Das Mittelalter, das schon den Wechsel der Jahreszeiten sehr viel lebhafter empfand als wir, war auch sonst reich an derartigen Gegensätzen. Wie hätte es auch anders sein können in einer Gesellschaft, die fortwährend den jähesten Wechselfällen ausgesetzt war? Fast nirgends erblicken wir das ruhige Behagen einer in festen Linien sich bewegenden stetigen Entwicklung, nirgends den heitern Lebensmut, der die Menschen einer rechts- und existenzsicheren Zeit beseelt. Selbst die Bevölkerung der Städte hielt sich im XIV. und XV. Jahrhundert meist nur mit Mühe auf ihrem frühern Bestand, und dies auch nur mittels einer massenhaften Einwanderung aus der nahen ländlichen Umgebung. Kriege, Missernten, Hungersnöte, der jähe Tod rafften alle paar Jahre ein Viertel, ein Drittel, manchmal gar die Hälfte der vorhandenen Menschen dahin. Von 1326 bis 1400 zählte man 32 Pestjahre, von 1400–1500 41, von 1500–1600 30. Wie ist es unter der Angst solch steter Lebensbedrohung auch nur denkbar, dass die Menschen ein heiteres Gleichgewicht ihres geistigen und sinnlichen Daseins hätten bewahren können!
Hart neben einander lagen darum im täglichen Leben der mittelalterlichen Gesellschaft toller Lebensgenuss und büssende Entsagung; heute schlürfte man den Becher der Lust bis zur Neige, um morgen in bitterer Reue sich der Welt abzukehren, das Fleisch zu ertöten, mit Fasten und Beten, mit Geissel und Bussgürtel sich zu kasteien. Von der Kirche zum Tanzhaus, von der Kutte zur Fastnachtsmummerei, von der Büssergeissel zur Schellenkappe war oft nur ein kleiner Schritt.
Himmelhoch jauchzend,
Zu Tode betrübt —
das ist die Stimmung des ausgehenden Mittelalters, welche mit ergreifender Naturwahrheit die Kunst in den Totentänzen mit ihrem schneidenden Sarkasmus und ihren packenden Kontrasten wiedergespiegelt hat.
Es kann uns darum auch kaum Wunder nehmen, wenn wir in den Chroniken der Zeit unmittelbar neben der Schilderung des schwarzen Todes und der Geisslerfahrten, neben der Erzählung von grausigen Judenschlächtereien, blutigen Fehden und Hinrichtungen die Darstellung der Tanzwut lesen, welche im XIV. Jahrhundert die ganze Bevölkerung der rheinischen Städte ergriff[42], wenn wir sehen, dass während heute nicht Hände genug vorhanden sind, um die Toten zu begraben, morgen schon die Kirchen kaum die Zahl der Brautpaare zu fassen vermögen, welche sich zum Traualtar drängen[43], wenn wir in den städtischen Gesetzbüchern auf derselben Seite einen Ratsbeschluss gegen die allzuzahlreichen Widmungen an die Kirche finden, auf welcher auch ein Verbot des übermässigen Luxus bei Hochzeiten und Kindtaufen Platz gefunden hat, wenn wir in einer Epoche, die viele sich als das Urbild des Beharrens denken, die Moden fast über Nacht wechseln sehen. »In der zeit (um 1380) war der sitt von der kleidung verwandelt, also, wer heur ein meister war von den schneidern, der war über ein jahr ein knecht«[44]. Es gibt vielleicht keine Erscheinung dieser Zeit, die all diese scharfen Gegensätze so verkörpert, wie jener aussätzige Barfüssermönch, von welchem die Limburger Chronik erzählt, dass er bei all dem unsäglichen Elend seiner Krankheit »die besten lieder vnd reihen machte .... und was er sung, das sungen die leut alle gern, vnd alle meister pfiffen und andere spilleut furten den gesang und das Gedicht...., und war das alles lustiglich zu hören«[45].