DER KLEINE PAUL

Seine Mutter starb bei seiner Geburt. Und der Vater war jung und freite wieder. Damals war Paul ein Jahr alt … Aber da war ein alter Mann. Der nahm ihn zu sich. Sein Grossvater. Er wurde Mutter für den Jungen. Es ist gut, dass ein kleines Kerlchen jemanden findet, wenn es die Arme ausstreckt. Der Knabe war schwächlich. Doch er bekam eine kräftige Amme, nämlich eine Ziege mit wilden Augen, die dort auf den Felsen herumkletterte. Der weite Garten um das Grossvaterhaus wurde die Heimat des Knaben. Grüne Wiesen, frische Luft, und Bach und Wald. Hier hatte das Kind es gut im Frühling und im Sommer. Hier fand es Freunde: die Blumen. Die kennen keinen Neid.

Pflaumen- und Pfirsichbäume wuchsen in dem Garten. Von den Nestern klang Liebesgesang und fröhliches Flattern und Piepsen. Jenen glückseligen Lichtgesang, der einst im Paradiese zum erstenmal ertönte, stammelt die Erde in jedem neuen Frühling nach … Hier fand der Kleine Liebe. Und hier gewöhnte er sich daran, dass man ihn liebte …

Hier machte er auch seine ersten Gehversuche. Ein zu grosser Stein auf den Gartenwegen, und er fiel hin, – eine kleine Grube in der Erde, und er fiel wieder. Aber das tat ihm weiter keinen Schaden. Die Hände des Grossvaters waren hinter ihm her, waren um ihn, fingen ihn auf und stellten ihn wieder zurecht. Dann lachte das Kind jedesmal. Ganz vermag niemand das Wundervolle eines Kinderlachens in Worten zu schildern, – ebensowenig als sich das Sonnenleuchten in einem Walde ganz malen lässt …

Ein so ehrwürdiges Antlitz hatte der Grossvater, dass man es getrost in die Bibel hätte setzen dürfen. Aber gegen den Liebreiz des Kindes kam seine Ernsthaftigkeit nicht auf. Der alte Mann hatte Ehrfurcht vor der Kindheit, er holte sich Rat bei ihr, und er befolgte diesen Rat … Aufmerksam beobachtete er das allmähliche Erwachen des Tages in dem kleinen Hirne, beobachtete, wie die Gedanken arbeiteten, wie das Wort sich höher und immer höher hob, bis es die Schwingen breiten konnte …

Paul beherrschte seinen Grossvater. Mit unumschränkter Macht, mit der Macht, die Kinder über uns haben, wenn sie uns lieben. Der Grossvater wurde zum Sklaven des Jungen. – »Warte, Grossvater!« – und der Grossvater wartete. »Nein, komm'!« – und der Grossvater kam. – O, wie gut sich die beiden vertrugen, der kleine Tyrann und der alte kujonierte Sklave! Der eine drei Jahre alt, der andere weit über achtzig. Aber gleich grosse Kinder waren sie beide dort unter den Vogelliedern des Gartens. Der Grossvater lehrte seinen Enkel das Denken, und Paulchen lehrte den alten Mann das Glauben. Den ganzen Tag waren sie beisammen. Nachts schliefen sie in demselben Zimmer. Sie sprachen miteinander wie die blauen Vögel im Märchen.

Dem Vater Pauls wurde von seiner neuen Frau bald ein neuer Knabe geschenkt. Paul wusste nichts davon. Er war bei dem Grossvater. – »Nimm dich vor dem Wasser in acht, Paul! – Geh nicht so nah ans Wasser! – Aber Paul, nun hast du nasse Füsse bekommen!« – »Ja, Grossvater.« – »Nun müssen wir nach Hause und uns umziehen!« – Paul kannte keine Sorgen. Der Grossvater war seine ganze Welt. –

Und da starb der Grossvater.

Der Kleine verstand das nicht. Sein Auge suchte. Seine Stirn grübelte. Aber er verstand es nicht. Mitunter war der alte Mann wohl müde gewesen und hatte gesagt: »Ja ja, Paul – ich muss nun bald sterben, dann siehst du deinen alten Grossvater nicht mehr – und er hat so viel von dir gehalten.«

Wer aber könnte das vertrauensselige Licht löschen, das »Nichtverstehen« heisst?

Die Kirche lag draussen zwischen den Äckern. Eine kleine, armselige Kirche, die sich nun unter Glockengeläut auftat. Es war ein schöner Tag. Der Pastor, die Verwandten, die Freunde kamen mit dem toten Grossvater vom Trauerhause. Sie beteten laut auf dem ganzen Wege. Barhäuptig gingen sie dahin … Es war Frühling, und alles ging in leichten Kleidern. Und der Kleine pilgerte dicht hinter dem Sarg her. Öde lag der Kirchhof. Keinen Baum gab es da. Alle Gräber glichen sich in ihrer Schmucklosigkeit. Die Friedhofsmauer war baufällig. Eine Holztüre führte durch sie hinein. Die tat sich so schwer auf. Paul beschaute aufmerksam die Türe. Er war nun drei Jahre alt.

»Du schlechtes Kind! Rasend könnte man werden mit dir! Da sitzt er nun und ruiniert meine Kleider mit all der Milch! In den Keller sollst du!« So spricht man jetzt zu Paul.

Als sie den Grossvater fortgetragen hatten, zog bald ein fremder Mann in das alte Haus, – sein Vater –, und eine fremde Frau mit einem Säugling brachte er mit. Die Stiefmutter hasste den kleinen Paul. Er stand ihr im Wege. Eine Mutter kann eine Sphinx sein. Weiss auf der einen Seite, die liebt – schwarz auf der andern, die hasst. Die Eifersucht kann sie weich machen gegen das eigne Kind, und hart gegen ein fremdes …

Leiden und dulden, – das kann ein Märtyrer, ein Prophet, ein Apostel. Aber ein kleiner Junge? Hass statt Liebe? Paul konnte das nicht begreifen. Wenn er abends in seine kleine Kammer kam, war es ihm, als sei sie in finsteres Schwarz getaucht. Er weinte lange, wenn er allein war, weinte, bis er endlich einschlief. Und wenn er erwachte, sah er sich immer verwundert um. Es war ihm, als wenn es hier innen im Hause keinen Tag und keine Fenster gäbe. Und wenn er dann hinaus kam, schien ihm auch der Garten verwandelt und fremd geworden, und er hielt sich dort auf, wo dunkler Schatten lag. »Was? – bist du schon wieder da? Und so schmutzig bist du! Mach, dass du fort kommst!«

Nach dem Schelten war die Stiefmutter jedesmal gut zu ihm. Aber das dauerte nicht lange.

Er besann sich nicht mehr auf alle die Worte, die der Grossvater zu ihm gesprochen hatte, aber er wusste: der Grossvater hatte ihn lieb gehabt …

Schweigsam war der Junge geworden, er sprach fast gar nicht mehr. Er weinte auch nicht mehr. Oft aber sass er da und schaute nach der Türe hin …

Eines Abends war er fortgeblieben. Man konnte ihn nicht finden. Es war im Winter. Die kleinen Fussspuren verloren sich im Schnee.

Am Morgen darauf fand man ihn. Viele wollten abends vorher ein Kind weinen und rufen gehört haben: »Grossvater! Grossvater!« – Das ganze Dorf hatte nach ihm gesucht. An der Holztüre zum Kirchhof fand man ihn. Seltsam, wie der Kleine im Dunkeln dorthin hatte finden können …

Er hatte es nicht fertig gebracht, das Holzgitter zu öffnen, und da er nicht zum Grossvater gelangen konnte, den er wecken wollte, hatte er sich endlich niedergelegt und war eingeschlafen …

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