MITTELALTER

Ratbert, der Sohn Rudolfs, König von Arles – auch Kaiser liess er sich nennen – thronte auf dem Marktplatz von Ancona. Er hatte die Stadt mit List überrumpelt. In der Kleidung eines römischen Patriziers sass er auf einem ziselierten Fürstenstuhl, die Lanze des heiligen Mauritius in seiner Hand. Hundert Barone und Ritter, die Blüte von Italiens edelsten Geschlechtern, hatte er um sich versammelt. Von ihren Burgen und Herrensitzen waren sie herbeigeeilt wie Fliegen zum Honig. Bei Ratbert war etwas zu holen.

Hellebardiere und Negersklaven hielten den Marktplatz abgesperrt. In einen Festsaal war er verwandelt. Die Banner der versammelten Edlen umkränzten ihn.

Die Stadt war wie ausgestorben. Die Bürger hatten sich in ihre Häuser eingeschlossen. Der Tag war sonnenheiss. Die Sonne leuchtet über Pestilenz wie über goldene Ährenfelder.

Die Vornehmen hatten ihre Plätze eingenommen. Ratbert winkte bald den einen, bald den andern zu sich heran und sprach leise mit ihm. Was er zu jedem einzelnen sagte, verbreitete der weiter. Ein jeder zeigte dabei ein vergnügtes Gesicht, und jene, an die sie Ratberts Worte weitergaben, nicht minder, bis zuletzt die ganze Versammlung in heiterster Laune war. Und alle harrten auf das, was nun kommen sollte.

Der Bischof von Verceuil eröffnete die Tagung mit einem feierlichen Gebet. Der König betete inbrünstig. Das Volk liebt es, seinen König beten zu sehen.

Einer nach dem andern gab dann seinen guten Rat, und jeder, der des Königs Meinung war, wurde auf der Stelle durch ein Geschenk ausgezeichnet. Johann von Carrara bekam des Königs eigene Goldkette um den Hals gelegt. Der Marquis von Cibo erhielt die Stadt Spoleto. Herr Urbin konnte künftig von jedem Fasse Wein, das man in Besançon trank, einen Sou erheben … So ging das eine Weile fort, bis der Bischof Afranus das Wort ergriff.

Der war ein frommer Mann, ein guter Mann, des Königs Almosenverteiler.

In jungen Jahren hatte er sich vorgenommen, Einsiedler zu werden. So früh schon hatte er sich von der Welt und ihrer Eitelkeit abgewandt. Ein grosser Theologe, besonders bewandert in der Gewissenslehre. Eine grobe Kutte war sein Gewand mit einem Strick als Gurt. In demutsvoller Bescheidenheit stand er da. Er bat erst Gott um Erleuchtung, und sprach dann also:

»Eine Kriegslist hat es Ratbert ermöglicht, seine Fahnen auf Anconas Mauern zu pflanzen. Vom Standpunkt der Kirche ist das gutzuheissen. Denn Ancona hatte sich töricht betragen. Es lässt sich nur billigen, wenn bürgerlichen Zwistigkeiten mit bewaffneter Hand ein Ende gemacht wird, auch wenn dabei eine List den Ausschlag gibt. Solche List an Stelle von Blutvergiessen und anderen Gewalttätigkeiten zu setzen, heisst die Kriegskunst mildern und den Sieg von vornherein sichern. Ich bin ja nur ein Mann der Kirche, ich verstehe mich besser darauf, im Hause Gottes – gelobt sei sein Name – die Messe zu lesen, als zu einer so vornehmen Versammlung zu sprechen. Aber soviel verstehe doch auch ich, dass man in dieser Welt auf verschiedene Weise seinen Weg macht. Der König panzert seinen Streithengst mit Eisen und füttert ihn mit frischem, fettem Hafer. Der Erzengel reitet auf einem Drachen. Der Apostel auf einem Esel. Und so ist es auch mit dem Recht. Auch das ist nicht gleich für alle. Für den König ist es dehnbarer als für das gemeine Volk. Es ist notwendig, dass der König Freiheit hat. Es ist notwendig, dass das Volk in strammer Zucht gehalten wird. Das Volk ist Herde. Der König ist sein Hirte. Der König führt die Befehle Gottes im Volke aus. Der König darf zum Wohl seines eigenen Volkes ohne besondere Kriegserklärung andere Völker überfallen, besonders wenn es sich um Türken handelt. Die Türken stehen ausserhalb des allgemeinen Völkerrechts, denn sie sind keine Christen. Aber die Christen, die sich dem König widersetzen und sich wie jene betragen, sind ja im Grunde auch nichts anderes als Türken und können ganz ebenso behandelt werden. Gilt es das Wohl des Staates, so dürfen den König keine Bedenken zurückhalten. Jede Sache hat ihr besonderes Gesetz und fordert eine besondere Einsicht. Die Tochter des Grafen von Final ist ein Kind, und es ist nicht recht, dass Minderjährige den Thron innehaben. Nun sitzen ja wohl auch in anderen Reichen Minderjährige auf dem Thron. Da erhebt sich die Frage: darf man den einen absetzen, und den andern nicht? Ja gewiss, das darf man. Sind doch die Sitten und die Verhältnisse so grundverschieden. Das salische Erbfolgegesetz mag anderswo heilsam sein, aber in Final ist es verwerflich.«

»Bischof,« sprach der König, »du sollst Kardinal werden!«

Auf einem Felsen an der genuesischen Küste lag die Feste Final. Eine treue Besatzung wachte über das Kind, über die Erbin der Freigrafschaft. Bei der Kleinen war ihr Grossvater. Sie lebten dort einsam zwischen Mauern und Schluchten. Das Mädchen war fünf Jahre alt, der Grossvater achtzig.

Sie hiess Isora von Final, er Fabrice Graf von Albenga, ein wackerer Mann, von allen geliebt, einst als gewaltiger Feldherr gefürchtet, als Admiral und General, seine Zeitgenossen durch Charakterstärke und Lauterkeit der Gesinnung überragend. Nun war er ein Greis. Und wie alle Hochsinnigen war er rückhaltlos vertrauensselig gegen jedermann. Denn er stammte aus einem besseren Jahrhundert als dieses war, das er nun noch miterlebte. Für diese Zeit hatte er eigentlich kein Verständnis. Er kam sich darinnen vor wie ein Landflüchtiger. Alle seine Altersgenossen waren dahin. Die betagteren Leute erinnerten sich wohl seiner noch ein wenig, die jungen aber hatten ihn ganz und gar vergessen. Oft schritt er wie im Traum einher, ohne zu hören oder zu sehen. Man konnte glauben, seine Seele weile in solchen Augenblicken im Jenseits, um zu erfahren, wann ihre Stunde schlagen würde. Das Einzige wohl, was ihn noch eine Weile hienieden zurückhielt, war Liebe. Er lebte für seine Umgebung. Man muss lieben, wenn man in den Ruinen der Vergangenheit Wurzeln schlagen will. So wie es der Efeu macht. Seine Blätter haben alle die Form eines Herzens …

In seiner Enkelin lebte ihm noch einmal die alte, versunkene Zeit auf. Ihm war, als sähe er sein Weib und seine Tochter in der Kleinen wieder. Ungestört lebte er sein Traumleben. Jeden Morgen gürtete er sich sein Schwert um, obschon er es kaum mehr aus der Scheide ziehen konnte. Jeden Abend nahm er das Kind mit in die Kapelle und betete dort, indes er mit klaren Augen auf die Grabsteine im Chor schaute. Das Kind frug. Und er erzählte. Manchmal spielte die Kleine frühmorgens allein in den Türmen, ihren alten guten Freunden. Wenn er sie dann fand, entsprang sie ihm und lief lachend hinter Schmetterlingen her, rund um die Grüfte …

In diesem räuberischen Jahrhundert hatte jedes Volk seine Grossen, die es ausplünderten. Und über den Grossen sassen wieder die Könige als gierige Geier. Aber die Grafschaft Final war eine Freistatt für Rechtschaffenheit und Wohlfahrt. Die Einkünfte der Domänen und die Abgaben der Herrensitze wurden Jahr für Jahr auf zwanzig Maultieren in die Feste gebracht. Gold und Silber lag in einem Keller verwahrt, den nur der greise Graf wusste. Uralt war der Keller, und er barg noch grosse Schätze aus den Zeiten Wittekinds und der Ottonen. Am ganzen Mittelmeer erzählte man von seinem Reichtum. Viele, die an Final vorbeisegelten, hatten schon die Stärke des Turmes bewundert, der hoch in den Himmel ragend über diesem Keller Wache hielt. Die vier Evangelisten standen geschnitzt und vergoldet auf vier Wurfmaschinen. Ausserdem war der Zugang zu dem Felsgelass geschützt durch zwei stolze, riesenhafte Kriegergestalten aus Stein, die im hohlen Innern ihrer gewaltigen Sturmhauben viele lebendige, eisenbewehrte Hüter verbargen. Uneinnehmbar war die Feste.

Eines Morgens stiess die Torwache ins Horn. Ein Geistlicher, von einem Läufer begleitet, überbrachte einen Brief des Königs von Arles. Ratbert schrieb: Bevor er nach Tarent segle, fühle er sich gedrängt, seine Base Isora zu begrüssen und ihr die Stirne zu küssen. Der Geistliche verneigte sich vor dem Grafen und betonte, es sei das eine Ehre, wie sie der König sonst nur Königinnen erweise.

Dem Briefe hatte Ratbert einen Wagen mit Geschenken und kostbarem Spielzeug vorausgesandt. Isora klatschte entzückt mit den Händchen. Der fromme Gottesmann wurde gut aufgenommen, und als er schied, erwies er der Kleinen Ehren, wie sie nur einem grossen Souverän zukommen.

Dem alten Grafen schmeichelte es sehr, seine Enkelin so hoch geschätzt zu sehen. Er gelobte Ratbert gastlichste Aufnahme.

Wie Fabrice nun eines Tages so stand und gerührt wieder und immer wieder das gnädige Handschreiben des Königs durchlas, flog ein Rabe vorbei und warf seinen dunklen Schatten über den Brief. Diese schwarzen Vögel folgten einst auch Judas, als er dem Herrn Jesus den Weg wies.

»Habt acht auf den Raben!« mahnte die Wache. Der Vogel hatte sich auf einen der Türme gesetzt. »Den Raben dort«, sagte der Graf, »kenne ich seit meiner Knabenzeit. Der hat ganz in der Nähe sein Nest. Der ist mindestens hundert Jahre alt, und krächzte von jeher so wunderlich. Aber erschreckt hat er mich noch nie!«

Nun bekam man in Final alle Hände voll zu tun. Das Gras auf den gepflasterten Wegen und an den Steintreppen wurde ausgejätet, die Türme wurden gesäubert, Wände getüncht, reife Gartenfrüchte aufgehäuft, Fässer mit Öl und Wein aus den Kellern heraufgeschafft, grünes Laub und Salbeiblüten über alle Stufen und Gänge gestreut. In den Küchen brieten Wildschweine an Spiessen. Aus allen Winkeln scholl Lachen bei fröhlicher Arbeit. Köstliche Teppiche hingen von den Balkonen nieder.

Der grosse Tag war gekommen …

Die kleine Gräfin wird noch angekleidet. Ihre Kemenate ist voll von dienenden Frauen, und bei ihr weilt der alte Graf. Mit blossen Füsschen sitzt sie auf ihrem Bette. Er vor ihr in einem alten Lehnstuhl, und schaut auf die weisse Kinderstirn, die nun bald ein König zu küssen kommt. Und goldenes Haar leuchtet fromm um das kleine, feine Gesichtchen. Er spricht mit ihr und mit den Dienerinnen und mit sich selbst allerlei, was ihm gerade einfällt – Altes, Neues, Trauriges, Lustiges.

»Ja, nun musst du auch richtig Staat machen! Nun kommt ein grosser Herr, dich zu begrüssen, dich zu küssen, hörst du? Vergiss aber nicht, ihn ›Monseigneur‹ anzureden. – Nein, schau, das hat er dir auch noch geschenkt: die heilige Jungfrau mit dem Silberdiadem! Und diesen Ritter! Du, der war gewiss einer von Attilas Bogenschützen! Und dieser Kerl da von Gold! Was für eine Pracht! – Nun kommen schon die Bauersleute von weit her. Die halten viel von dir, weisst du! Und Goldzechinen sollst du auf sie niederwerfen! Und dann sollst du nur sehen, wie die ihre Mützen von den Köpfen reissen, um deine Münzen zu erhaschen! Ei, wird das ein Fest werden! Dass ich den Tag noch erleben darf! – Nein nein – nun muss ich der Kleinen helfen. Das ist mein Amt! Als ihre Mutter noch klein war – ja, damals war ich schon ein alter Geselle – da habe ich sie auch immer angekleidet. Ja ja – ich dachte, der Tod könnte mit grauen Haaren zufrieden sein – ja, das dacht' ich so oft, und dass er nicht dunkles und blondes Haar mit sich zu nehmen brauchte! Das Kind sollte seine Mutter noch haben – und ich mein Weib! Aber da die beiden nun meinen Platz eingenommen haben, muss ich eben an ihre Stelle treten!«

Und dabei knöpfte er das Kinderkleidchen zu, indes andere der süssen Kleinen die Schuhe banden. Aber gewiss hatte er sich ehedem den Panzer besser umgelegt als jetzt das Seidenkleidchen der Kleinen.

Die Ritter und Edeldamen und das Volk harrten schon in festlichem Schmuck draussen vor dem Schlosse.

Als aber die Sonne rotglühend niedersank, waren alle Klippen und Höhen am Meer mit Raubvögeln bedeckt. Seltsam! Die Gabelweihe hockte dort, der furchtbare Seeadler, der gefrässige Taubenhabicht, alle gierig nach Menschenfleisch … und neue Schwärme kamen in wilden Zügen hinzu, Abkömmlinge sicherlich der alten Raubvögel, der römischen Adler über dem Zirkus, dort, wo die kupferne Wölfin stand und ihnen zuheulte, jener Adler, die dem Marius folgten und den Sulla kannten … ihre Abkömmlinge hockten nun kreischend auf den Riffen und Felsgraten … angefressene Menschenschädel hatten sie irgendwo liegen gelassen, nur um eiligst nach Final fliegen zu können … von Galgen waren sie weggeflogen, von zersplitterten Masten gescheiterter Schiffe, die mit schwarzverwittertem Tauwerk und Hunderten von Leichen draussen im Meer festsassen … und von Lazarethen kamen sie her, wo die Kranken schneller starben, als sie begraben werden konnten … und alle waren freudig erregt und schrieen schon von ferne, wenn sie Final, die stolze Feste, erspähten: »Dort lohnt sich unser Flug! Sputet euch! Dorthin kommt ein Kaiser!!«

Er war gekommen. Die Glocken hatten geläutet. Fanfaren hatten geschmettert. Volksjubel hatte gelärmt. Freudenfeuer hatten geloht. Alle Türme hatten übers Meer geleuchtet wie riesige Flammenbrände. Unter den Bäumen des Schlosses war in langen Tischreihen das Bankett gerüstet. Alles war zu einem jauchzenden Freudenfest bereitet worden … Und wer hatte so seinen Einzug gehalten? Satan und seine Orgien! Erst Mord und Brand … dann ein zügelloses Gelage. Der Böse feierte da sein Fest, in dem besiegten, geplünderten, verwüsteten Final. Gesungen wurde da, aber Angstschreie gellten dazwischen. Neben des Herdfeuers friedlicher Glut raste der Hölle wüstes Geflacker. Die Türme brannten. Alles war zum Skelett einer anklagenden Ruine geworden. Dort oben hatte der Rabe gesessen …

Eine mächtige Eiche hatte Feuer gefangen und stand in hellen Flammen. Es sah aus, als leuchtete ein fackeltragender Riese zu dem höllischen Treiben!

Rot dampften die Pflastersteine von Menschenblut, das sich mit dem Windgebraus mischte. Wenn die Scheiterhaufen aufloderten, blinkte der Widerschein im Gold und Silber der Tischgeräte. Da tafelte er nun, der Kaiser, mit seinem Gefolge. Die Klingen, die noch eben gemordet hatten, zerteilten jetzt friedlich den Braten von Lämmern, Hasen und Fasanen. Trommeln, Hörner und Posaunen einten sich zu einer wahnwitzigen Musik. Man sang und schrie und trank und frass und kotzte sich. Weiber sah man zwischen Priestern und Rittern und Landsknechten, Bischofshüte und Bischofskreuze zwischen blutbefleckten Wurfspeeren und Hellebarden.

Auf einem Thronstuhl zuoberst an der langen Tafel sitzt Ratbert, bleich und befriedigt. Griechische Sänger singen vor ihm, preisen ihn als Cäsar, König, Sieger, Genius und Gott: und dazwischen tönt aus der Tiefe herauf das Todesröcheln der Überlisteten … Die Luft ist verpestet vom Dunst warmen Blutes und frischer Leichen … die Schmausenden suchen den Gestank mit Essenzen und Gewürzen in Silberschalen und mit Weihrauch zu verscheuchen, der frommen Gefässen entströmt. Bluthunde stehen im Dunkel und nagen an Knochen … Wenn die Eiche auflodert, glaubt man ein Menschenantlitz zwischen den gefletschten Hundezähnen zu sehen …

Pagen und Kriegsknechte, noch erhitzt von dem Gemetzel, warten bei der Tafel auf. Unter dem klaren Abendhimmel brennt in blaulohenden Schalen der Trank der Liebe, der Willkommtrunk. In Gläsern funkeln Würzweine, und Schaumweine perlen und brausen … Alle Lippen trinken und küssen, umschwült von glutheisser, schwerer Luft, durch die der Gemordeten grauenvolle Geister racheheischend schweben …

Hier finden sie alle Futter genug, die nach Menschenaas gierenden Vögel: Raben, Eulen, Gabelweihen und Adler … Grausig ist es, einem Geier zuzusehen, der über einer Leiche hockt, sie zerfleischt, zerreisst, und, wenn er gesättigt ist, alles wieder hinter sich säubert und sich ableckt – oder einem Habicht, der kreischend zerschmetterte Gliedmassen daherschleppt …

Aber ihr Mahl ist noch lange nicht so grauenvoll wie das Gelage des Kaisers …

Wenn Raben mit ihren kreisrunden Augen die Nacht durchspähen, wenn Spinnen in ihren blassen Netzen lauernd hangen, treibt sie dazu das Gesetz des Hungers, das Gesetz des Lebens, der Erde, dessen dunkles Geheimnis nur dem Himmel enthüllt ist. Aber dass der Mensch, der Erkorene, der das Gute gesucht und gewollt und erkannt hat, dass der seinen Bruder aus dem Weg räumt mit Lachen und Jubel – davor erschrickt der ewige Lebenszeuger, auch wenn das Verbrechen sich feig in die Nacht verbirgt. Ob der Himmel blau oder schwarz ist – dass Kain seinen Bruder erschlägt, davor erschrickt Gott …

Mit einem Mal verstummt die trunkene Orgie … So jäh und tief ist das Schweigen, dass sogar die Hunde von den Knochen, daran sie nagen und knacken, aufschauen … Ein Greis steht mitten unter den Zechern, ein Gefangener, mit weissem Haar, mit auf dem Rücken gefesselten Händen wie ein Dieb, doch mit einer Miene und in einer Haltung, die Ehrfurcht gebietet … Lanzenträger führen ihn vor. Es ist Graf Fabrice.

Ratbert spricht zu ihm: »Du allein weisst, wo der Schatz verborgen liegt – nur deshalb lebst du noch. Und bei Gott! sagst du, wo der ist, so rettest du dein Leben.«

Fabrice sieht ihn an und schweigt.

Der König ruft: »Bist du taub, Kamerad? Gib Antwort, Graf, oder du alter Löwe sollst dich krümmen wie ein Hund!«

Der Greis steht regungslos zwischen den blanken Lanzen, als hätte er schon seinen Platz in dem ewigen Schweigen.

Und er schaut den König mit solchen Augen an, dass der auffährt und schreit: »Ein dummes altes Schaf warst du, dass du uns in deine Burg hereinliessest! Und all das Kinderspielzeug, das ich sandte, war für dich bestimmt – denn du lebst ja in einer zweiten Kindheit! Heraus jetzt mit dem Schatz, den du zusammengestohlen hast, und reize mich nicht länger! Denn sonst werde ich deinen Kopf aufpflanzen lassen, droben auf dem Turm auf einem Pfahl – dann hast du Zeit genug zum Schweigen!«

Der Greis bleibt stumm. Der Henker kommt grinsend mit Schraubschuhen, legt sie ihm an und schraubt sie fest, dass die alten Knochen krachen.

Erschüttert und durchgraut aber sehen die plötzlich ernüchterten Gäste der Kaisertafel drein, als im selben Augenblick ein Bärenkäfig herangeschleppt wird. Ein Seil schleift nach. Ein Leichenkleidchen liegt auf dem Käfig, zwei dünne weisse Kinderärmchen hangen aus den Ärmeln heraus. Fabrice bebt wie ein Baum im Wirbelsturm … und Ratbert reisst das Totenlaken von dem Kinderantlitz – die kleine Isora ist es, bleich und stumm … ihr Händchen hält noch ein Spielzeug umkrampft … da fährt Riesenkraft in den Greis, los reisst er sich aus den Henkerfäusten und schleppt das Marterwerkzeug mit …

»Erwürgt!« schreit er. »O ich Unseliger! Einem König hatte ich die Tore aufgetan, Rittern und Priestern – und es kam ein Rudel Wölfe … O ich Unseliger! Zertreten konnt' ich dich und deinen ganzen Haufen! nicht einer wär' mir lebendig entwischt! … Jetzt kannst du sagen, das Glück folge deinen Fahnen – bist du doch Sieger über ein fünfjähriges Kind! Verflucht seist du, Ratbert, du Kaiser, du König, du Schurke! Nun hörst du, dass ich sprechen kann! Und nun will ich auch mein letztes Wort sagen auf dieser Erde: Lebt denn wirklich noch ein Gott?? Wagt er es wirklich, seine Gestirne noch einmal aufgehen zu lassen über dieser Erde??«

Da, wie ein tausendfältiger Blitz, schiesst ein furchtbarer Lichtschein hernieder, so blendend und jäh, dass niemand sieht, wie es geschehen – und des Kaisers Haupt, Ratberts Haupt rollt über den Tisch, zwischen Bechern und Kelchen rollt es hinab und liegt auf der Erde. Entsetzt sind alle aufgesprungen und starren nach dem Thronsitz, wo Ratbert der Herrscher noch thront, ohne Kopf … sein Blut spritzt noch wild über die Tafel … in weitem Bogen ergiesst es sich über die Gäste … Und keiner konnte es fassen, wer den Kaiser getötet habe …

Zur selben Zeit, Hunderte von Meilen entfernt, ergeht sich der Abt von Jong-Dieu, Heraklius der Kahle, der Bruder des Erzbischofs von Lyon, in seinem friedlichen Park. Die Nacht ist mondhell, und es tut ihm immer so wohl, nach dem langen Stillesitzen seines gottgefälligen Tages ein wenig im Garten zu wandeln. Da, in jähem Erschrecken, ist ihm, als sähe er einen Riesenschatten aus der Höhe fallen! Er schaut empor … und staunend erblickt er einen Cherub, der ein ungeheures, blutbeflecktes Schwert an einer Wolke wieder blank streicht …

Share on Twitter Share on Facebook