RUTH

Boas hatte sich zum Schlummer hingestreckt. Er war allzu müde geworden. Den ganzen Tag hatte er gedroschen. Nun ruhte er sich bei seinem Korn aus. Weites Land rundum deckten seine Weizen- und Roggenfelder.

Er war reich, aber mildtätig und rechtschaffen.

Wenn er jemanden kommen sah, der Ähren aufsammeln wollte, die noch zerstreut auf dem Stoppelfeld lagen, sagte er zu seinen Schnittern: »Ach, nehmt doch nicht alles mit!«

Er lebte einsam. Sein Bart hatte schon längst die Farbe des Silbers. Leuchtend wallte er über sein weisses, makelloses Linnenhemd herab.

Die Weiber vergassen, dass er alt war. Sie sahen nur, wie schön er war.

Jedes Lebensalter hat seine Schönheit.

Was Flamme ist in den Augen der Jungen, ist Licht in den Augen der Bejahrten. Der unbeständige Tag weicht dem ewigen Tage …

Dort, wo Boas sich zum Schlummer niedergestreckt hatte, schliefen auch seine Schnitter. Wie ein schwarzer Haufen nahm sich das von ferne aus.

Das war unter südlichem Himmel, und vor langer, langer Zeit …

Wie Boas so lag und schlief, hatte er einen Traum, und im Traume eine Offenbarung, wie Jakob, wie Judith.

Zu seinen Häupten sah er den Himmel offen.

Er sah einen Eichbaum. Der hob sich von ihm aus hoch in die Lüfte, als ob er in ihm wurzelte. Und mit den Ästen stieg ein Geschlecht empor, Glied um Glied. Hier unten nahe der Wurzel schlug ein König seine Harfe … und ganz droben am Wipfel ging ein Gott in den Tod …

Und Boas träumte, dass er also zu dem Herrn sprach: »Wie kann denn dies nur geschehen? Ich habe keinen Sohn und auch kein Weib. Die an meiner Seite schlief, die nahmst du von mir. Wohl sind wir noch zusammen, sie halb bei mir im Leben, ich halb bei ihr im Tode. Doch kann ich Stammvater eines Geschlechtes werden? In der Jugend, ja, da haben wir wohl manchen schönen Morgen! Der Tag steigt auf aus der Nacht als Sieger. Aber im Alter, und wenn wir einsam geworden sind, fällt der Abend schwer auf uns … da beugt sich die Seele nieder nach dem Grabe, – wie ein Stier, der dürstet, seine Stirne zum Wasser senkt, davon er trinken will …«

Also sprach Boas in seinem Traum, und glaubte glückselig, er habe den Herrn geschaut.

… So wenig eine Zeder fühlen kann, dass an ihrem Fusse eine Rose blüht: so wenig fühlte Boas, dass neben ihm ein Weib ruhte. Denn indessen er schlief, hatte Ruth, die Moabiterin, sich dort hingelagert. Sie wartete wunderbang, was wohl geschehen würde, wenn Boas erwachte …

Nicht wusste Boas, dass neben ihm ein Weib harrte, – nicht Ruth, was Jehova mit ihr beginnen wollte …

Der Odem der Nacht umwogte sie. Dann und wann wellte durch das Dunkel ein Strom balsamischer Wohlgerüche. Übervoll von Sehnsucht waren die Schatten, gleich bangen hochzeitlichen Bräuten … Gewiss schwebten hier schweigende Engel … Oft war da etwas Blaues im Dunkel … wie ein leises Flüstern von leuchtenden Flügeln …

Ruth hörte die Atemzüge des Boas. Sie mengten sich mit dem Murmeln eines Baches im Moos. Mild war die Luft, und die Lilien standen hoch …

Ruth sann vor sich hin: und Boas schlief …

Schwarzdunkel war das Gras.

Herdenglockengeläute klang von ferne.

Unendliches Schweigen wölbte sich vom Himmel über die Erde. Es war die stumme Stunde, wo Löwen sacht nach Quellen suchen …

Alles ruhte im Lande Ur …

Die Sterne strahlten glitzernd auf dem schwarzen Sammet der Himmelskuppel …

Im Osten hob sich der Neumond. Seine Sichel hatte scharfe Spitzen …

Und Ruth sann, leise die Augenlider hebend, und also war ihr Sinnen: »Was für ein Schnitter mag das wohl sein dort oben im Ewigen, der seine goldene Sichel in den Sternfeldern vergass?« …

Share on Twitter Share on Facebook