Die heutige Frauenfrage

Diese Entwicklung, die von der Urperiode unseres Volkes bis auf die neueste Zeit herab sich mächtig wirksam erwiesen hat und der wir unsere heutige Familienverfassung und unser in der Sitte begründetes Ideal der Ehe verdanken, hat im letzten Jahrhundert einen Rückschlag erlitten durch den gewerblichen Grossbetrieb mit seiner massenhaften Frauenarbeit. Von den Fabriken hat letztere immer mehr auf den Handel sich ausgedehnt und greift schon mächtig auf andere Berufsgebiete über. Sie macht die Frau vom Erwerbe des Mannes mehr oder minder unabhängig; aber sie macht sie nicht ökonomisch selbständig wie einst im Mittelalter. Vielmehr bedingt sie in der Regel Abhängigkeit von einem Unternehmer. Darin besteht ihre Gefahr. Ihre Folgen liegen klar zutage: Entwürdigung des weiblichen Geschlechts, Erschwerung der Familiengründung für die mit billiger Frauenarbeit konkurrierenden Männer, Auflösung der häuslichen Bande, Verkümmerung und Verwilderung der heranwachsenden Jugend. In vielen Arbeiterhaushalten ist die auf der Ehe und väterlichen Gewalt beruhende Familie verlassen und an ihre Stelle ein auf allerlei Vertragsverhältnissen beruhendes Gebilde getreten[67].

Sollen wir — das ist das verzweifelte Doppelproblem, welches uns die moderne Frauenerwerbsfrage stellt — im Widerspruche mit der gesamten Kulturentwicklung das System der »billigen Hände« auf immer weitere Berufsarten ausdehnen, sollen wir damit auch in diesen Kreisen die Erschwerung der Familiengründung, die Auflösung der Gesellschaft in ihre Atome immer allgemeiner machen? Soll die Ehe als dauernde Lebensgemeinschaft temporären, jeder Willkür preisgegebenen Verbindungen weichen? Und soll das Vertragsprinzip, auf dem die Unternehmung beruht, allgemein auch für die Familie massgebend werden? Oder sollen wir nicht vielmehr mit allen Kräften darnach streben, dass allen Klassen der Bevölkerung der Friede und das Behagen des häuslichen Herdes gesichert, dass der Familiensinn gestärkt und dass der Frau dasjenige Gebiet erhalten werde, auf dem sie sich am glücklichsten fühlt und auf welchem sie Werte schafft, die für die Nation kostbarer sind als eine noch so grosse Steigerung der Produktion durch »billige Hände«? Sollten nicht die Frauen selbst dieses ihr eigenstes Gebiet mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln festhalten und mit den Männern dahin arbeiten, dass die gewiss nicht unvermeidbaren Ursachen beseitigt werden, welche in der modernen Gesellschaft so viele Männer an der Eheschliessung und so viele Frauen an der Erfüllung ihres natürlichen Berufes hindern?

Es ist bekannt, für welchen Teil dieser Alternative sich die moderne Frauenbewegung und ihre Freunde entschieden haben. Sie wollen völlige soziale und rechtliche Gleichstellung und auf der Grundlage selbsteigenen Erwerbes von Mann und Weib eine Neuordnung der geschlechtlichen Beziehungen. Ihnen sei zum Schluss noch Folgendes zu bedenken gegeben.

Am 12. Juni 1907 wurden im Deutschen Reiche 9½ Millionen erwerbstätige Frauen gezählt[68]. Dies bedeutet ziemlich genau ein Drittel aller erwerbstätigen Personen oder die Hälfte der Frauen im Alter zwischen dem 15. und dem 70. Lebensjahre. Von 1895 bis 1907 hat sich die Zahl der erwerbstätigen männlichen Personen um 20%, die der weiblichen aber um 44% vermehrt. Die Zunahme erstreckt sich auf alle Berufsgruppen, trifft aber die selbständig und die unselbständig Erwerbstätigen in sehr verschiedenem Masse. Die letzteren haben in allen Berufsgruppen am stärksten sich vermehrt, während die selbständig tätigen Frauen in der Urproduktion und in der Industrie eine Abnahme und nur im Handel ebenfalls eine Zunahme aufweisen. Zu gleicher Zeit hat die Zahl der weiblichen Dienstboten bei einer Volksvermehrung von 19% trotz wachsenden Wohlstandes sich um reichlich 5% vermindert, und die Zahl der berufslosen Angehörigen ist in ihrer Vermehrung hinter der Zunahme der Gesamtbevölkerung zurückgeblieben.

Diese Zahlenverschiebungen werfen ein scharfes Schlaglicht auf die tatsächlichen Voraussetzungen, unter denen die Frauenfrage der Gegenwart steht. Nicht dass 1907 fast drei Millionen Frauen mehr im Erwerb tätig waren als 1895 ist das bedeutsame, sondern dass die Verkümmerung der Familienhaushaltung immer weniger Raum für Frauenarbeit lässt und dass von den 9½ Millionen einen Beruf ausübender weiblicher Personen mehr als 8 Millionen in abhängiger Erwerbsstellung sich befanden. Nicht bloss in der Produktion sondern auch im Handel, den persönlichen Diensten und selbst den liberalen Berufen vollzieht sich das Eindringen der Frauen in dieser Weise.

Darin liegt die ungeheure Schwierigkeit, darin der grosse Unterschied zwischen der modernen Frauenfrage und derjenigen des Mittelalters. Damals war sie eine Versorgungsfrage, heute ist sie Emanzipationsfrage. Die ökonomische Entwicklung drängt von selbst auf eine rechtliche Neuordnung, und auch die »Emanzipation vom Manne« mag sich in ihrem Gefolge vielleicht durchsetzen lassen, soweit die Natur sie erlaubt. Hinter ihr lauert aber ein neues, weit schwierigeres Problem: die Emanzipation von der ökonomischen und sozialen Abhängigkeit, der das Weib im Erwerbsleben immer mehr anheimfällt und mit jedem neuen Erwerbsgebiete, das es erobert, mehr anheimfallen muss. Nach einem Zeitalter des individuellen »Auslebens« von Weib und Mann sieht die Zukunft wahrlich nicht aus. Die Fortsetzung der jüngsten Entwicklung bedroht uns im Gegenteil mit einem Zustand, bei dem beide Geschlechter gleichmässig in das Joch der Unternehmung eingespannt sind. In dem Masse aber, als in dieser Arbeitsteilung uns technische Fortschritte weiteren Raum für Frauenarbeit schaffen, wird zwischen dieser und der Männerarbeit der Kampf heftiger werden, und schliesslich wird die billigere Frauenhand den Sieg davon tragen. Die Folge kann nur eine Umkehr des seitherigen Verhältnisses der Geschlechter in der Wirtschaft sein: erwerbende Frauen — haushaltende Männer, wenn man sich nicht lieber vorstellen will, dass auch der Haushalt in seinen wichtigsten Bestandteilen zum Gegenstande kapitalistischer Unternehmung geworden sein wird[69].

Sollte das wirklich das Endziel der Entwicklung unserer Kulturvölker sein, dass der Frau die Last der Produktion wieder aufgeladen würde, die ihr eine Entwicklung von zwei Jahrtausenden Stück für Stück abgenommen hat? Rückkehr zur Barbarei, Auflösung der Familienordnung, wie sie seit der Reformation sich gestaltet hat, Zersetzung des Haushalts, in welchem die Frau herrscht und Eingliederung derselben in eine Erwerbsordnung, in der sie nur als dienendes Glied Raum finden kann[70]: es wird schwer, an die Möglichkeit solchen Widersinns zu glauben, schwer, eine Kultur als solche zu verstehen, die eines ihrer kostbarsten Kleinode der Vernichtung preisgibt.

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