Verschollene Gefühle.

Eins ist vorbei, auf Nimmerwiederkehr: die Romantik des Meeres. Die zarte Gefühlsseligkeit, die das Seewesen umwob, ist aus unserem Werkeltagsleben verschwunden und gehört nur noch als eine ferne halbverwischte Erinnerung der Vergangenheit an. Aber viele von uns Mitlebenden können sich noch sehr gut der Zeit erinnern, da diese Gefühlsseligkeit in jedermanns Brust lebte; und je weiter die Menschen vom Salzwasser entfernt wohnten, desto höher hielten sie diese Liebe. Sie drang, wie die Luft, überall hin. Man brauchte in einer Gesellschaft bloß von der See, der romantischen See zu sprechen, und sofort verfielen die Leute in eine Rührung, die höchst komisch war. Weitaus die meisten Lieder, die vom Jungvolk in den weltabgelegenen Siedelungen gesungen wurden, hatten zum Helden den schwermütigen Wandrer, und dessen Aussprüche über das Meer bildeten die Kehrreime. Wenn Ausflügler in einem Kahn ein Flüßchen entlang plätscherten, sangen sie unfehlbar, sobald sich die Dämmerungsschatten herniedersenkten:

Der Heimat zu, der Heimat zu,

Vom fernen fremden Strand.

Auch unter den Passagieren auf den Schraubendampfern im Westen war dies das Lieblingslied. Andre bevorzugte Gesänge trugen die bedeutungsvollen Titel: ›Der Sturm auf See‹; ›Der Meeresvogel‹; ›Des Schiffsjungen Traum‹; ›Des gefangenen Seeräubers Klage‹; ›Wir sind fern von Haus auf dem stürmischen Meer‹ u. s. w. u. s. w. Die Liste ist endlos. Die guten Ackersleute von dazumal lebten in ihrer Phantasie allesamt hauptsächlich inmitten der Gefahren des Meeres.

Aber das ist jetzt alles vorüber. Spurlos verschwunden. Das Panzerschiff, dessen Aeußeres dem Gefühl nichts mehr sagt und an dessen Bord alles so nüchtern und streng zugeht, verbannte die Romantik aus der Kriegsflotte, und der ebenso nüchterne Dampfer verbannte sie aus der Handelsflotte. Die Gefahren und Ungewißheiten, die einst das Leben auf See romantisch machten, sind verschwunden, und mit ihnen das poetische Element. Heutzutage singen die Passagiere an Bord niemals Seemannslieder, und die Schiffskapelle spielt niemals derartige Weisen. Die rührenden Lieder von dem Wandrer in fremdem Land fern von der Heimat, die früher so beliebt waren und der Einbildungskraft so feurige Farben vorspiegelten, weil solche Wandrer so etwas Seltenes waren – sie haben ihren Zauber verloren und sind verstummt, weil jetzt jedermann ein Wandrer in fernen Landen ist; die Teilnahme dafür ist also erstorben. Kein Mensch bangt sich mehr um den Wandrer; ihm drohen keine Gefahren der See, keine Ungewißheiten mehr. Er ist auf dem Schiff wahrscheinlich sicherer als zu Hause; denn dort kann es ihm nimmer passieren, daß er einem Freund die letzte Ehre erweisen und barhäuptig in Regen und Hagel am offenen Grabe stehen muß, auf die Gefahr hin, eine Lungenentzündung davonzutragen. Und die Ungewißheiten der Reise sind auf die Frage zusammengeschrumpft, ob er fahrplangemäß am Nachmittag an der andern Seite ankommen wird oder noch bis zum andern Morgen warten muß.

Das erste Schiff, worauf ich überhaupt fuhr, war ein Segelschiff. Es brauchte 28 Tage von San Francisco nach den Sandwichinseln. Der Hauptgrund für diese überaus langsame Ueberfahrt war der Umstand, daß wir in eine Kalme kamen und 14 Tage lang mitten im Stillen Weltmeer 2000 Meilen von Land auf einem und demselben Fleck lagen. Hier auf der ›Havel‹ höre ich keine Seemannslieder, aber auf meinem Segelschiff damals – da hörte ich alle, die es gibt. Es waren auf dem Schiff ein Dutzend junge Leute – werden jetzt wohl hübsch alt sein – und diese setzten sich jeden Abend am Heck zusammen und sangen bei Sternenlicht oder Mondenschein bis Mitternacht Seemannslieder in die leise, schweigende, regungslose Kalme hinein. Sie hatten keinen Sinn für Humor und sangen fortwährend:

Der Heimat zu, der Heimat zu,

ohne daran zu denken, daß dies einfach lächerlich war, denn wir lagen still und kamen überhaupt nach keiner Richtung hin vorwärts. Oft folgte diesem Gesang das andre schöne Lied:

›Sind wir nicht bald da? Sind wir nicht bald da?‹

Frug die sterbende Maid – und der Hafen war nah.

Es war eine sehr nette Gesellschaft von jungen Leuten, und ich möchte wohl wissen, wo sie jetzt sind. ›Ach, alle zerstreut‹ – natürlich; und die Blüte und Anmut und Schönheit ihrer Jugend, wo sind sie jetzt? Unter ihnen war ein Lügenbold; alle versuchten ihn zu bessern, aber keinem gelang es. So überließ man ihn denn nach und nach sich selber; keiner von uns wollte etwas mit ihm zu tun haben. Oft habe ich seither im Geiste die einsame Gestalt vor mir gesehen, wie sie gedankenvoll gegen das Heckbord gelehnt stand, und ich habe bei mir gedacht, wenn wir uns mehr Mühe gegeben und mehr Geduld gehabt hätten, so hätten wir ihn vielleicht doch von seinem Fehler befreien und durch Zureden ihn davon abbringen können. Aber – man mag es kaum aussprechen – er war mit Leib und Seele seinem Laster verfallen und wahrscheinlich unverbesserlich. Ich möchte gerne glauben – und glaube in der Tat – daß ich alles tat, was an mir war, um ihn zu höherer und besserer Gesinnung zu bekehren.

Wir hatten ein eigentümliches Erlebnis. Das Schiff lag während der Kalme die vollen 14 Tage lang genau auf demselben Fleck. Dann kam eine hübsche Brise wellenkräuselnd über die See, und wir breiteten unsre weißen Schwingen zum Fluge aus. Aber das Schiff rührte sich nicht. Die Segel blähten sich, der Wind spannte die Taue an, aber das Schiff bewegte sich nicht um Haaresbreite vom Fleck. Der Kapitän war überrascht. Erst nach mehreren Stunden fanden wir heraus was uns festhielt. Entenmuscheln! Sie sammeln sich in jenem Teil des Stillen Meeres sehr schnell an. Sie hatten sich an den Schiffsboden angesetzt; andre hatten sich wieder an diesen Haufen angesetzt, andre wieder an diese und so weiter, tiefer und tiefer und tiefer, und der letzte Büschel hatte die Säule stark und fest an den Meeresgrund angeheftet, und die See ist an jener Stelle fünf Meilen tief. So war also das Schiff ganz einfach der Griff eines fünf Meilen langen Spazierstocks – jawohl!, und war durch Wind und Segel so wenig zu bewegen wie festes Land. Jedermann sah diese Tatsache als etwas sehr Merkwürdiges an.

Nun, die Woche darauf – indessen, Sandy Hook ist in Sicht.

Dekoration

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