Es konnte nicht fehlen, dass die grosse Zahl der alleinstehenden Frauen im Mittelalter auch zu weit bedenklicheren Erscheinungen führte, dass namentlich das Verhältnis der beiden Geschlechter zu einander davon ungünstig beeinflusst wurde. Ganz allgemein dürfte hier die Bemerkung am Platze sein, dass man zu einer durchaus schiefen Beurteilung der mittelalterlichen Gesellschaft gelangt, wenn man jenes Verhältnis immer nur in dem rosig schimmernden Lichte betrachtet, mit dem es der ritterliche Minnesang und Frauendienst verklärt hat. Dieser Idealzustand verfeinerter Sinnenlust beschränkte sich selbst im XII. Jahrhundert nur auf einen verhältnismässig sehr kleinen Kreis, und auch hier mag noch zwischen der Theorie und Praxis der Liebe ein sehr bedeutender Unterschied gewesen sein. Im XIV. und XV. Jahrhundert ist von der vielgepriesenen frommen Zucht und Sitte eben so wenig im städtischen Leben, das wir nach dieser Hinsicht genauer kennen, als bei dem in raschem Verfalle begriffenen Rittertum zu verspüren. Eheliche Treue ist in den höheren Ständen während des ganzen Mittelalters nicht sehr häufig; die Bastardkinder werden in der Vaterfamilie mit den ehelichen Söhnen und Töchtern zusammen erzogen; eine derbe, fast rohe Sinnlichkeit beherrscht die Beziehungen der Geschlechter in allen Klassen der Bevölkerung. Die Begriffe von Sitte und Anstand sind von den unseren weit verschieden, und die naive Offenheit, mit der wir überall auch die anstössigsten Dinge behandelt sehen, liegt weit ab von den Manieren der heutigen Zeit. Die Kirche hat nach dieser Richtung wenig Einfluss zu üben verstanden; sie war zufrieden, wenn ihre Regeln sonst streng beobachtet wurden. Trug sie doch selbst die Züge jenes übersinnlich-sinnlichen Doppelwesens, das der Zeit eigen war.
Auf jenen derben Holzschnitten, welche uns aus dem Ende des XV. und dem Anfang des XVI. Jahrhunderts erhalten sind, erblicken wir nicht selten Frauen in Gesellschaft von Männern bei Wein und Würfelspiel, bei Schmausgelagen und ausgelassenen Tänzen. Sie sind neben andern ein Beweis dafür, dass die Frauen in Deutschland damals weit entfernt waren von jener strengen Abgeschlossenheit, die wir in südlichen Ländern treffen. Sie beteiligten sich in gleicher Weise an den gewöhnlich recht materiellen Vergnügungen wie die Männer. Im württembergischen Zabergau feierten sie allerorts jährlich auf Fastnacht ihre Weiberzechen — Schmausereien, bei denen kein Mann zugegen sein durfte, ausser dem Schultheiss und dem Bürgermeister, welche die Dienste der Kellner und Aufwärter zu versehen hatten und bei welchen es sehr lustig herging[41]. Bei den Festen der Geschlechter, auf den Trinkstuben der Zünfte und Brüderschaften, bei Volksbelustigungen auf Märkten und Messen, auf freien Plätzen und in den Vorhallen der Kirchen — überall wo es etwas zu gaffen und zu geniessen, zu tanzen, zu springen und zu singen gab, erblicken wir die Frauen, und meist nicht eben als Wächterinnen des guten Tons und der strengen Sitte, sondern als Ausgelassene unter den Ausgelassenen, oft als Anführerinnen der Fröhlichen. Das schliesst nicht aus, dass sie anderwärts wieder als Trägerinnen des religiösen Lebens erscheinen, dass sie als Beterinnen und Büsserinnen zu Füssen des Gekreuzigten liegen und der gebenedeiten Gottesmutter Maria, dass sie als Nonnen die Klöster füllen und als Pilgerinnen die Lande durchziehen.