer: eine Woche später segelten sie über die Inseln weg!

Aus dem Logbuch des Kapitäns:

2. Juni. Nur noch zwei kümmerliche Tagesvorräte; zehn Rationen Wasser für den Mann und ein Häppchen Brot. Aber die Sonne scheint und Gott ist barmherzig.

Aus Samuel Fergusons Tagebuch:

Sonntag, 3. Juni. Unser Zustand wird allmählich fürchterlich. Ich ging, oder kroch vielmehr, heute morgen nach dem vorderen Ende des Bootes und war überrascht, wie außerordentlich schwach ich war, besonders in den Knieen und überhaupt in den Beinen. Die Sonne hat wieder geschienen, ich habe einige von meinen Sachen trocknen können und hoffe auf eine bessere Nacht.

4. Juni. Wenn unser Chronometer einigermaßen richtig geht, müssen wir morgen oder übermorgen die ›Amerikanischen Inseln‹ sehen. Sind sie nicht da, so haben wir für uns nur noch die Möglichkeit, einem von seinem Kurs verschlagenen Schiff zu begegnen, aber dies müßte in den allernächsten Tagen sein, denn länger als 5 oder 6 Tage können wir mit unseren Nahrungsmitteln nicht reichen und mit unseren Kräften geht es sehr schnell abwärts. Ich war sehr erstaunt als ich heute bemerkte, wie meine Beine oberhalb der Kniee abgemagert sind; sie sind kaum noch dicker als früher meine Oberarme waren. Doch ich vertraue auf Gottes unendliche Gnade, ich bin gewiß, Er wird’s machen, wie es für uns am besten ist. Daß wir 32 Tage in einem offenen Boot am Leben geblieben sind, mit Nahrungsmitteln, die nur für 10 Tage reichten und von denen wir noch dazu zweimal einen Teil abgegeben haben – das ist mehr, als menschliche Klugheit und Kraft ohne Beistand vollbringen könnte.

Aus des Kapitäns Logbuch:

4. Juni. Brot und Rosinen gänzlich aufgezehrt.

Aus Henry Fergusons Tagebuch:

Die Unzufriedenheit der Mannschaft wird gefährlich; wir hören lautes Murren und rohe Redensarten. Gott behüte uns vor einem Kampf mit den Leuten; wenn wir sterben müssen, so nehme Er uns zu sich und mache uns den bitteren Tod nicht noch bitterer.

Aus Samuels Tagebuch:

Eine ruhige Nacht und ein leidlicher Tag; leider sind unser Segel und der Flaschenzug schadhaft geworden und müssen ausgebessert werden; das ist ein hartes Stück Arbeit, weil es notwendig ist, dazu den Mast zu erklettern. Von den Leuten vernehmen wir, daß unter ihnen Unzufriedenheit herrscht und drohende Klagen über ungerechte Verteilung des Essens laut werden – lauter unvernünftiges Zeug; es gilt indessen auf der Hut zu sein. Ich werde erbärmlich schwach, suche mich aber, so gut ich kann, aufrecht zu erhalten … Von heute an giebt’s nur noch eine Mahlzeit, ungefähr um die Mittagsstunde; dazu um 8 oder 9 Uhr morgens, um 12 Uhr mittags und um 5 oder 6 Uhr abends je einen kleinen Schluck Wasser.

Aus des Kapitäns Logbuch:

Nichts mehr übrig als ein Stückchen Schinken und ein Becher Wasser für jeden.

Jetzt sind sie also herunter auf eine Mahlzeit täglich – und was für eine ›Mahlzeit‹! – und dabei noch 1500 Meilen vor ihnen! Immer furchtbarer wurde die Lage und wenn sie auch von wirklicher Meuterei verschont blieben, so wurde doch die Haltung der Leute sehr bedrohlich. Und welch wunderbare Fügung: Der Matrose Cox, der vorhin erwähnt wurde, war mehrere Tage in des Obersteuermanns Boot gewesen; er war bereits gänzlich ihrem Gesichtskreis entschwunden, dann zurückgekehrt und in das Langboot aufgenommen worden. Nun, wäre er nicht zurückgekommen, so wären wohl der Kapitän und die beiden jungen Passagiere von den Matrosen totgeschlagen worden, denn diese waren jetzt infolge ihrer Leiden dem Wahnsinn nahe. Folgenden Zettel steckte Henry seinem Bruder Samuel zu:

Cox sagte mir gestern abend, es würden gegen den Kapitän und uns beide recht böse Reden geführt. Sie sagen, der Kapitän sei an allem schuld, er habe überhaupt nicht versucht, das Schiff zu retten, oder Mundvorrat auf die Seite zu bringen; er habe den Leuten nicht ’mal erlaubt, das was sie bereits hatten, in die Boote zu bringen; er gehe bei der Austeilung des Essens parteilich vor, indem er uns begünstige. X. fragte Cox neulich, ob er lieber hungern oder Menschenfleisch essen wolle. Cox antwortete, er würde hungern, worauf der andere versetzte, das wäre ja einfach Selbstmord. Wenn wir die Amerikanischen Inseln nicht finden, thun wir gut, uns auf alles gefaßt zu machen. X. ist der lauteste von allen.

Antwort: Ich denke, wir können uns auf A. und auf B. verlassen; außerdem auf Cox, nicht wahr?

Zweiter Zettel: Ich glaube es auch; außerdem höchst wahrscheinlich noch auf C.; aber darauf ist nicht bestimmt zu rechnen; ganz sicher sind nur B. und Cox. Wenn ich Cox richtig verstehe, so ist bis jetzt noch nichts Bestimmtes besprochen oder abgemacht: aber Hungernde sind unzurechnungsfähig. Es wäre gut wenn du auf dein Pistol und die Patronen aufpaßtest, damit sie uns nicht gestohlen werden.

Aus Henrys Tagebuch:

6. Juni. Wir kamen bei Seetang vorüber und bemerkten etwas, das wie ein alter Baumstamm aussah, aber keine Vögel! Wir fangen an zu befürchten, daß die Inseln nicht da sind. Heute wurde dem Kapitän ganz laut vor allen Leuten gesagt, einige von den Matrosen würden unbedenklich Menschenfleisch essen, falls einer von uns sterben sollte, doch würden sie niemanden totschlagen. Entsetzlich! Gott erhalte uns allen unsere Vernunft und erspare uns solche Greuel. »Vor Seuche, Pest und Hungersnot, vor Krieg und Mord und plötzlichem Tod, bewahr’ uns lieber Herre Gott!«

Aus Samuels Tagebuch:

6. Juni. 16° 30´ n. Br. 134° w. L. (nach dem Chronometer). Trockene Nacht. Der Wind ist steif genug, sodaß das Segel nicht geändert zu werden braucht; heute morgen mißlang ein Versuch, es herunterzulassen, um den Schaden auszubessern. Zuerst versuchte der Dritte Steuermann es; er kam auch bis zur Blockrolle hinauf, mußte aber, beinahe ohnmächtig, wieder herunter kommen, ehe er fertig war. Dann ging Joe hinauf; beim zweiten Versuch konnte er die Taue vorläufig festmachen und die Blockrolle mit nach unten bringen; aber es war eine sehr anstrengende Arbeit und er war nachher den ganzen Tag erschöpft. Wir müssen aber unbedingt das Segel in gute Ordnung bringen, ehe wir alle unsere Kräfte verlieren.

Aus des Kapitäns Logbuch:

Nur noch drei Mahlzeiten übrig.

Aus Samuels Tagebuch:

7. Juni. Die Nacht war naß und ungemütlich. Heute haben wir die volle Gewißheit, daß die Amerikanischen Inseln nicht vorhanden sind. Gegen Mittag beschlossen wir, nicht mehr nach ihnen auszuschauen; wir werden von heute abend an ein bißchen mehr nördlich halten auf die Sandwichinseln zu. Die Passatwinde sind uns günstig. Sollten wir weiter westlich sein, als es nach unserem Chronometer der Fall ist, so wäre dies natürlich zu unserem Vorteil; ich kann mir eigentlich nicht denken, daß der Zeitmesser richtig geht, denn was für Stöße hat bei dem Seegang, den wir hatten, das zartgebaute Instrument aushalten müssen!

8. Juni. Mein Husten hat mich diese Nacht ziemlich gequält und ich schlief daher fast gar nicht. Trotzdem befinde ich mich ziemlich wohl und darf mich nicht beklagen. Gestern brachte der Dritte Steuermann die Blockrolle wieder in Ordnung und Harry kletterte bis zur Mastspitze hinauf und brachte glücklich die Taue an ihren Platz, so daß das Segel jetzt schnell und bequem zu handhaben ist. Bei dem Seegang, den wir haben, ist es überhaupt nicht leicht bis zur Mastspitze hinaufzuklettern, nun nehme man dazu, wie schwach mein Bruder jetzt ist! Wir konnten Harry nur durch einen Extraschluck Wasser belohnen. Heute haben wir gute Fahrt gemacht und gutes Wetter gehabt. Unser heutiges Essen bestand für alle 15 zusammen aus einer halben Büchse ›Suppe mit Rindfleisch‹; die andere Hälfte ist für morgen aufgespart. Henry hält sich immer noch großartig; er ist der allgemeine Liebling. Gebe Gott, daß er am Leben bleibe!

Aus des Kapitäns Logbuch:

Unter der Mannschaft herrscht bessere Gesinnung.

Samuels Tagebuch:

9. Juni. 17° 53´ n. Br. Heute sind wir, so kann ich wohl sagen, mit unseren Lebensmitteln gänzlich fertig geworden. Wir haben bloß noch das untere Ende von einem Schinkenknochen, woran noch ein bißchen von der äußeren Rinde und Haut ist. Der Wasservorrat indessen reicht, wie ich glaube, bei der jetzigen Einteilung noch für zehn Tage. Damit und mit der Nahrung, die unsere Stiefelschäfte und andere kaubare Gegenstände uns liefern werden, hoffen wir es noch auszuhalten, bis wir die Sandwichinseln erreichen oder bis ein Schiff uns aufnimmt. Ich setze meine Hoffnung auf den letzteren Fall, denn nach menschlicher Berechnung werde ich den anderen nicht erleben. Doch wir sind bisher in so wunderbarer Weise beschirmt worden und Gott wird uns, so hoffe ich, auf Seine Art erhalten. Die Leute werden schwächer, sind aber noch ruhig und ordentlich.

Sonntag, 10. Juni. Eine ziemlich gute Nacht gehabt; und heute ist wieder ein schöner Sonntag! Ich fühle bis jetzt den Nahrungsmangel nicht so sehr wie die Wassersnot. Sogar Henry, der für gewöhnlich reichlich Wasser trinkt, kann ab und zu die Hälfte von seiner Portion sich aufsparen; ich dagegen vermag das nicht. Vielleicht liegt dies aber auch an meinem kranken Hals.

Jetzt ist also nichts mehr übrig, was man mit dem besten Willen ›Nahrung‹ nennen kann. Und doch müssen sie sich noch über 5 Tage hinweghelfen, denn von der Mittagsstunde an haben sie noch 800 Meilen vor sich. Jetzt beginnt ein Rennen auf Leben und Tod. Ich gebe von jetzt an ohne unterbrechende Bemerkungen des jüngeren Bruders Tagebuch. Henry Ferguson schreibt:

Sonntag, 10. Juni. Unser Schinkenbein hat uns heute einen Geschmack von Essen gegeben und wir haben für morgen noch den Rest von dem Knochen. Ganz gewiß gab es niemals auf der Welt so einen köstlichen Knabberknochen, der so mit Wonne genossen wurde. Es kommt mir vor als ob ich mich nicht schlechter befinde als am vorigen Sonntag, trotz der Einschränkung im Essen; ich glaube bestimmt, daß wir alle die Kraft haben, die Leiden und Strapazen der nächsten Woche noch auszuhalten. Unserer Schätzung nach sind wir keine 700 Meilen mehr von den Sandwichinseln und da unsere Tagesleistung durchschnittlich etwa 100 Meilen beträgt, so sind unsere Hoffnungen nicht unvernünftig. Gebe der Himmel, daß wir alle Land sehen!

11. Juni. Aßen das Fleisch und die Haut, die an unserem Schinkenbein saß und haben für morgen noch die Speckschwarte. Gott sende uns Vögel oder Fische und lasse uns nicht Hungers sterben, oder zu der furchtbaren Notwendigkeit getrieben werden, uns von Menschenfleisch zu nähren. So wie ich mich jetzt fühle, bin ich überzeugt, daß nichts mich dazu bringen könnte; aber man kann nicht sagen, was man thun wird, wenn man halbtot vor Hunger und seines Verstandes nicht mehr mächtig ist. Ich hoffe und bete, wir mögen die Inseln erreichen, ehe wir in solche Not kommen; aber wir haben einen oder zwei verzweifelte Gesellen an Bord, wenn sie sich auch jetzt ganz ruhig verhalten. Es ist mein fester Glaube und meine innige Zuversicht, daß wir werden gerettet werden. [4]

[4] An diesem Tage verzeichnet der Kapitän in seinem Logbuch nur die drei Worte: »Nahrungsmittel gänzlich aufgezehrt.« Gleichzeitig wurde entdeckt, daß die wahnsinnigen Matrosen sich in den Kopf gesetzt hatten, der Kapitän habe hinten beim Steuer eine Million Dollars in Gold versteckt; sie waren damit umgegangen, ihn und die Passagiere zu ermorden und sich des Geldes zu bemächtigen.

M. T.

12. Juni. Steife Brise. Wir fliegen dahin – gerade auf die Inseln los. Gute Hoffnung – aber die Aussicht auf die nächsten Hungertage sind fürchterlich. Aßen heute Schinkenknochen. Der Kapitän hat Geburtstag; er ist 54 Jahre alt.

13. Juni. Die letzten Splitter vom Schinkenknochen sind jetzt alle; wir finden die Stiefelschäfte sehr schmackhaft, nachdem wir das Salz aus ihnen herausgesogen haben.

14. Juni. Der Hunger thut uns nicht so sehr weh; aber wir sind entsetzlich schwach. Unser Wasser wird gefährlich knapp. Gott gebe, daß wir bald Land sehen. Nichts zu essen – fühle mich aber besser als gestern. Sahen gegen Abend einen prachtvollen Regenbogen – den ersten seit Antritt unserer Reise. Der Kapitän sagte: »Lustig, Jungen! Das ist ein Wahrzeichen – es ist der Bogen der Verheißung

15. Juni. Gott sei ewig gepriesen für Seine unendliche Gnade: Land in Sicht! Wir kamen schnell näher und waren bald der Thatsache gewiß! … Zwei prächtige Kanaken kamen zu uns herausgeschwommen und brachten das Boot an Land. Wir wurden voller Freuden von zwei Weißen aufgenommen: Mr. Jones und seinem Hausdiener Charley; dazu kam ein ganzer Schwarm von Eingeborenen, Männer, Weiber und Kinder. Sie nahmen uns prächtig auf – halfen uns, trugen uns das Ufer hinauf und brachten uns Wasser, Poi, Bananen und grüne Kokosnüsse; aber die Weißen paßten auf, daß wir nicht zu viel aßen. Alle waren über die Maßen froh uns zu sehen und drückten mit Mienen, Gebärden und Worten ihre Teilnahme aus. Dann wurden wir nach dem Hause hinaufgetragen; wir hatten das Tragen allerdings auch nötig! Mr. Jones und Charley sind die einzigen Weißen hier. Bewirteten uns großartig! Gaben zuerst einem jeden von uns einen Theelöffel voll Branntwein in Wasser, dann eine Tasse heißen Thees mit ein wenig Brot. Wir haben alle erdenkliche Pflege bei ihnen. Nachher gaben sie uns noch eine Tasse Thee und wieder etwas Brot. Dann ließen sie uns allein, damit wir schlafen sollten … Heute ist der glücklichste Tag meines Lebens! … Gott in Seiner Gnade hat unser Gebet erhört … Alle Menschen sind so freundlich. Finde keine Worte dafür.

16. Juni. Mr. Jones gab uns ein köstliches Bett, und wir hatten auch eine gute Nachtruhe; aber schlafen konnten wir nicht – dazu waren wir zu glücklich. Wir fürchteten wenn wir einschliefen, so möchten wir aufwachen und finden, daß alles eine Täuschung wäre und wir uns wieder in unserem Boot befänden. Wir zogen die Wirklichkeit vor.

Es ist ein erstaunliches Abenteuer. Es giebt nichts Aehnliches, was es im Möglichmachen von Unmöglichkeiten übertrifft. In einer außerordentlichen Einzelheit – daß nämlich alle Insassen des Bootes am Leben bleiben – steht es wahrscheinlich unter den Abenteuern dieser Art einzig da. Gewöhnlich hält nur ein Teil der Bootsbesatzung es aus – hauptsächlich Offiziere und andere gebildete Leute, die an schwere Arbeit und Entbehrungen nicht gewöhnt sind; die derben Faustarbeiter unterliegen. Aber in diesem Fall überstanden auch die rauhen und rohen Gesellen Hunger und Elend so gut wie die beiden jungen Studenten und der Kapitän. Das heißt: körperlich! Geistig brachen die meisten Matrosen in der vierten Woche zusammen. Immerhin war die von ihnen an den Tag gelegte körperliche Ausdauer erstaunlich. Natürlich war das nicht das Verdienst der Leute, sondern es war lediglich der Willenskraft und geistigen Ueberlegenheit des Kapitäns zuzuschreiben. Ohne ihn wären sie gewesen wie Kinder ohne Aufsicht; sie hätten binnen einer Woche ihre Lebensmittel aufgezehrt und ihr Mut hätte nicht einmal so lange ausgehalten wie die Lebensmittel.

Zuguterletzt wäre das Boot beinahe noch gescheitert! Als es der Küste nahe kam, wurde das Segel heruntergelassen; dann sah aber der Kapitän, daß sie langsam auf ein fürchterliches Riff zutrieben und es wurde ein Versuch gemacht, das Segel wieder hochzuziehen. Aber es ging nicht; die Kräfte waren völlig erschöpft, die Matrosen konnten nicht einmal mehr ein Ruder halten. Sie waren hilflos und dem Tode verfallen. In diesem Augenblick wurden sie von den beiden Kanaken entdeckt, die zu ihnen hinaus schwammen und das Boot durch eine enge, kaum bemerkbare Lücke im Riff lotsten – die einzige Lücke auf eine Strecke von 35 Meilen!

Binnen zehn Tagen nach der Landung waren alle bis auf einen wieder auf den Beinen und konnten herumkriechen. Eigentlich hätten sie an der ›Nahrung‹ der letzten paar Tage sterben müssen; wenigstens einige von ihnen, die ihre Mägen mit Lederstreifen von alten Stiefeln und mit Spähnen von der Buttertonne beladen hatten; sie wurden das Zeug nicht durch Verdauung, sondern auf irgend eine andere unaufgeklärte Weise wieder los! Der Kapitän und die beiden Passagiere hatten kein Leder und keine Spähne gegessen, wie die Matrosen, sondern sie schabten die Stiefel und das Butterholz und machten mit Wasser einen Brei davon. Der Dritte Steuermann erzählte mir, die Stiefel wären alt und voll von Löchern gewesen; und gedankenvoll setzte er hinzu: »Aber die Löcher waren am besten zu verdauen.« Da ich eben von Verdauung sprach, so will ich einen bemerkenswerten Umstand anführen: während dieser seltsamen Reise und noch eine Zeitlang, als sie schon an Land waren, setzten bei einigen von den Leuten die Gedärme völlig ihre Arbeit aus, und zwar zwanzig bis dreißig Tage, in einem Fall sogar dreiundvierzig Tage lang! Auch der Schlaf hörte auf, und trotzdem schadete es den Leuten nichts. Viele Tage lang – ich glaube, einundzwanzig hintereinander – schlief der Kapitän überhaupt nicht.

Nach der Landung gelang es, alle Geretteten davon abzuhalten, daß sie sich überaßen – ausgenommen den Portugiesen. Der entkam dem Wärter und aß eine unglaubliche Menge Bananen. Hundertzweiundfünfzig, sagte der Dritte Steuermann, wären’s gewesen; aber dies war unzweifelhaft eine Uebertreibung – ich denke es waren nur hunderteinundfünfzig. Er war schon beinahe ganz voll von Leder; es hing ihm zu den Ohren heraus. (Dies berichte ich nicht auf Grund der Aussage des Dritten Steuermanns, sondern ich übernehme selbst die Verantwortung dafür.) Der Portugiese hätte natürlich daran krepieren sollen und es thut einem sogar jetzt noch beinahe leid, daß er’s nicht that. Aber er erholte sich und zwar so schnell wie alle andern – trotz allem Leder und Butterholz und Taschentüchern und Bananen, die er in sich hatte. Einige von den Matrosen aßen nämlich in den letzten Tagen Taschentücher, auch Strümpfe. Zu diesen gehörte auch er.

Es ist ein gutes Zeichen für die Leute, daß sie den Kikerikihahn nicht schlachteten, der jeden Morgen so wacker krähte. Er lebte 18 Tage lang; dann stand er auf, streckte seinen Hals lang und machte einen tapferen aber schwachen Versuch, noch einmal seine Pflicht zu thun. Dabei starb er. Ein interessantes Bild. Bemerkenswert ist auch der Regenbogen – der einzige, den man in den 43 Tagen sah; er erhob sich wie ein Triumphthor in die Lüfte, unter welchem die standhaften Streiter als Sieger in den Hafen der Rettung segelten!

Mit Lebensmitteln für 10 Tage vollbrachte Kapitän Josiah Mitchell diese denkwürdige Reise von 43 Tagen und 8 Stunden in einem offenen Boot – eine Segelfahrt von 4000 Meilen, die sie wirklich zurücklegten, und 3360 Meilen in der Luftlinie – und brachte jeden Mann gesund an Land. Ein aufgeklärter, einfacher, ungezwungener, tapferer Mann und lieber Gesellschafter. Ich spazierte 28 Tage lang mit ihm auf Deck – (wenn ich nicht in der Kajüte saß und die Tagebücher abschrieb) – und ich erinnere mich seiner in Verehrung. Wenn er noch lebt, ist er jetzt 86 Jahre alt.

Samuel Ferguson starb, wenn mein Gedächtnis mich nicht täuscht, bald nach unserer Ankunft in San Francisco. Ich glaube nicht, daß er noch sein Elternhaus erreichte; seine Krankheit war durch die Strapazen sehr verschlimmert worden.

Eine Zeitlang hoffte man, daß man auch von den beiden kleinen Booten etwas vernehmen würde – aber diese Hoffnung wurde nicht erfüllt. Sie gingen ohne Zweifel unter und mit ihnen alle, die an Bord waren, auch der ritterliche Obersteuermann.

Die Verfasser der Tagebücher erlaubten mir, sie genau so, wie sie niedergeschrieben waren, abzuschreiben und die Auszüge, die ich daraus gegeben habe, sind in keiner Weise überarbeitet oder verbessert. Die beiden letzten Eintragungen in Henrys Tagebuch sind durch keine Kunst besser zu machen: sie sind litterarisches Gold.

Ich hatte die Tagebücher 32 Jahre lang nicht angesehen, aber ich finde sie haben in diesem Zeitraum nichts verloren. Verloren? Gewonnen haben sie! Denn ein unerklärliches Gesetz will, daß menschliche Tragik durch die Perspektive der zeitlichen Entfernung an Interesse gewinnt. Wir werden uns dessen bewußt, wenn wir in Neapel sinnend vor der armen Mutter aus Pompeji stehen, die vor 18 Jahrhunderten in dem weltgeschichtlichen Aschenregen unterging. Sie liegt da, das Kind, das sie zu retten versuchte, an ihren Busen gedrückt und ihr verzweiflungsvoller Schmerz ist durch die grause Hülle, die ihr den Tod brachte, auf unsere Tage gebracht worden. Die glühende Lava nahm ihr das Leben, aber sie überlieferte ihre Gestalt und ihre Gesichtszüge der Ewigkeit. Sie rührt uns, sie verfolgt uns, beschäftigt tagelang unsere Gedanken – warum? Das wissen wir nicht, denn sie ist nichts für uns, sie ist 1800 Jahre lang für keinen Menschen etwas gewesen. Würde uns dagegen heutigen Tages ein solcher Fall vorkommen, so würden wir sagen: »Die arme Frau! Was für ein Jammer!« – und hätten sie in einer Stunde vergessen.

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